Konstantin Sacher rezensiert das Buch „Das Traumbuch. Postkarten aus dem Schlaf“ von Martin Walser und Cornelia Schleime (2022).
Dorothee Sölles große These zum Zusammenhang von Religion und Literatur ist die der Realisation. Sie erklärt den Begriff folgendermaßen: »Die Funktion religiöser Sprache in der Literatur besteht darin, weltlich zu realisieren, was die überlieferte religiöse Sprache verschlüsselt aussprach. Realisation ist die weltliche Konkretion dessen, was in der Sprache der Religion »gegeben« oder versprochen ist.«[1]
Gehen wir für diesen kurzen Text einmal über die Untiefen der Begriffe weltlich und religiöse Sprache hinweg, bleibt die Idee, dass in Dichtung das steckt, was die Religion auch sagen will; nur eben neu formuliert. Es geht um Sinnressourcen, die in der Religion und der überlieferten Sprache liegen, die aber durch die alten Formeln hindurch nicht mehr erkannt werden. Literatur könne diese Ideen heben, sie wieder unter die Leute bringen.
Martin Walser, mittlerweile 95 Jahre alt (1927), wendet sich auch immer wieder der Religion zu. Deutlichster Ausdruck davon sind sicher der große Roman »Muttersohn« von 2011 und das kleine Buch »Über Rechtfertigung. Eine Versuchung« von 2012. In Muttersohn, einem Buch, das so überreich an Gedanken und Wendungen ist, dass es zuweilen schwerfällt, konzentriert zu folgen, geht es hauptsächlich um Percy. Er ist Walsers Jesus-Figur. Ein sanfter Held, der von seiner Mutter erzählt bekommen hat, dass für seine Geburt kein Mann nötig war und der als Krankenpfleger heilt und predigt, sodass die Menschen an ihm hängen.
Es ist diese Sehnsucht nach etwas Haltgebenden, die diese Bücher Walsers durchzieht.
Walser lässt diesen Percy gegen Ende des Buches in einer Kirche, wo er zu einer größeren Menge spricht, einmal sagen: »Lass mich nicht allein. So schaff’ ich mir ein Gegenüber. […] Wir sagen etwas, und dadurch machen wir etwas. […] Wenn ich ihn [den Satz, KS] sage, dann spüre ich, dass ich dazugehöre, zu denen, die nicht alleingelassen werden wollen.«[2] Es ist diese Sehnsucht nach etwas Haltgebenden, die diese Bücher Walsers durchzieht. Und gleichzeitig das Bewusstsein, dass wir es selbst sind, die diesen Halt schaffen müssen. Mit Taten vielleicht, aber für den Schriftsteller eben besonders mit den Geschichten, die wir uns erzählen.
Walsers neues Buch, das nicht von ihm alleine ist, sondern mindestens ebenso von den Illustrationen Cornelia Schleimes lebt, hat zunächst keinen religiösen Einschlag. Es sind Traumnotizen, Fetzen, manchmal Sequenzen, Miniaturen, aber keine Erzählungen, die wir hier finden; mit viel leerem Raum auf den großzügig gesetzten Textseiten. Dazu immer wieder die Illustrationen: Fotos oder alte Postkarten mit Motiven aus der für Walser so bedeutenden Gegend um den Bodensee, aufgeklebt, bemalt, erweitert, in ein Schattenreich geführt. Es ist ein ästhetischer Genuss, ein wunderschönes Buch.
Dieses Schattenreich, das kennen wir alle. Es ist das der Träume, dieser Gegend unseres Lebens, die wir so lange und so intensiv bewohnen und über die wir doch so wenig wissen. Sind die Träume nicht bald nach dem Aufwachen aufs Papier gebracht, verfließen sie, versinken im Dunkel unseres Bewusstseins. Martin Walser jedoch, als echter Immer-Schreiber, hat viele notiert. Zusammen mit den Bildern beschwören sie einen Nebel herauf, einen Nebel, der, wenn wir uns auf ihn einlassen, eben jenes Schattenreich eröffnet. Die reale Welt wird überlagert von einer zweiten. Doch die Konturen verwischen, die Grenzen sind nicht mehr sichtbar oder zumindest bedeutungslos. Was ist das Reale und was der Traum und vor allem, was nutzt die Unterscheidung?
Trotz der oftmals dunkeln Bilder und der nicht selten verstörenden Inhalte der Traumfetzen geht ein Trost von diesem Buch aus.
In seinem kleinen Buch »Über Rechtfertigung. Eine Versuchung« von 2012, schreibt Martin Walser: »Als ich den Roman Muttersohn veröffentlichte, in dem es um Glauben geht, Glauben als eine menschliche Fähigkeit, da wurde das öfter mehr oder weniger freundlich mit meinem Alter in Zusammenhang gebracht. So, als sei ich jetzt halt so weit. Ich meine aber, Religion sei eine Ausdrucksart wie andere, wie Literatur, Musik, Malerei. Ich lese Religion als Literatur.«[3] Auch wenn er sich dagegen wehrt, es ist ja kein Geheimnis, dass auch Religion seine Konjunkturphasen im Leben der Menschen hat. Seitdem Walser das schrieb, sind noch einmal zehn Jahre vergangen. Er ist 95 Jahre alt und es ist sicher keine große Interpretationsleistung, in den verwischenden Texten und Bildern des Buches immer wieder den Übergang zu erspähen. Das Wechseln vom Leben in den Tod. Trotz der oftmals dunkeln Bilder und der nicht selten verstörenden Inhalte der Traumfetzen geht ein Trost von diesem Buch aus.
