Weihnachten gilt als „Fest der Familie“, die Familie Jesu wird sogar bisweilen als „Heilige Familie“ bezeichnet. Familien sind oft überladen mit Erwartungen und Sehnsüchten, die dann zu Enttäuschungen und Überforderung führen, manchmal auch zu Gewalt. Einige Hinweise für Predigerinnen und Prediger zum „Familiensonntag“ von der feinschwarz.net-Dezemberredaktion.
I.
„Familie“ in all ihren Formen kann Menschen eine sichere und verlässliche Gemeinschaft geben, in der Menschen „zuhause“ sind, „Familie“ kann aber auch ein Ort von Verletzung, Schmerz und entsetzlichem Leid sein. „Familie“ heute ist vielfältig und bunt, herausfordernd und widersprüchlich.
Ich wollte Ihnen zuerst Szenen schildern – Szenen in Familien, vor dem Frühstück, nach der Arbeit, mit einem kranken Kind zuhause oder einem Kind mit schwer-mehrfacher Beeinträchtigung und seinen Geschwistern sowie Pflegebedarf bei eigenen Eltern und anderen Anverwandten. Aber allein die Vielfalt an Bezeichnungen zeigt, wie komplex das Thema ist: Kleinfamilie, Großfamilie, Mehrgenerationenfamilie, Regenbogenfamilie, Adoptivfamilie, Pflegefamilie, Patchworkfamilie, kinderloses Paar/Familie, Ein-Eltern-Familie, Wochenendfamilie, binationale Familie…
Stichwort „Familie“
Vielleicht denken Sie beim Stichwort „Familie“ an Szenen in einer Patchworkfamilie, die mit klaren Aufgaben und im wohlwollenden Miteinander zusammenleben, die mit Gesprächen und gemeinsamen Unternehmungen und ganz viel Zeit den Kindern aus den bisherigen Familien die Möglichkeit gaben, sich kennen zu lernen, neu die Plätze zu finden, die Beziehungen und die gemeinsamen Spielregeln zu entwickeln und zu erleben, dass dadurch die Zuwendung des eigenen Elternteils nicht weniger wird. Aber: Allein an meinen Stichworten ist sichtbar, dass ein solcher Prozess Zeit und Geduld und Zuwendung und Achtsamkeit braucht…
Oder vielleicht denken Sie an eine Mehrgenerationenfamilie, in der ein verdeckter Konflikt herrscht zwischen der jungen Familienfrau und ihrer Schwiegermutter, verstrickt durch die emotional unklare Position des Partners bzw. Sohnes, der innerlich zwischen seiner Frau und seiner Mutter steht, keine von beiden verletzen will und dadurch nicht zum emotionalen Schulterschluss mit seiner Frau fähig ist.
Was Menschen in Familien erleben.
Oder an eine sogenannte Kernfamilie mit zwei Eltern und einem Kind oder mehreren Kindern, die – unabhängig der sexuellen Orientierung der Eltern – den Alltag managen, Liebe und Halt und Orientierung geben und ganz viel lernen: streiten und sich versöhnen, sparen und Geldausgeben, aufräumen und Unordnung machen, feiern und fröhlich sein und trauern und verzweifelt sein, sich entspannen, Musik machen und Musik hören und Sport treiben und sich bewegen und essen und trinken und Körperhygiene lernen…
Ich könnte Seiten füllen mit all dem, was Menschen in Familien erleben, voll Freude und Glück und voll Leid und Schmerz. Lieber aber spreche ich Sie als Leser*in an und lade Sie ein, sich daran zu erinnern, was Ihre schönsten, Ihre schwersten, Ihre glücklichsten Momente in Ihrer eigenen Herkunftsfamilie waren oder in Ihrer Jetztfamilie sind? Und vielleicht ist es auch anregend, sich in der Großfamilie oder im Freundeskreis wieder einmal darüber auszutauschen…
II.
