Gerade entdecken wir ein unerwartetes Angewiesensein auf Andere – auf die Medizin, auf die Wissenschaft, auf die Politik, ein Angewiesensein, das jedoch nicht wirklich beruhigt. Isabella Guanzini plädiert in dieser Lage für einen neuen Diskurs der Kultur.
Unser gegenwärtiger Zustand ist von neuen Signifikanten (Masken, Distanz, Pandemie, Lockdown usw.) und neuen Gegensätzen geprägt (Infizierte/Immunisierte, Zusperren/Aufsperren, Ausgehen/Drinbleiben usw.), die neue Emotionen auslösen. Wir sind einem geteilten Schicksal ausgeliefert, das nicht zuletzt eine unbekannte Form der Passivität erzeugt und unsere Freiheit radikal herausfordert.
Diskurs der Wissenschaft
Am Anfang wurde das Geschehen durch den Diskurs der Wissenschaft bzw. der Medizin beherrscht. Exakte Zahlen, Algorithmen und Graphiken wurden in unseren Alltag eingeschrieben und haben die Grundstimmung unserer symbolischen Ordnung bestimmt. Wir haben uns Virolog*innen und Epidemiolog*innen anvertraut und der Entdeckung der Impfung einen messianischen Charakter zugeschrieben.
Diskurs der Wirtschaft
Nun hat sich der Diskurs der Wirtschaft verstärkt, der unseren dramatischen sozioökonomischen Zustand zu retten versucht. Der katastrophale Effekt dieser Krise auf die Arbeitsplätze, die neue Armut, den Kollaps Europas und die Rezession, die unserer Zukunft droht, benötigen radikale Maßnahmen, die das Gesicht unserer Gesellschaften jedenfalls ändern werden.
Diskurs der Politik
Neben diesen zwei unausweichlichen Diskursen muss sich jedoch ein neuer weitblickender Diskurs der Politik etablieren, der die beiden anderen zu verknüpfen vermag. Der politische Diskurs müsste verhindern, dass die klinischen Kategorien aktueller gesundheitlicher Notlage sich nicht in politische Gegensätze verwandeln und ein neues Paradigma der Spaltung gestalten: immunitas gegen communitas, gesunde junge Leute gegen kranke alte Menschen, offene Gesellschaften gegen geschlossene Gesellschaften etc.
Denn das soziale Abstandhalten, das notwendig ist, um die Ansteckung einzudämmen, kann sich sehr schnell als gesellschaftliches Gebot in den individuellen und soziopolitischen Körper einschreiben und in eine kollektive Neigung zum permanenten Misstrauen transformieren. Notwendigerweise verschärfen die Masken und jene automatischen kleinen Abweichungen, die uns fast unbewusst in unseren Spaziergängen von den Anderen entfernen, das Gefühl, dass unser Weltumgang anders geworden ist. Der Andere birgt die Gefahr einer potenziellen Ansteckung. Ständig muss man physische und symbolische Trennlinien ziehen, um für sich selbst eine gewisse mentale und körperliche Immunität zu gewährleisten.
Eine Gefahr: die kollektive Neigung zum permanenten Misstrauen
Die Coronakrise hat außerdem den bereits bestehenden prekären Zustand unserer europäischen Demokratien an die Oberfläche gebracht: ihre nationalistischen Tendenzen, die illusorische Sicherheit der Mauer, die protektionistischen Barrieren, den Erfolg der extremistischen Parteien, die emotionalen Appelle, welche die Angst und den Groll unzufriedener Gesellschaftsschichten ausnutzen.
Von daher steht der politische Diskurs vor der enormen Verantwortung, potenzielle Bürgerkriege, dramatische Armut und zwischenmenschliche Konflikte durch ein neues Narrativ zu bändigen. Dieses Narrativ muss sich real und medial in unsere Haut einschreiben, um jede Form der Panik und Resignation so bald wie möglich außer Kraft zu setzen.
