Die biblischen Psalmen sprechen in der Form spiritueller Poesie aus der Tiefe der menschlicher Seele. Ursula Rapp wendet sich jenen Psalmen zu, die nicht so leicht über die Lippen gehen.
Viele Christ:innen, denen ihre Spiritualität am Herzen liegt, können sich für die Psalmen der hebräischen Bibel begeistern. Obwohl ich mich durchaus zu dieser Gruppe von Menschen zähle, kann ich mich nur bedingt für diese Texte erwärmen. Es liegt an einem ihrer für uns schwierigsten Aspekte: den Rachewünschen für alles feindliche und g*ttlose „Gesindel“, für die Täter:innen der in den Psalmen – besonders den Klageliedern der Einzelnen – zur Sprache kommenden Opfer. Nicht aber ist der sogenannte „Racheg*tt“ das Problem, sondern vielmehr die in den Klageliedern ständig präsente Anschuldigung anderer Menschen als Täter:innen.
Schuld der Täter:innen benennen – ein Schritt aus der Ohnmacht.
Hier wird es allerdings sehr sensibel: Schuld zu sehen ist wichtig, Schuldzuweisung kann es auch sein. Die Schuld der Täter:innen zu benennen kann ein Schritt aus der Ohnmacht von Menschen sein, die zu Opfern geworden sind. Die schmerzzerfressenen Wünsche, dass die Feind:innen der betenden Person selbst niederfallen, gedemütigt und „bestraft“ werden sollen, hat die Bibelauslegung als ganz wesentliches Mittel erkannt, um aus dem verstummten, gelähmten Opferdasein herauszutreten. Die Psalmen können solchen Menschen Worte borgen und Gefühlsräume eröffnen, um ihren Schmerz wahrzunehmen und aus sich herauszusprechen. Sie ermöglichen es Menschen, in der Gegenwart und Geborgenheit g*ttlicher Liebe das Schweigen ihrer Scham und Demütigung zu durchbrechen. Die Klagelieder sprechen die Sprache der ohnmächtig Gemachten aller Zeiten. Das ist ein menschlicher und religiöser Schatz dieser Texte, den wir nicht vergessen dürfen!
Worte, um die Scham zu durchbrechen.
Die Psalmen heute mit diesem Verständnis als Opfersprache zu beten verbindet uns mit denen, die leiden – und macht uns bewusst, dass wir alle leiden – ob schwer oder erträglich, immer wieder oder phasenweise gar nicht. Dieser menschenverbindende Aspekt ist human und politisch wichtig, er schafft Solidarität und stellt sich jeder Überheblichkeit entgegen.
Weitergehen
Aber finden die Klagelieder der Einzelnen nicht auch aus der Anprangerung der Schuld anderer heraus? Bleiben sie die Gebete allein derer, für die das Benennen der Schuld ihrer Täter:innen nicht nur ein unverzichtbar wichtiger, sondern der äußerste mögliche Schritt ist? – Vielleicht ist es so, vielleicht kann man aber doch vorsichtig – ohne das beschriebene Sinnpotenzial zu leugnen – versuchen weiterzugehen. Jetzt wird es allerdings noch sensibler, denn auch dieses „Weitergehen“ folgt jeweils der subjektiven Disposition, Erfahrung und Sehnsucht. Wir können und dürfen anderen weder sagen, wie sie die biblischen Texte zu verstehen haben und schon gar nicht, wie sie mit ihren Erfahrungen umgehen sollen.
Schritte der Selbstermächtigung, Selbstakzeptanz und Selbstliebe
In der therapeutischen Arbeit zeigt sich, dass das Schuldzuweisen, Wüten, Toben und Rauslassen von Wut und Hassgefühlen unendlich wichtige Schritte der Selbstermächtigung und letztlich Selbstakzeptanz und Selbstliebe sind. Versöhnung allerdings – zunächst mit der eigenen Geschichte und Erfahrung – geht weiter. Sie kann sich von den Täter:innen lösen, weil sie vom eigenen Weg, von der Liebe zu sich selbst, zum eigenen Ganzssein und zur eigenen Ermächtigung ausgeht. Es geht dann nicht mehr um „Schuld“ anderer, sondern um die eigenen Möglichkeiten, den eigenen Lebensweg und die eigene Lebenslust. Es wird deutlich, dass wir selbst es sind, die auch anders agieren können, dass es immer unsere eigene Art ist, auf Menschen, die uns verletzen, zornig machen, nerven oder sonst an unsere Grenzen bringen, zu reagieren. Wir müssen uns nicht einengen lassen. Wir werden zu Subjekten unseres Wahrnehmens und Handelns.
Das Feindliche als eigene Schatten und Ängste verstehen.
Ob, und wenn, wie sich diese Selbstzuwendung in den Klageliedern der Einzelnen findet und wie das Versöhnungspotenzial und ihr Angebot zu innerer Transformation aussehen, hängt vom Verständnis der Feind:innen und Konsorten ab.