Die erste und wichtigste Erkenntnis, die jede „Familienpredigt“ erkennen lassen muss, ist ebenso schlicht wie folgenreich: Mit dem Patriarchat ist es vorbei. Das Patriarchat herrscht dort, wo der Mann für sich zwei Positionen beansprucht, die des überlegenen Geschlechts und die des geschlechtsneutralen Menschen. Der Mann ist da Schiedsrichter und Spieler zugleich, er bestimmt als Mensch das Spiel und gewinnt es als Mann dann natürlich. Das hat lange funktioniert, funktioniert aber heute nicht mehr wirklich. Und das ist nur gut so.
Das Patriarchat galt bis vor kurzem von alters her, es ist in allen Religionen tief verankert, und noch die Industriegesellschaft des 19. und frühen 20. Jahrhunderts entwickelte eine ganz eigene Form des Patriarchats. Man trennte damals die Sphären von Arbeit und Familie, von Außen und Innen, von Vernunft und Gefühl, hierarchisierte sie und lud sie geschlechtstypisch auf.
Die Revolution der Geschlechterverhältnisse hat stattgefunden.
Niemand sollte auch nur einen Hauch von Zweifel daran haben: Die Revolution der Geschlechterverhältnisse hat stattgefunden. Sie ist eine soziale, keine ideologische Tatsache. Gegen soziale Tatsachen aber hilft kein Widerspruch, man muss in ihnen bestehen. Zumal, wenn sie so verdient sind wie das sanfte Hinscheiden des Patriarchats. Der paradoxe Kanon des 19. Jahrhunderts, der gleichzeitig die natürliche Gleichheit aller Menschen und die natürliche Ungleichheit zwischen den Geschlechtern lehrte, ist auf dem Weg in die Schmuddelecken unserer Gesellschaft.
Die zweite Erkenntnis, die eine „Familienpredigt“ realisieren muss: Quasi selbstverständliche Existenz gibt es für nichts und niemanden mehr. Alle vormals quasi-natürlichen Rollenmuster werden unselbstverständlich, müssen neu entworfen, neu ausgehandelt und bedacht werden. Wer meint, dem entgehen zu können, ist dieser postmodernen Konstellation nur ganz besonders unglücklich verfallen.
Die Erfahrungen des Volkes Gottes mit Ehe-, Familien- und Beziehungsrealitäten wahr und ernst nehmen.
Ein heute pastoral anschlussfähiger Diskurs zu Ehe und Familie muss von den tatsächlichen Erfahrungen des Volkes Gottes mit seinen Versuchen, Ehe, Elternschaft und überhaupt familiare Lebensformen zu leben, ausgehen. Notwendig ist also, die Erfahrungen des Volkes Gottes mit den konkreten Ehe-, Familien- und Beziehungsrealitäten wahr und ernst zu nehmen.
Drittens aber: Dazu braucht man eine andere Sprache als jene der moralischen Unterweisung oder der idealistischen Überhöhung.1 Die Erfahrung von Solidarität brauchen jene, die am Familiensonntag eine Predigt hören. Pastoral kann keine Kompromisse eingehen, wenn es um die Solidarität mit den Leiden und Freuden der Menschen geht – und kaum irgendwo, siehe oben, sind heute Freuden und Leiden intensiver und unberechenbarer als in Partner- und Elternschaft und überhaupt in familialen Beziehungsformen zu erleben.
Es hieße, endlich aufzuhören mit den unrealistischen Diskursen über Ehe und Familie.
Jede „Familienpredigt“ sollte Menschen helfen, die Liebe an einem ihrer schönsten und ekstatischsten, gefährdetsten und unvermeidlichsten Orte zu leben, sollte ihnen helfen, verzeihen zu können und Verzeihung annehmen zu können, helfen, sich der eigenen Schuld zu stellen, dem anderen nie das geben zu können, was er verdient und was man sich von ihm paradoxerweise erhofft. Es hieße, endlich aufzuhören mit den unrealistischen Diskursen über Ehe und Familie, unrealistisch in idealistischer Überhöhung wie moralisierender Normierung.
Und es hieße auch, das, wofür die Kirche hier steht, Treue, Kreativität und den Glauben an die Unverbrüchlichkeit von Gottes Liebe, in heutigen Zeiten und ihren Lebensformen zu entdecken.
III.
