Die Geschichten ihrer Mütter erzählen von Widersprüchen und Entfremdungen von Kirche im Laufe des Lebens von Frauen, die im Glauben beheimatet waren. Von Claudia Leuser, Claudia Pfrang und Annie Ernaux.
Frau und Kirche – am Beispiel der Geschichte meiner Mutter
Claudia Leuser
Meine Mutter wurde 1929 in einem kleinen Ort im Schwarzwald geboren. Ihr Vater war Dorfschullehrer. Obwohl er öfter die Stelle wechselte und die Familie deshalb immer wieder umzog, hinterließ er an seinen Wirkungsstätten einen tiefen, nachhaltigen Eindruck und war außerordentlich beliebt, wie wir, die Generation seiner Enkel, Jahrzehnte nach seinem Tod bei einem Besuch im Schwarzwald erfahren durften.
Der einzige Bruder meiner Mutter besuchte in den 30er Jahren die Klosterschule in Münsterschwarzach. Damit wollte mein Großvater ihn ganz bewusst dem Einfluss der Ideologie des Nationalsozialismus entziehen. Schließlich wurde er jedoch vor die Alternative gestellt, seinen Sohn umgehend in eine staatliche Schule zu schicken oder fristlos aus dem Dienst entlassen zu werden. Da er zu dieser Zeit bereits gesundheitlich angeschlagen war, entschied er sich seiner Familie zuliebe schweren Herzens dafür, dem Druck nachzugeben; mein Onkel musste also die Klosterschule verlassen. Bald darauf starb mein Großvater. Mit seiner Entscheidung hatte er seiner Familie die Pension gerettet und sie auf diese Weise zumindest finanziell abgesichert. Rückblickend kann man feststellen, dass die Familie meiner Mutter fest zur katholischen Kirche stand, ja diese offenbar als Gegenpol gegen das Regime des Nationalsozialismus empfunden hat.
Das große Trauma.
Meine Mutter wurde nach dem Tod ihres Vaters Volksschullehrerin, was die Erteilung des Religionsunterrichts einschloss. Sie übte diesen Beruf jedoch zunächst nur kurze Zeit aus, da sie schon sehr früh heiratete. In den Jahren zwischen 1953 und 1962 bekam sie vier Töchter und konzentrierte sich erst einmal ganz auf die Familie, wie es damals ja üblich war. Und hier beginnt dann auch die eigentliche Tragik ihrer Geschichte mit der Kirche. Da sie nach damaliger Auffassung infolge der Geburt (!) liturgisch als unrein galt, wurde es ihr verwehrt, bei der Taufe ihrer Töchter in der Kirche anwesend zu sein. Nach der Taufe wurde ein spezieller Reinigungsritus durchgeführt, erst danach war es ihr wieder erlaubt, am Gottesdienst teilzunehmen. Lediglich bei meiner im Jahr 1962 geborenen jüngeren Schwester gestand man es ihr zu, zumindest aus der Ferne – genauer von der Kirchentüre aus – zuzuschauen, wie diese getauft wurde. Diese Erfahrung, offenbar eine Folge der Dämonisierung der Sexualität in der katholischen Kirche über Jahrhunderte hinweg, hat meine Mutter zutiefst verletzt. Es ist bezeichnend, dass sie sich schon bald nicht mehr in der Lage sah, zum Gottesdienst zu gehen, da das Betreten der Kirche bei ihr von da an zu massiven körperlichen Beschwerden führte.
Der Versuch eines Neuanfangs.
Als meine jüngere Schwester in die Schule kam, kehrte meine Mutter wieder in den Schuldienst zurück. Mit großem Engagement unterrichtete sie jahrelang in der Grundschule unseres Heimatortes und wurde allseits sehr geschätzt. Dieser Neuanfang fiel nun genau in die Zeit des Zweiten Vatikanischen Konzils, das meiner Kindheitserinnerung nach mit einer großen Aufbruchsstimmung verbunden war. Man bot damals den Lehrerinnen und Lehrern an, sich in Wochenendkursen theologisch auf den neuesten Stand zu bringen; ein Schwerpunkt war dabei die Einführung in die historisch-kritische Methode der Schriftauslegung, die ja bis dahin in der katholischen Kirche ein Tabu war. Da meine Mutter sich nicht imstande sah, auf der Grundlage ihrer lange zurückliegenden Ausbildung nun plötzlich wieder Religionsunterricht zu erteilen, nahm sie an einem dieser Kurse teil, der sich meiner Erinnerung nach über zwei Jahre erstreckte. Ich selbst besuchte damals bereits das Gymnasium und fand diese theologischen Fragen sehr spannend. Zu meiner großen Freude wurde es mir erlaubt, meine Mutter bei diesem Kurs zu begleiten.