Wenn man das Feindliche, Bedrängende, G*ttlose und Gewalttätige in den Psalmen auch als innere Kräfte und Stimmen identifizieren kann, die sich unserem „Ganzsein“, unserer „Fülle“, „Lebenskraft“ und ganzen Liebesfähigkeit, biblisch ausgedrückt, unserer G*ttebenbildlichkeit, immer wieder entgegenstellen, öffnen wir das Thema Schuldzuweisung. „Feindliches“ können wir als eigene Schatten, dunkle Seiten, Selbstverleugnungen, Ängste, Selbstabwertungen und -überhebungen usw., als eigene Muster verstehen, die wir uns in erlebten seelischen Verletzungen und Kränkungen zum eigenen Schutz und zur Verteidigung angelegt haben. Solange wir diese aber nicht als solche wahrnehmen und annehmen, schieben wir die Verantwortung für unsere Situation auf andere Menschen, unsere Erziehung, die Umwelt, die Politik etc. Dann nähren und beleben wir unsere verletzten Muster und geben sie weiter. Die Psalmen benennen das G*ttfeindliche aber ungeschönt, die betende Person schaut hin zu dem, worunter sie leidet, zu dem, womit sie selbst sich den Zugang zu innerer Fülle, Freiheit, zur Gegenwart des G*ttlichen, dem g*ttlichen Funken, wie es etwa Meister Eckhart nennt, versperrt.
G*ttliche Zuwendung und Rettung als innerer Prozess
Mit diesem Verständnis des Feindlichen und G*ttlosen verändert sich auch das Verstehen der g*ttlichen Wirklichkeit. Sie kann nicht mehr nur außerhalb unserer selbst angesprochen werden. In der Sehnsucht nach g*ttlicher Zuwendung, Rettung und der Vernichtung des Bedrohlichen und Bedrängenden wird ein innerer Prozess der Transformation und des Loslassens sichtbar, der im Psalm poetisch erzählt und meditiert wird.
Das G*ttliche wirkt nicht nur im Außen an anderen Menschen, sondern in der Veränderung unserer eigenen einengenden Muster und Handlungsweisen, die unsere G*ttebenbildlichkeit eher zu einer Fratze machen. Denn mit der Einsicht, dass wir uns selbst bedrängen mit bestimmten Handlungsweisen, Glaubenssätzen, Ich-Idealen etc. und diese annehmen, wird G*tt als in uns verändernd erfahrbare Wirklichkeit spürbar. Die Psalmen bezeichnen das unterschiedlichst etwa als umfassende Liebe (Huld, hebr. chesed), Gnade, Gegenwart G*ttes, Licht, Geborgenheit usw. In dieser Erfahrung ist das Vertrauen möglich, dass Altes losgelassen und die Unsicherheit und Schutzlosigkeit, die dann entsteht, ausgehalten werden kann. Es entsteht ein innerer Raum, der noch unbetreten ist, dessen Eigenschaft so etwas wie Liebe ist, ein Angenommensein, eine Leichtigkeit, Glück. Es ist ein Dasein, dass offen ist, hingegeben, fließend und zutiefst mit allem verbunden. Vielleicht kann man das auch g*ttliche Gegenwart nennen.
Transformationsprozesse
Die Klagelieder der Einzelnen können schließlich als Reflexionen oder Beschreibungen innerer Transformationsprozesse verstanden werden, die sich über Monate und Jahre hinziehen, wiederholen und immer tiefer in uns heilsam werden.
Ein Beispiel aus Psalm 13:
2a Wie lange, EWIGE, wirst du mich noch so andauernd vergessen?
b Wie lange wirst du noch dein Angesicht vor mir verstecken?
3a Wie lange lege ich Pläne auf meine Lebenskraft,
b Betrübnis auf mein Herz Tag für Tag?
c Wie lange erhebt sich mein Feindliches noch über mich?
In diesen Versen fühlt sich die betende Person von G*tt verlassen, belädt sich selbst mit Sorgen und Kümmernissen und außerdem überhebt sich noch „mein Feind“.
G*ttverlassenheit ist hier Selbstwahrnehmung.
Diese G*ttverlassenheit ist zugleich Lebensverlassenheit, denn für einen religiösen Menschen ist G*tt unverzichtbare Lebensquelle. G*ttverlassenheit ist hier keine theologische Aussage „über G*tt“, sondern Selbstwahrnehmung, ein gefühlter Seelenzustand.
G*ttvergessenheit in V. 2 und das Bedrücken der eigenen Lebenskraft in V. 3 sind engstens miteinander verbunden. Das wird durch die Einleitungen mit denselben Fragen („Wie lange?“) sprachlich deutlich gemacht. Man verstellt sich also mit dem Sorgen und Planen, mit den ständig tätigen Gedanken um unsere Selbstkonstruktionen und Pläne die innere Zuwendung des G*ttlichen, die Fähigkeit, leer zu werden für das Spüren der großen Gegenwart. G*ttvergessenheit wird zu einer Aussage über uns selbst. Angelus Silesius hat dies in einem häufig zitierten Satz formuliert:
„Halt an, wo läufst du hin? Der Himmel ist in dir.
Suchst du Gott anderswo, du fehlst ihn für und für.“
G*ttvergessenheit ist dann der Verlust der Beziehung zu diesem Himmel in uns, zu der Fülle, die wir sein können, wenn wir uns aus unseren inneren Gefängnissen lösen. Es ist nicht die Abkehr einer äußeren Macht, einem äußeren Gegenüber, sondern das Zerreißen eines inneren Fadens oder das Vertrocknen des Fließens einer inneren Quelle.
Ursula Rapp ist Professorin an der Kirchlichen pädagogischen Hochschule Edith Stein, promoviert und habilitiert im Fach „Exegese des Alten Testaments“ sowie Bioenergetische Analytikerin unter Supervision. Sie lebt derzeit in Salzburg.
Beitragsbild und Foto: Severin Rapp – Autorinnenfoto: Privat