In der evangelisch-reformierten Johanneskirche in Zürich findet Woche für Woche eine Psalmenvesper statt. Tania Oldenhage erzählt von der Wirkung, die das Psalmenlesen auf sie hat – und wie sie mit der nicht immer einfachen Psalmen-Vielfalt umgeht.
Neben der Johanneskirche in Zürich befindet sich einer der grössten Musikclubs der Stadt. Besonders im Sommer kann es vorkommen, dass sich auf dem Gehweg eine riesige Schlange von Leuten bildet, die alle ins Konzert wollen. Während sich die Türen des Clubs langsam öffnen, schlagen bei uns die Kirchenglocken zur Dienstagsabend-Vesper. Ich stehe vor dem weit offenen Kircheneingang und schau den Leuten beim Warten zu. Die Leute schauen neugierig zurück. Sie sehen die brennenden Laternen, die offene Kirche. Manchmal winken wir uns zu. Manchmal winke ich sie hinein in die Kirche. Aus Spass. Es ist nicht ernst gemeint.
Nichts Ungewöhnliches, bis dann doch etwas Seltsames passiert.
Wobei es interessant wäre zu wissen, wie 20-jährige Zürcher:innen reagieren würden, wenn sie aus reiner Neugier in unsere Vesperfeier hineinstolpern würden. Ein heller Kirchenraum. Musik. Eine Gruppe von zwanzig, manchmal vierzig Leuten. Eine steht am Pult und spricht. Nichts Ungewöhnliches, bis dann doch etwas Seltsames passiert. Plötzlich erheben alle Menschen im Kirchenraum ihre Stimmen und lesen zusammen einen uralten Text. Unisono. Kraftvoll. Und in fast perfektem Rhythmus. Als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt.
Ich musste mich an das gemeinsame Psalmenlesen erst gewöhnen. Meine Geschichte mit den Psalmen ist wechselhaft. Als Theologin finde ich die Psalmen aufwühlend. Als Pfarrerin im Gottesdienst habe ich sie oft gemieden. Ich fand sie zu schwer, zu steil. Doch in der Johanneskirche, in der ich seit drei Jahren als Pfarrerin arbeite, hat das gemeinsame Psalmenlesen Tradition. In fast jeder Dienstagabend-Vesper werden Psalmen gesungen, gespielt, musikalisch aufgeführt und vor allem auch gemeinsam gelesen. Und so lerne ich, mit ihnen zu leben.
Du fängst einen Psalm an zu lesen, und es ist, wie wenn ein Schalter kippt.
Unsere Vesper-Gemeinde liest die Psalmen auf Deutsch, aber manchmal denke ich, wir könnten sie genauso gut auf Latein lesen. Es hätte dieselbe Wirkung. Du fängst einen Psalm an zu lesen, und es ist, wie wenn ein Schalter kippt. Du liest die Worte, doch sie erreichen dich nicht wirklich. «Preist, ihr Völker, unseren Gott, lasst laut sein Lob erschallen.…» (Ps 66). Du weisst nicht, was die Sätze von dir wollen. «Deine Herrschaft währt von Generation zu Generation….» Du hast keine Ahnung, was das bedeuten soll. Die Psalmen sind voller unendlich oft wiederholter Floskeln, die nichts mit deiner Wirklichkeit zu tun haben.
Doch seltsamerweise tut mir das gerade gut. Nach einem langen Arbeitstag übergebe ich mich dem Duktus eines fremden Textes, reihe mich ein in die Stimmen anderer. Analysiere nicht mehr. Das gemeinsame Lesen, denke ich oft, ist wie Musik. Die Satzmelodien sind wichtiger als der Inhalt. Die Stimmen der Menschen mit ihren unterschiedlichen Akzenten – tiefe, helle, leise, laute, brüchige, zaghafte, klangvolle – suchen sich im gemeinsamen Rhythmus der Zeilen. Und es spielt weniger eine Rolle, was wir lesen, sondern dass wir überhaut da sind an diesem Abend und uns zusammen einer alten Tradition überlassen.
Inmitten von Lob und Preis bricht plötzlich der Zorn Gottes in unsere Vesper.
Manchmal brechen Bilder aus dem Einerlei der vielen Worte hervor und sprechen zu mir. «Aus der Tiefe rufe ich zu dir.» «Nähme ich Flügel der Morgenröte…». Ich kenne die Bilder seit meiner Kindheit und schon allein das hat etwas Beruhigendes. «An den Flüssen Babels sassen wir und weinten.» Würde ich eine Predigt über diese Worte schreiben, müsste ich sie kontextualisieren. Sozialgeschichtlich verorten. Aktualisieren. Ich müsste versuchen, ihnen gerecht zu werden. Doch beim gemeinsamen Psalmenlesen kann ich mich der Atmosphäre hingeben, die solche Zeilen verbreiten. Sie wurden von unendlich vielen Menschen vor mir gelesen. Sie brauchen meine Erklärungen nicht.