Diese faszinierende Erfahrung war sicherlich ausschlaggebend dafür, dass ich mich nach dem Abitur für ein Theologiestudium entschied. Die Erfahrung einer großen Offenheit, verbunden mit dem ernsthaften Willen zu einem Neubeginn auf allen Ebenen, hat mich nachhaltig geprägt, wenn hier auch spätere Enttäuschungen keineswegs ausblieben – aber das ist bereits eine andere Geschichte. Bei allem Interesse an theologischen Fragestellungen, das sie sich bis zuletzt bewahrt hat, war meine Mutter jedoch ganz froh, dass sie als Grundschullehrerin den Religionsunterricht nicht selbst erteilen musste, da dieser damals noch fest in der Hand von Geistlichen war. Auch darüber wäre viel zu sagen, aber dafür ist hier nicht der Ort.
Der Schmerz bleibt.
Trotz ihres Interesses an theologischen Fragestellungen und auch an der weiteren Entwicklung der Kirche, die sie sehr kritisch begleitet hat, konnte meine Mutter ihr Trauma nie überwinden, das sie in Zusammenhang mit der Taufe von uns vier Töchtern erlebt und erlitten hat. Zurück blieb eine große Entfremdung, die dazu führte, dass sie bis ins Alter jeden unmittelbaren Kontakt mit den Kirchengemeinden vor Ort und ihren Geistlichen vermieden hat. Sie ist über diese Erfahrung bis zu ihrem Tod im Alter von 88 Jahren nicht hinweggekommen. Deshalb hat sie sich auch ganz bewusst dafür entschieden, dass sie auf keinen Fall kirchlich beerdigt werden möchte. Wir haben sie in einer sehr persönlichen Trauerfeier beigesetzt, die ich auf Wunsch meiner Schwestern selbst geleitet habe.
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Meine Mutter – was sie prägte und wofür sie sich engagierte
Claudia Pfrang
Geboren in den Wirren des Krieges 1941 wuchs meine Mutter in einer sehr gläubigen katholischen Familie auf dem unterfränkischen Land auf. Kirchgang und Rituale prägten die Familie, gaben Halt in schwierigen Zeiten. Für meine Oma, die Mutter meiner Mutter, eine tiefgläubige Katholikin, gehörten die regelmäßigen Gebete, die Vorschriften der Kirche unaufgebbar zum Rhythmus ihres Lebens, bis zu ihrem Lebensende – vor dem Gottesdienst noch etwas zu essen, war für sie absolut undenkbar. Dass ich als junge Theologiestudierende Glaube und Kirche in Frage stellte, kommentierte sie häufig kopfschüttelnd mit „Da komme ich nicht mehr mit“. Aber sie respektierte stets meinen Weg.
Prägungen
Das starre Korsett an Glaubensvorschriften prägte auch meine Mutter. Sie gaben ihr zwar Halt, aber setzten sie auch immer wieder unter Druck. Es war und ist für sie schwer nachvollziehbar, wenn ihre Kinder und Enkel sich nicht mehr an die von ihr gelernten Glaubensregeln halten. Sie empfand es stets als Scheitern ihrer Erziehung. Schade, denn sie hat uns viel mitgegeben, gerade tiefes Gottesvertrauen.
Geprägt hat meine Mutter aber nicht nur das Elternhaus. Vielmehr waren die Jugendarbeit in der Katholischen Landjugendbewegung (KLJB) und die sog. Winterkurse an der Katholischen Landvolkshochschule Volkersberg für sie wegweisend und lebensentscheidend. Damals waren das noch getrennte Frauen- und Männerkurse. Bei einem der gesellschaftlichen Abende lernte sie meinen Vater kennen. Diese Kurse am Vorabend des Konzils prägten sie sehr. Vermittelten sie doch einen sehr aufgeschlossenen Glauben und animierten gleichzeitig die jungen Menschen, sich für Kirche und Gesellschaft vor Ort einzusetzen. Prägend waren zudem der liturgische Weltkongress, die Begegnungen mit Emmeran Scharl, dem Gründer der KLJB, und mit dem Landjugendseelsorger Paul Bocklet. Er führte die ehemals getrennte Landjugendseelsorge für Männer und Frauen zusammen. „Nur gemeinsam können wir etwas erreichen“, war sein Credo. Wie kein anderer ermutigte er, den Glauben in die Welt zu tragen und sich in der Politik zu engagieren. Sein Leitspruch: „Wenn Ihr es nicht im Glauben tut, tun es andere ohne Glaube.“ Das prägte sich bei meiner Mutter tief ein.
