Immer mehr wird deutlich: Wir müssen intensiv darüber nachdenken, was die Erfahrungen der Pandemie für Pastoral und Glaubensleben bedeuten. Tim Schlotmann plädiert für eine erneuerte Pastoral der Nähe.
Sind Theologie und Kirche systemrelevant? Oder hat diese umfassende Krise letztlich schonungslos zu erkennen gegeben, was unter der Oberfläche schon längst erahnt, bislang aber allenfalls von einigen Unheilsprophet*innen offen ausgesprochen wurde: In einer spätmodernen und säkularen Gesellschaft beschränkt sich ihr Handeln auf das schmückende Beiwerk von Analysen, die vor allem den Binnenraum tatsächlich interessieren. Und auf die plötzliche Entfaltung einer ansonsten irgendwie gehemmten Kreativität, die aber auch als „digital-pastoraler Budenzauber“ (Daniel Bogner) in die Kritik der eigenen Reihen kommen kann.
Schon gleich zu Beginn der Pandemie und unter dem Eindruck der ersten harten Einschnitte konnten dem/r geneigten Beobachter*in der kirchlichen Szene die Extreme nicht entgehen, in die sich hier einige Akteure medienwirksam (oder eben nicht) zu flüchten vermochten. Auf der einen Seite ein schier unbändiger Aufwand vieler äußerst arbeitsbeflissener Mitarbeiter*innen, um unter Nutzung der Medien und der sozialen Netzwerke die unanfechtbare Vitalität der Kirchengemeinden zu demonstrieren. Und nur ganz kritische Geister können die Ergebnisse rundheraus abqualifizieren. Viele Gottesdienst- und Impuls-Angebote waren tatsächlich höchst inspiriert und dürften zurecht die Botschaft vermittelt haben, die sie eben transportieren sollten: Gott ist auch und gerade in Krisenzeiten seinem Volk nahe – und unser Bemühen hat nur darin seinen innersten Kern.
Liegt die wahre Kraft wirklich im Rückzug?
Auf der anderen Seite gab es schon frühzeitig jene Stimmen, die Ausgangsbeschränkungen, Kontaktverbote und eben vor allem die Unterbrechung der Gottesdienste als die außerordentliche, aber womöglich dringend gebrauchte spezielle Fastenzeit des Jahres 2020 deuteten. Eine wichtige Erkenntnis, die in normalen Zeiten zu sehr in Vergessenheit geraten war, feierte hier fröhlich Urständ: die wahre Kraft liegt im Rückzug und damit praktisch im Herunterfahren aller Aktivitäten, um zu beten, zu analysieren und einmal alles gut sein zu lassen. Wer so dachte, konnte ebenfalls Gewinne erzielen. Zeiten der Einkehr, das wissen Theologie und spätmoderne Wellness-Kultur gleichermaßen, können dazu beitragen, dass man wesentlicher wird.
Möglicherweise sind die Extreme dabei gar nicht so übel, weil sich hier eben auch legitime Formen der Bewältigung verbergen. Es wurde sichtbar, welche kreativen Ressourcen in den Kirchengemeinden schlummern. Und auch die Kraft des Gebets im Rückzug, im stillen Kämmerlein hat tatsächlich eine in beachtlichem Maße unterschätzte theologische und spirituelle Dignität.
Der Pastoralplan kennt keine Pandemie!
Und doch wurde auch sichtbar, dass es sich um Bewältigungsstrategien handelt. Wie hätte es auch anders sein können? Etwas böse gesagt: eine Pandemie steht weder im Pastoralplan noch in der Stellenbeschreibung. Die Improvisations-Kompetenz kirchlicher Mitarbeiter*innen wurde bis an die Grenzen ausgereizt.
Zwischen den Extremen könnte sich dabei eine maßvolle Analyse mit einer primär seelsorglich orientierten Zielrichtung als gewinnbringender Mittelweg erweisen. Denn eine Problemstellung hat sich mit dieser Krisenerfahrung geradezu aufgedrängt. Sie hat durch ihre allzu sichtbaren, physischen Ausmaße eine offenkundige Relevanz entfaltet, die ihr praktisch-theologisch schon länger zugesprochen werden könnte: wie kann sich Seelsorge ohne Nähe ereignen? Kann sie das überhaupt?
Eine differenzierte Betrachtung von Seelsorge als Phänomen der Nähe bewahrt davor, hier den Blick ausschließlich auf eine physische Nähe zu richten. Da müsste man schon die wertvollen und zudem zahlenmäßig beachtlich konstanten Erfahrungen der Telefonseelsorge missachten, um die Analyse konsequent fortschreiben zu können.