Wir brauchen einen neuen Diskurs der Kultur,
Dafür brauchen wir jedoch noch etwas Anderes. Etwas, das in der Lage wäre, einen neuen Anfang wirklich zu ermöglichen. Wir bräuchten einen Anfang, der nicht ausschließlich auf die Macht der großen Wirtschaftskonzerne konzentriert ist. Wir brauchen einen neuen Diskurs der Kultur, der trotz oder inmitten der gegenwärtigen Traumata und Mangel an Horizonten einen speziellen Widerstand und eine unerwartete Fantasie freizusetzen vermag. Zwei Bilder dieser dramatischen, jedoch resilienten Zeit stammen aus meiner lombardischen Heimatstadt Cremona, die durch die Krise sehr hart getroffen wurde.
Das erste ist ein Foto, das eine Ärztin im Krankenhaus von Cremona am 8. März aufgenommen hat und eine erschöpfte Krankenschwester zeigt. Nach einer langen Nachtschicht um sechs Uhr früh schläft sie mit dem Kopf auf dem Schreibtisch vor einer Tastatur, mit Mundschutz, Haarnetz und Schutzanzug. Zwei Tage später wurde sie auf das Coronavirus positiv getestet, da sie sich offenbar beim Versorgen von Covid-19-Patienten selbst mit dem Virus infiziert hat, ebenso wie insgesamt mehr als 10.000 Ärzt*innen, Pfleger*innen und andere Mitarbeiter*innen im italienischen Gesundheitswesen (150 Ärzt*innen sind bis heute unter dem Coronavirus in Italien gestorben).
Das zweite Bild, das sofort rund um die Welt ging, betrifft die Geigenspielerin Lena Yokoyama. Wie eine Figur aus den Gemälden von Marc Chagall spielte sie am 17. April auf dem Dach desselben Krankenhauses. Für Cremona, eine Stadt, die weltberühmt für ihre Geigenbauer*innen und die musikalische Tradition ist, war dies ein sehr symbolischer ästhetischer Gestus: ein Gestus reiner Dankbarkeit für diejenigen, die seit zwei Monaten unermüdlich arbeiten, um Menschen zu pflegen und zu retten. Die Musik hat sich plötzlich in den Operationssälen, in den Zimmer und auf den Gängen verbreitet – man könnte geneigt sein zu sagen: fast wie ein (Anti-)Virus. Sie hat die Stille unerwartet unterbrochen und die Mühe und das Leiden für einen Augenblick gemildert.
Ein unvergesslicher Moment der Kultur der Sorge
Es war ein unvergesslicher Moment der Kultur und der Sorge bzw. ein Moment einer Kultur der Sorge, in welchem die Musik ihr symbolisierendes und sublimierendes Potential exemplarisch bewirkt hat. Diese Musik hat zweifellos auch diejenigen erreicht, die in ihrer allerletzten Einsamkeit (nicht nur im Krankenhaus in Cremona) gestorben sind. Sie war wie ein letztes Gebet für unsere Toten, eine letzte Berührung in der Zeit der Unberührbarkeit („noli me tangere“, Gv 20,17).
Das kann die Musik. Das kann jedoch jeder einzelne Gestus der Kultur, der das Menschliche konkret pflegt (so wie beispielsweise auch in jeder Schulstunde oder auf den Hochschulen stets das Menschliche auf dem Spiel steht – wie auch in der Theologie).
Die Mühe der Sorge und die ästhetische Kraft der Kultur sind hier als eine Signatur eines Zusammenlebens zu verstehen, das menschenwürdig und zukunftsfähig sein kann. Wissenschaft, Wirtschaft und Politik müssen sich diesem vierten Diskurs zuwenden, wenn sie den Mut haben, ein wirklich humanes Narrativ für die Zukunft eröffnen zu wollen.
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Isabella Guanzini ist Professorin für Fundamentaltheologie an der Katholischen Privat-Universität Linz
Bild: Pro Cremona