Aufopferung
Trotz damals noch sehr konservativem Frauen- und Mutterbild habe ich immer eine Mutter erlebt, die sich in Kirche und Politik für die Sache des Glaubens engagierte. Sie war tätig in einem katholischen Verband auf Diözesan- und Landesebene, in der Politik im Kreistag und als Bürgermeisterin. Erst mit fast 70 Jahren erlaubte sie es sich, und das auch nur durch gutes Zureden, sich nicht mehr „Tag und Nacht“ aufopfern zu müssen.
Halt hat sie immer im Glauben gefunden, für den sie eintrat – nicht zuletzt auch als ihr Mann 2014 starb und wir ihn eine Woche begleiteten. Es war berührend zu erleben, wie meine Eltern im Glaubens- und Gebetsleben miteinander verbunden waren. Wir sprachen Gebete, sangen Lieder und mein Vater, auch wenn er sich nicht mehr durch Worte ausdrücken konnte, sang und betete mit.
Wie meine Mutter das Vertrauen in die Kirche verlor.
Als engagierte Vorsitzende eines katholischen Verbandes setzte sich meine Mutter schon früh für mehr Anerkennung der Laien, für eine eigenverantwortliche und eigenentscheidende Pfarrgemeinde ein. Auseinandersetzungen war sie gewohnt, Kontroversen stand sie durch. Sie war und ist eine Kämpferin dafür, dass die Kirche im Dorf und Glaube vor Ort erfahrbar bleibt – bis heute. Doch der Tod und die Auseinandersetzung um den Gottesdienst, den wir als Familie im Glauben an die Auferstehung feiern wollten, und um den wir mit dem jungen Pfarrvikar kämpfen mussten, waren ein erster Riss. Dass der Priester vor Ort sie nicht einmal besuchte, geschweige denn in ihrer Trauer begleitete, enttäuschte sie.
Gigantisch werdende Pfarreiengemeinschaften lassen sie heimatlos werden. Sie, für die immer die Eucharistie Quelle und Höhepunkt ihres Glaubens war und ist, muss nun erfahren, dass diese kaum mehr in ihrem Ort stattfindet und sie zusammen mit den Menschen, denen sie seit ihrer Heirat verbunden ist, selten zum Gottesdienst eingeladen wird. Zu all dem kommt die Erfahrung mangelnder Wertschätzung als engagierte Gläubige vor Ort. Als durch das Konzil geprägte Frau ist es für sie unverständlich, junge Priester zu erleben, die in Kleidung, Haltung, Habitus und Verkündigung hinter eine Kirche vor dem Konzil zurück wollen.
Stets stand meine Mutter hinter der Kirche und ihren Vertretern. Der Missbrauchsskandal empörte sie und erschütterte vollends ihr Vertrauen. Es brauchte einige Zeit, bis sie Wut und Enttäuschung zulassen und damit umgehen konnte. Einmal schrie sie heraus: „Ich glaube keinem Bischof mehr! Ich trete aus der Kirche aus!“ Es tut mir weh zu sehen, dass meiner Mutter die geistliche Heimat, die ihr ein Leben lang das wichtigste Gut war, am Ende ihres Lebens abhandenkommt. Gleichzeitig bin ich wütend auf Amtsträger, bei denen ich nicht erkennen kann, dass sie das tun, wozu Jesus sie immer wieder aufgefordert hat, umzukehren. Nur das könnte verlorengegangenes Vertrauen wieder neu wachsen lassen.
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Eine Frau
Annie Ernaux vorgestellt von Birgit Hoyer
„Wenn man sagt, dass der Widerspruch nicht denkbar sei, so ist er vielmehr im Schmerz des Lebendigen sogar eine wirkliche Existenz.“
Mit diesem Zitat von Hegel überschreibt Annie Ernaux die Geschichte ihrer Mutter. Diese wurde 1906 in der Normandie geboren, war Arbeiterin, Ladenbesitzerin, Ehefrau, zweifache Mutter. 1986 stirbt sie dement in einem Pflegeheim – und dreizehn Tage später beginnt die Autorin, über ihre Mutter zu schreiben: „Meine Mutter ist gestorben, am Montag, den 7. April, im Altersheim des Krankenhauses von Pontoise, in dem ich sie vor zwei Jahren untergebracht habe. Der Pfleger sagte am Telefon: ‚Ihre Mutter ist heute Morgen nach dem Frühstück von uns gegangen.‘ Das war gegen 10 Uhr.“1 Aus den Erzählungen und Erlebnissen ihrer Kindheit und Jugend zeichnet sie das Bild einer Frau, die sich wütend und lebenslustig aus Armut und Abhängigkeiten herauswindet, um zugleich darin verstrickt zu bleiben.