Eine Seelsorge ohne Nähe – das gibt es gar nicht.
An dieser Stelle und in der Reaktion auf die Erfahrungen jener wunderlichen Wochen, die für uns längst nicht abgeschlossen sind, könnte die fehlende physische Nähe auch jene Metapher bilden, von der einige neuerliche Überlegungen für die Seelsorge ausgehen. Denn das Fehlen von Nähe ist allem Anschein nach kein exklusives Problem der Corona-Zeiten.
Interessanterweise beklagen dies nicht zuletzt pastorale Mitarbeiter*innen verschiedener Berufsgruppen, wenn sie ihre Arbeit und die damit verbundenen Schwerpunkte reflektieren: Für echte Nähe zu den Menschen bleibt keine Zeit. Allzu geschäftig sind wir genötigt, die professionelle Distanz zu wahren, um nicht aufgerieben zu werden von Erwartungen, die letztlich unscharf bleiben. Und überhaupt: ist dies nicht die schmerzliche Erfahrung der Kirchengemeinden unter den veränderten Bedingungen des „säkularen Relevanzverlustes“ (Jan Loffeld): dass nur noch wenige Menschen die Nähe zu Seelsorgerinnen und Seelsorgern aktiv suchen.
Was macht es mit der Seele, wenn der Leib beschränkt wird?
Es sollte Theologie und Kirche zumindest nicht kalt lassen. Es wäre ein zwar mühevolles, aber wohl lohnenswertes Unterfangen, die Nähe als praktisch-theologisch relevante Kategorie ins Blickfeld zu rücken. Dies würde bedeuten, sie zunächst einmal näher zu definieren. Dabei könnten Erfahrungen gerade aus aktuellen Krisenzeiten helfen. Was geschieht mit meiner Seele, wenn mein Körper gezügelt werden muss, um Anderen nicht zu nahe zu kommen?
Darauf aufbauend könnte die Frage, wie Nähe im Rahmen einer Theorie der Seelsorge zu bestimmen sei, einen Beitrag zur Identität von Praktikerinnen und Praktikern leisten. Meine Erfahrungen stimmen mich in dieser Hinsicht äußerst zuversichtlich. Es gibt unzählige Priester, Diakone, Gemeinde- und Pastoralreferentinnen, die im seelsorglichen Dienst ihre Potentiale erst recht entfalten, wenn es ihnen gelingt, Menschen auf eine angenehme Weise nahezukommen. Wenn sie sich selbst für Nähe öffnen und davor nicht zurückschrecken.
Anderen nahe kommen, das heißt: sich brennend für ihren Alltag interessieren.
Es geht – sowohl in Zeiten des social distancing als auch davor und danach – hier nicht um eine Pastoral der andauernden zärtlichen Umarmungen. Sondern es geht um ein seelsorgliches Handeln, dessen erster Antrieb ein „brennendes Interesse am Alltag der Menschen“ (Christoph Theobald) ist. Vielleicht wäre das ein erster Schritt hin zu ganz neuen Erfahrungen, wenn alle kirchlichen Wirkungsfelder daraufhin befragt werden, ob sie sich tatsächlich auf einen solchen Antrieb berufen können. Vielleicht ist es gerade diese Zeit, die dazu drängt. Wenn es gelingt, könnten womöglich in anderen, gesellschaftlich befreiten Zeiten auch die Sakramente als „Zeichen der Nähe Gottes“ (Theodor Schneider) an Attraktivität gewinnen.
Von einer physischen Erfahrung des Mangels in Zeiten der Pandemie hin zu einer neuerlichen Anstrengung zugunsten neuer Prioritäten der Pastoral – es ist nicht mehr und nicht weniger als ein Vorschlag. Ein Vorschlag allerdings, der einer gläubigen Sehnsucht entspringt: „Gott nahe zu sein, ist mein Glück“ (Psalm 73,28).
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Tim Schlotmann, Dipl. Theol., ist Pastoralassistent im Erzbistum Köln.
Bild: sokaeiko.de – pixelio.de
Verweise:
Bogner, Daniel, Diese Krise wird auch die Kirche verändern, katholisch.de, 26.03.2020
Loffeld, Jan, Der nicht notwendige Gott. Die Erlösungsdimension als Krise und Kairos des Christentums inmitten seines säkularen Relevanzverlustes, Würzburg 2020.
Theobald, Christoph, Hören, wer ich sein kann, Ostfildern 2018, S. 187-198.