Doch dann gibt es Zeilen, die mich aus der meditativen Stimmung werfen. Inmitten von Lob und Preis bricht plötzlich der Zorn Gottes in unsere Vesper: «Da entbrannte der Zorn des HERRN gegen sein Volk» (Ps 106,40) Für einen Moment stockt mir die Stimme und ich frage mich, was wir hier eigentlich machen.
Unser Team an der Johanneskirche ist, was die Psalmen angeht, diszipliniert unterwegs. Nicht nur halten wir fest an den Psalmen. Wir disziplinieren uns auch in der Wahl der Psalmen. Zur Zeit folgen wir der Perikopenordnung, die ich in den USA kennengelernt habe. Das «Revised Common Lectionary» spült uns Psalmen ins Vesper-Programm, die in der reformierten Kirche der Schweiz selten gehört werden. Die fremde Perikopenordnung erweitert das musikalische Repertoire, aus dem mein Kollege an der Orgel, Tobias Willi, schöpfen kann.
Wenn unsere Kirche noch zu retten ist,
dann müssen wir den patriarchalen Ballast leichter machen.
Für mich ist die Psalmen-Vielfalt nicht immer einfach. «Dient dem HERRN mit Furcht, und mit Zittern küsst seine Füsse…» (Ps 2,11) Können wir solche Worte in unserer Zeit wirklich noch beten? Ich muss gestehen: Es stimmt nicht ganz, dass ich mich der Tradition überlasse. In der Vorbereitung auf die Vesper kontrolliere ich sehr wohl, was genau ich zusammen mit der Gemeinde lesen werde. Ich wähle die Übersetzung. Ich entscheide, ob wir aus der Bibel in gerechter Sprache lesen oder aus der Zürcher Bibel. Sollte ich mich für die Zürcher Bibel entscheiden, streiche ich den «HERRN» erbarmungslos weg und ersetze das Wort mit einem anderen. Meine anfänglichen Skrupel haben sich mit der Zeit fast ganz aufgelöst. Wenn unsere Kirche noch zu retten ist, dann müssen wir den patriarchalen Ballast leichter machen. Nach meiner Erfahrung ist das möglich. Sogar bei den Psalmen. Sogar bei Psalm 23. Die Ewige ist meine Hirtin. Es geht.
Es ist nämlich nicht nur so, dass die Psalmen uns tragen – wir tragen die Psalmen.
Schwieriger ist es mit anderen Passagen. Die poetisch-melancholische Klage an den Flüssen Babels endet bekanntlich mit Versen, die so grausam sind, dass sie in den Gesangbüchern regelmässig ausgelassen werden. «Wohl dem, der deine Kinder packt und am Felsen zerschmettert.» (Ps 137,9) Den Gottesdienstgemeinden sollen solche Bilder nicht zugemutet werden. Doch eine Vesper-Besucherin, die ich schätze, sagte uns Pfarrerinnen neulich: Nicht streichen! Traut euch! Wir schaffen das schon. Das Leben ist komplex. Gefühle des Zorns, der Wunsch nach Rache, sie gehören dazu. Doch ich trau mich nicht. Mit dem Bild von Kindern, die an die Wand geschmettert werden, will ich niemanden nach Hause schicken. Vielleicht will ich mich auch selbst vor solchen Bildern schützen. Und so ende ich bei Vers 6 und streiche – so wie viele vor mir – den Rest weg.
Vielleicht kürze ich auch den Psalmen zuliebe. Ich möchte, dass sie weiterwirken. Es ist nämlich nicht nur so, dass die Psalmen uns tragen. Wir tragen die Psalmen. Mit jeder gemeinsamen Psalmenlesung holen wir die uralten Texte in die Gegenwart, halten sie lebendig, kämpfen für ihr Überleben im 21. Jahrhundert. Wir überlassen uns der Tradition und gleichzeitig sorgt die Vesper-Gemeinde dafür, dass die Tradition nicht abbricht.
Die Stimmen der Gemeinde kommen mir entgegen wie ein Wunder
Nur dreissig Meter entfernt dröhnt Musik aus Lautsprecheranlagen. Wenn ich die Ohren spitze, höre ich den Beat vom Club nebenan. Doch wir haben unseren eigenen Beat. Die Stimmen der Gemeinde kommen mir entgegen wie ein Wunder und ich staune und bin dankbar, dass all diese Menschen die uralten Worte mit mir beten als sei es das Selbstverständlichste auf der Welt.
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PD Dr. Tania Oldenhage ist Pfarrerin der Reformierten Kirche Zürich und Privatdozentin für Neues Testament und seine Wirkungsgeschichte an der Theologischen Fakultät der Universität Basel.
Beitragsbild: Ursula Markus