Gut tun Predigende, wenn sie ihre Bibelkenntnis über die vorgeschlagenen Perikopen zum Sonntag ins Spiel bringen und mit ihrer Weltsicht verbinden. In diesem Jahr etwa könnte vom heldenhaften Josef zu vernehmen sein, der auf seine Träume hört und Frau und Kind durch Flucht nach Ägypten vor dem gewalttätigen Herodes schützt (vgl. Matthäus 2, 13-23). Eine Fluchtgeschichte, wie sie heute an der Grenze zwischen Syrien und der Türkei geschrieben werden könnte.
In den anderen beiden Lesejahren kommt am „Familiensonntag“ das Lukasevangelium zur Sprache mit dem in der jüdischen Familie gebräuchlichen Ritual der Beschneidung bzw. mit dem pubertierenden Jesus, der anlässlich des Pessach-Festes in Jerusalem seine Eltern alleine heimreisen lässt und sich lieber mit den Gelehrten im Tempel unterhält. „Familie? Ist mir doch egal. Es gibt wichtigeres für mich“, könnte Jesus gedacht haben. Später wird er sagen: „Meine Mutter und meine Brüder sind die, die das Wort Gottes hören und danach handeln.“ (Lukas 8,21)
Wir wissen viel zu wenig über das Gemeinschaftsleben von Maria, Josef und ihren Kindern.
So ideal scheint es also auch in der sogenannten „Heiligen Familie“ nicht immer gewesen zu sein. Überhaupt wissen wir viel zu wenig über das Gemeinschaftsleben von Maria, Josef und ihren Kindern, als dass wir – zudem noch über die Distanz von gut 2000 Jahren hinweg – Familienideale aus der Bibel ableiten könnten. Viel zu lange hat die lehrende Kirche, zu der sich auch die Prediger zählten, angebliche Fakten aus der Bibel abgeleitet bzw. in die Bibel hineingelesen.
Wie jede Predigt stellt sich also auch die Predigt am „Familiensonntag“ der hermeneutischen Arbeit. Dabei werden die verborgenen Absichten einer traditionellen Textauslegung entdeckt und hinterfragt. Mit eigenen, lebensdienlichen Überzeugungen lassen sich Leerstellen in den Texten ausfindig machen, die zur oben erwähnten gegenseitigen Hilfe im manchmal komplizierten und Leid gefährdeten Zusammenleben anregen oder Gelingendes hervorheben.
Ich verstehe Predigt als Beziehungsgeschehen.
Dazu kann das eigene Predigtverständnis selbst Anregung bieten. Ich verstehe Predigt als Beziehungsgeschehen. Also keine Einbahnkommunikation, auch wenn die Predigt traditionell als Rede für Adressatinnen und Adressaten gesprochen wird. Dieser Rede voraus geht aber der explizite oder imaginäre Dialog mit jenen, die zur Predigt kommen. Predigende lassen sich selbst zunächst vom Beziehungsangebot Gottes ansprechen und treffen, bevor sie auf dem Hintergrund dieser Erfahrung anderen davon erzählen. Dieses Erzählen enthält die Offenheit der anderen Position und zeigt daher die eigene. Kein Besserwissen (da ist der Elefant), vielmehr das Angebot von Erfahrungen (eigenen und zugetragenen) und vor allem auch: von Sprache.
„Lange haben wir das Lauschen verlernt!“
Zugegeben, das braucht gelegentlich etwas Mut. Aber wer sich auf die Begegnungen mit den biblischen Texten und den Geschichten, die das Leben schreibt, einlässt, kann in der Beziehung zur feiernden Gemeinde nicht scheitern, sondern nur gewinnen.
„Lange haben wir das Lauschen verlernt!“ beginnt eines der Gedichte von Nelly Sachs. Üben wir es wieder, um die Vielfalt des Lebens wahr und ernst zu nehmen.
—
Das Dezember-Team von feinschwarz.net: Helga Kohler-Spiegel, Rainer Bucher und Franziska Loretan-Saladin.
Bild: Rainer Bucher (mit speziellem Dank)
- Siehe dazu: M. Heimbach-Steins, Die Idealisierung von Ehe und Familie in der kirchlichen Moralverkündigung, in: K. Hilpert (Hrsg.), Zukunftshorizonte katholischer Sexualethik, Freiburg/Br.-Basel-Wien 2011, 300-309. ↩