Juliane Link erinnert sich an ihre Kindheit und spricht darüber, wie sich ihr Menschenbild und ihr Glaube mit dem Erwachsenwerden verändert haben.
Als ich ein Kind war, lernte ich im Religionsunterricht, dass Gott dreifaltig ist, aber seine Dreifaltigkeit machte auf mich einen sehr komplizierten Eindruck. Ich stellte sie mir vor wie eine filigrane Bastelarbeit, ein aufwendiges Origami, das nur Gott gelingt. Oder Gott war dreifaltig wie die Geschirrtücher meiner Mutter, die nicht gebügelt wohl aber gefaltet werden mussten, erst halbiert, dann gedrittelt und glatt gestrichen und feinsäuberlich in den Wäschekorb gestapelt.
Dreifaltigkeit machte auf mich einen sehr komplizierten Eindruck.
Auf dem Pausenhof spielte ich am liebsten: „Wer hat Angst vorm schwarzen Mann“? und dabei stellte ich mir den schwarzen Mann ziemlich gruselig vor. Er war ganz in Schwarz gekleidet und hatte schwarze Schminke im Gesicht, die nur die Augenhöhlen frei ließ. Seine Hände waren kalt und sein Schwarz würde ansteckend wirken, sobald er mich zu fassen bekam. Diese Vorstellung spornte mich an, wann immer ich weglaufen sollte. Ich wollte nie die anderen fangen, ich wollte nie der schwarze Mann sein, ich wollte nur wegrennen und schnell genug sein, um zu entkommen. Damals wusste ich noch nicht, was Rassismus ist und es gab in meinem Dorf keinen echten schwarzen Mann, mit dem ich hätte spielen können, um die Angst zu verlieren.
In Deutsch hatte ich eine Lehrerin, die Frau Müller hieß und gerne Hausaufgaben verteilte. Einmal sollte ich für sie herausfinden, was “Juliane“ bedeutet. Bei der Recherche war ich aufgeregt, denn ich glaubte, ich würde mit dem Geheimnis meines Namens auch mehr über mich selbst erfahren. Nicht ohne Stolz erklärte ich Frau Müller nach Abschluss meiner Recherchen, mein Name sei eine Nebenform von Julia, einem lateinischen Vornamen, wörtlich übersetzt „aus dem Geschlecht der Julier kommend“. Deshalb sei mein Name zunächst Mädchen vorbehalten gewesen, die aus dem römischen Herrschergeschlecht stammten und bedeute im übertragenen Sinn so viel wie „die Schöne“, „die Prächtige“ oder sogar „die Göttliche“. Frau Müller nickte zufrieden und stellte mir die nächste Aufgabe: ich sollte die Eigenschaften meines Namens in einem Selbstporträt darstellen.
Mit dem Geheimnis meines Namens mehr über mich selbst erfahren.
Zuhause zeichnete ich mich auf DIN A3 als edle Dame in einem bodenlangen Kleid, das ich mit Goldpapier, Alufolie und Stoffresten schmückte und mit glitzernden Pailletten beklebte, die ich zu diesem Anlass von meinem Lieblingspullover entfernte. Als meine jüngere Schwester das Bild sah, war sie sehr beeindruckt und begann sich ausnahmsweise für meine Schulbildung zu interessieren. Sie ging davon aus, dass wir im Unterricht alle Vornamen durchgenommen hatten, wie alle Buchstaben im Alphabet, und fragte mich nach der Bedeutung ihres Namens. Ich nutzte die Gelegenheit, um den Charakter meiner Schwester durch meine persönliche Interpretation ihres Namens möglichst treffend zu beschreiben. Dafür genügte nicht ein Wort, aber ich ließ mich von einem Klassenkameraden inspirieren, der Marian hieß, wörtlich übersetzt: „der aus dem Meer Entstiegene“. Ich grübelte drei Tage lang über das Persönlichkeitsprofil meiner Schwester, bevor ich ihr sehr sachlich mitteilte, ihr Name „Sophia“ bedeute: „die aus dem Urwald Gekommene“. Meine Schwester nahm diese Nachricht mit ambivalenten Gefühlen auf, zweifelte aber keine Sekunde am Wahrheitsgehaltmeiner Auskunft. Sie erzählte allen im Kindergarten davon und illustrierte ihren Namen mit Selbstbildnissen, auf denen sie sich mit turbulenter Frisur und etwas Fell bekleidet im Dschungel darstellte, von Schlangen und Säbelzahntigern umgeben. Die Bilder verschafften ihr in der KiTA einen gewissen Respekt. Kaum hatte sie sich an ihre neue Identität gewöhnt, erfuhr sie von meinem Vater die Wahrheit und war, gelinde gesagt: irritiert.
Die aus dem Urwald Gekommene.
Damals fühlte ich mich meiner Schwester überlegen und dachte, ich könnte die Diskrepanz zwischen uns mit der aus dem Urwald Gekommenen zum Ausdruck bringen. Heute hat meine Begeisterung für die Prächtige nachgelassen und ich möchte lieber selbst die aus dem Urwald Gekommene sein. Eine Frau, die wild und unbefangen ist und aufblüht, wenn sie in der Natur sein kann, die ihrer Intuition folgt und ihrem Erfahrungswissen traut. Der Name Sophia hat für mich nichts mit der höheren Bildung von kultivierten Damen, zu tun, die am liebsten alleine ins Museum gehen. Der Name meiner Schwester wird für mich immer mit der wilden Weisheit eines lebhaften kleinen Mädchens verbunden sein und dem undurchdringlichen Dickicht ihrer kindlichen Logik, ihrer Fantasien und Träume.
Seit ich eine Frau bin, habe ich schwarze Männer getroffen, vor denen man nicht wegrennen muss. Sie haben nicht verdient, dass ich ihnen mit Misstrauen und Vorbehalten begegne, weil die erfundene Angst vor dem schwarzen Mann vom Pausenhof meiner Kindheit bis in die Gegenwart nachhallt. Heute weiß ich, dass das Rassismus ist und schäme mich dafür, dass ich nicht frei davon bin.
Ich schäme mich dafür, dass ich nicht frei davon bin.
Und ich muss mir eingestehen, dass in dieser Angst etwas Lustvolles steckte wie in dem Gefühl der Überlegenheit, das ich meiner Schwester gegenüber empfand. Meine Angst war so unberechtigt wie meine Überlegenheit, ich glaube nicht mehr an sie. Aber ich glaube, dass alle Vornamen schön sind, jeder auf seine Weise, denn sie tragen in sich wie jeder Mensch eine Botschaft.
Ich glaube, dass alle Menschen die gleiche Würde und die gleichen Rechte haben, egal ob sie mir ähneln oder nicht, egal ob sie dem Meer entstiegen oder aus dem Urwald gekommen sind, denn sie alle sind freie Übersetzungen des Göttlichen. Ich glaube nicht mehr, dass Gott sich zusammenfalten lässt wie ein Geschirrtuch, sondern dass Gott dreifaltig genannt wird, weil Gott ein Beziehungswesen ist, komplex und vielgestaltig und weit und offen für viele Namen.
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Text: Juliane Link, Autorin, Kulturwissenschaftlerin, Referentin der Katholischen Studierendengemeinde Berlin.
Bild: Will Cornfield, unsplash.