»Gleich kannst du laut lachen«, das sagt Martin Walser zu Thea Dorn in einem über dreistündigen Interview, das Dorn im Jahr 2016 mit Walser führte. Anschließend windet er sich gefühlte hundert Mal, bevor er endlich sagt, was er offenbar für lächerlich hält: »Literatur ist nicht dazu da, die Welt zu erklären, sowenig wie Religion dazu da ist, die Welt zu erklären. Literatur ist dazu da, die Welt zu verklären. Religion ist dazu da, die Welt zu verklären. Weil ohne Verklärung ist diese Welt nicht aushaltbar. Basta!« Thea Dorn dann: »Und warum sollte ich jetzt lachen?«[4]
Ohne Literatur und ohne Religion ist die Welt nicht auszuhalten.
Auch wenn das nicht unbedingt ein neuer Gedanke ist, zum Lachen ist er sicherlich nicht. Walser liest Literatur als Religion und Religion als Literatur. Und beides ist für die Verklärung der Welt zuständig. Es ist bei ihm eine Verklärung ins Positive. Ohne Literatur und ohne Religion ist die Welt nicht auszuhalten. Wir brauchen Geschichten, kleine, wie die Miniaturen des Traumbuches, oder größere wie in seinen Romanen, oder noch größere wie in den Geschichten der Heiligen Schriften der Religionen. Das lässt sich als poetologisches Programm dieser Walserbücher zur Religion erkennen.
Und auch wenn das Traumbuch hier auf den ersten Blick nicht direkt dazu gehört, schreibt es sich ein in diesen Versuch. Es geht darum, eine Bedeutung festzuhalten; dort, wo, wenn überhaupt mal eine da war, diese langsam entschwindet. Doch nur, weil das so ist, heißt das noch lange nicht, dass ich mich damit abfinden muss. Erst recht nicht, wenn dieses Ich das eines so ich-starken Menschen wie Walser ist. Doch anders als in seinem lauten, mitunter brutal wirkenden Essay zur Rechtfertigung, der wie ein Aufschreien gegen das eigene Versinken wirkt, ist es nun im »Traumbuch« eher eine zarte Verklärung.
Das Gerede davon, dass der Mensch einen Gott brauche, um gerechtfertigt zu sein, verschwindet hinter dem sanfteren Bedürfnis nach Geschichten.
Als Walser sein Rechtfertigungsbuch veröffentlichte, fand er viel Beifall unter den Theologen. Besonders die Liebhaber Karl Barths waren stolz, war das Rechtfertigungsbuch doch auch ein Karl Barth Buch. Und wer Barth nicht kannte, sondern nur das Walser Buch zu ihm gelesen hatte, hätte danach wirklich der Meinung sein können, das war ein toller Denker, ein Nietzsche ebenbürtiger Intellektueller. Für Walser ist Barth ein großer Verfechter der Religion. Dieser »Denk- und Ausdrucksbemühung«, die »anspruchsvoller als jede andere« ist.[5] Walser lobt Barth dafür, dass er überdeutlich gemacht habe, dass der Mensch sich nicht selbst rechtfertigen könne, dass Gott gebraucht wird.
Lässt man sich nun vom »Traumbuch« mitnehmen, scheint es fast so, als habe Walser diesen brutalistischen, mitunter menschenfeindlichen Theismus Barth’scher Manier wieder überwunden. Das Gerede davon, dass der Mensch einen Gott brauche, um gerechtfertigt zu sein, verschwindet hinter dem sanfteren Bedürfnis nach Geschichten.
Es wäre spannend eine von Dorothee Sölles klugen Literaturinterpretation zu Walsers religiösen Büchern zu lesen. Doch eine solche Szene gehört ins Schattenreich der Träume. Vielleicht würde sie sagen, hier realisiert sich die alte religiöse Idee vom Ewigen Leben. Wir werden vergehen, doch das heißt nicht, dass unsere Geschichten vergehen. Sie verflüchtigen sich zwar, werden Teil der einen großen Geschichte dieser Welt. Doch dort sind sie aufgehoben – solange wir daran glauben.
Konstantin Sacher, Dr.des., ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Universität zu Köln am Institut für Evangelische Theologie, Abt. für Systematische Theologie, letzte Publikation: „Leben mit dem Tod“
Beitragsbild: Dimitris Vetsikas auf Pixabay
[1] Dorothee Sölle, Realisation, Luchterhand: München 1973, 29f.
[2] Martin Walser, Muttersohn, Rowohlt: Hamburg 2011, 485.
[3] Martin Walser, Über Rechtfertigung. Eine Versuung, Rowohlt: Hamburg 2012, 32.
[4] Abrufbar unter: https://youtu.be/1FeT_hqe1SY
[5] Walser, Rechtfertigung, 27.