„Es ist ein schwieriges Unterfangen. Für mich hat meine Mutter keine Geschichte. Sie war schon immer da. Mein erster Impuls beim Schreiben, sie in zeitlosen Bildern festzuhalten: „Sie war wütend“, „sie war eine Frau, die alles verbrannte“, […] So finde ich aber nur die Frau aus meiner Vorstellung […] Ich möchte aber auch die Frau zu fassen bekommen, die außerhalb von mir existiert hat, die Frau, die am ländlichen Rand einer Kleinstadt in der Normandie geboren wurde und auf der geriatrischen Station eines Krankenhauses in einem Vorort von Paris gestorben ist. Was ich zu schreiben hoffe, um ihr gerecht zu werden, liegt vermutlich an der Nahtstelle von Familie und Gesellschaft, Mythos und Geschichte.“ (19) Am Ende kann Annie Ernaux von diesen Fragmenten sagen: „Jetzt ist alles miteinander verbunden. […] Sie, ihre Worte, ihre Hände, ihre Gesten, ihr Gang und ihre Art zu lachen waren es, die die Frau, die ich heute bin, mit dem Kind, das ich gewesen bin, verbunden haben. Ich habe die letzte Brücke zu der Welt aus der ich stamme, verloren.“ (89)
Verbindung und Abbruch, Nähe und Distanz zugleich, zwischen Mutter und Tochter, den Zeiten, den Biografien, einer Kirche, die dem Leben Schönheit verleiht. „Die Messe durfte man hingegen auf keinen Fall verpassen, sie gab einem selbst auf den hinteren Bänken das Gefühl, dass man nicht ‚wie ein Hund‘ lebte, weil man am Reichtum, an der Schönheit und am Geist teilnahm (bestickte Messgewänder, goldene Kelche, Choräle). Meine Mutter zeigte früh ein lebhaftes Interesse an der Religion. Der Katechismus war das einzige Fach. für das sie leidenschaftlich lernte, sie kannte alles auswendig. (Später dieselbe atemlos freudige Art, bei den Gebeten in der Messe zu antworte, als wollte sie ihr Wissen unter Beweis stellen.)“ (24f.)
Rollen verdrehen sich, verwinden sich ineinander: „Jetzt habe ich das Gefühl, als schriebe ich über meine Mutter, um sie zur Welt zu bringen.“ (36) „Sie war allen gegenüber großzügig, sie gab lieber, als dass sie nahm. Ist Schreiben nicht auch eine Form des Gebens. […] Meine Mutter, die in ein beherrschtes Milieu hineingeboren worden war, das sie hinter sich lassen wollte, musste erst Geschichte werden, damit ich mich in der beherrschenden Welt der Wörter und Ideen, in die ich auf ihren Wunsch hin gewechselt bin, weniger allein und falsch fühle.“ (88f.)
Unsere Leben leben aus den Geschichten unserer Mütter. Es ist wichtig, sie zu schreiben und sie zu lesen. Kirchenerneuerung wird nicht gelingen ohne die Realitäten, Ausweglosigkeiten und Paradoxien dieser Geschichten. Vieles wird nur zwischen den Zeilen sichtbar werden von der Schmerz gewordenen Widersprüchlichkeit in den Existenzen von Frauen durch die Geschichte bis heute. Im Vorhaben einer Kirchenerneuerung geht es im ersten Schritt nicht um ein Weitergehen mit neuen Formen der Teilhabe und von Frauen an überkommenen und missbrauchten Strukturen und Ämtern und eine passive Ermächtigung, sondern um das Hören, das Lesen, das nicht ausweichende, nicht relativierende Fürwahrhalten der Geschichten von Frauen – – – solange bis aus dem Leben des Widerspruchs neue Wirklichkeiten wachsen.
„Wenn man sagt, dass der Widerspruch nicht denkbar sei, so ist er vielmehr im Schmerz des Lebendigen sogar eine wirkliche Existenz.“ (Hegel)
Texte:
Dr. Claudia Leuser, Seminarlehrerin für Katholische Religionslehre und zentrale Fachberaterin für die Seminarausbildung in Bayern für das Fach Katholische Religionslehre am Gymnasium;
Dr. Claudia Pfrang, Pastoraltheologin, Leiterin der Stiftung Bildungszentrum der Erzdiözese München und Freising, Buchautorin und Lehrbeauftragte an der Katholischen Universität Eichstätt.
Dr. Birgit Hoyer, praktische Theologin, Leiterin des Bereichs Bildung im Erzbistum Berlin, Mitglied der Redaktion.
Bild: Cover Annie Ernaux, Eine Frau.
- Die Zitate stammen aus Anni Ernaux, Eine Frau, erschienen 1987, neu aufgelegt in einer Übersetzung aus dem Französischen von Sonja Finck im Suhrkamp Verlag 2019, S.9 ↩