Das Konzept der Sozialraumorientierung drängt die kirchlichen Akteure und Strukturen, sich auf einen definierten Raum einzulassen und dort Kirchenbildung voranzutreiben. Es geht darum, sich entschieden in den Streit und das Bemühen um eine bessere, gerechtere Gesellschaft einzumischen. Von Rainer Krockauer.
Das offene Jetzt im Kleinen
Ein belebtes Stadtviertel in einer Großstadt. Ein Platz als Knotenpunkt. Miet- und Eigentumswohnungen, eine angrenzende Kindertagesstätte, ein Café, Treffpunkt für viele. Das offene Jetzt im Kleinen: Dieser Platz ist Knotenpunkt für viele und vieles geworden. Denn das Stadtviertel hat sich rasant verändert, das Kirchengebäude ist auch geographisch an dessen Rand gerückt. Hier, um dieses umgrenzte Gebiet herum, kreuzen sich alle – hier trifft man die Menschen, die zum Einkaufen oder Arbeiten gehen, aber auch die Kirchgänger. Auch hier hängen Menschen herum oder sitzen bettelnd vor den angrenzenden Läden. Der Caritasverband hat in der Nähe des Platzes einen Stadtteilladen, in einem ehemaligen Klostergebäude, eingerichtet. Der Pfarreienverbund ist dort mit einigen Aktiven und Angeboten vertreten.
Diakonische Pastoral – ein Relikt?
Die Fachdebatte über eine Diakonische Pastoral ist im Gange. Ist sie ein Relikt aus anderen, alten Zeiten? Vielleicht genügt ja ein pragmatisches Zweckbündnis zu jeweils situativ geforderter Kooperation in Sachen Diakonie ohne entsprechende theologisch motivierende Begleitmusik?
Es gibt vier Argumente, die eine andere Sicht nahelegen.
- Pastoralgeographie: In den Blick kommt der „spatial turn“ einer Kirche, die entschieden die Wahrheit auf dem Platz sucht, „die nicht mehr den umgebenden Raum auf sich bezieht, sondern sich auf den Raum.“ (Sellmann 2017, 77)
- Optionen reloaded: Neu in den Blick kommen die alten Optionen, z.B. die Option für die „Armen und Bedrängten aller Art“ (GS 1), gerade im Angesicht eines entfesselten globalen Kapitalismus und eines konkreten lokalen Gerechtigkeitsproblems.
- Ekklesiogenese: In den Blick kommen originäre und originelle Kirchenbildungsprozesse am Ort von Sozialprojekten und in Caritaseinrichtungen.
- Sozialraumorientierung: In den Blick kommen schließlich sozialarbeiterische Handlungskonzepte, die in der Praktischen Theologie neu rezipiert und für eine diakonische Kirchenentwicklung als bedeutsam erachtet werden.
Zwischen Selbstvergessenheit und Selbstbehauptung
Seit Jahrzehnten gibt es Anfragen an eine Sozialraumdiakonie. Wie weit geht letztendlich die Diakonie der Akteure? H.-J. Höhns wichtigem Impuls dazu ist nichts hinzuzufügen:
„Entscheidend für Christen ist nicht, dass sie den Unterschied zu anderen Akteuren, Gemeinschaften und Religionen in unserer Gesellschaft herausstellen. Entscheidend christlich ist es, für das einzustehen, was alle Menschen verbindet, eint und einander gleich macht. […] Christen haben zu bezeugen, dass jeder Unterschied zwischen Menschen umgriffen von einer je größeren Gemeinsamkeit [ist]. Es ist entscheidend für Christen, dass sie sich mit der Herausstellung dieses allen Menschen Gemeinsamen profilieren. […] Das neutestamentliche Bildwort vom ‚Licht der Welt‘ (Mt 5,13–16) macht dieses Andere des Christseins deutlich: Wer direkt in eine Lichtquelle schaut, wird entweder geblendet oder muss die Augen zukneifen – und sieht nichts! Erst wenn man eine Lichtquelle dazu nutzt, etwas auszuleuchten oder anzustrahlen, erfüllt sie einen wohltuenden Zweck. Ansonsten bleibt sie ein folgenloser Selbstzweck. Wenn Christen etwas ausstrahlen, dann rücken sie ihre Umwelt in ein anderes, besseres Licht. Sie machen das Beste an den anderen sichtbar – nicht an sich selbst!“ (Höhn 2010, 300, 307–308)
Es geht demnach bei Sozialraumorientierung und kooperativer Diakonie nicht um Selbstvergessenheit, es geht nicht um Selbstbehauptung, es geht vielmehr darum, selbstbewusst sich selbst zurückzunehmen, damit das Beste an und in anderen sichtbar werden kann.
Notwendige Haltungen
Welche Haltung braucht es dazu? Notwendig ist aufrichtiges Interesse am Menschen, an den Anderen, auch an den Interessen anderer, aber auch ein reflektiertes Eigeninteresse. Wir erinnern uns: Als die Arbeiterpriester in der 40er Jahren in die Sozialräume der Fabriken aufbrachen, sahen sie sich zunächst noch „als ‚Fallschirmspringer’ Gottes, die hinter den ‚feindlichen’ Linien landen, um die weitgehend entkirchlichte Arbeiterwelt von innen heraus zu bekehren“. Im direkten Kontakt „mit dieser zunächst fremden Welt“ kam es schon bald „zu einem radikalen Bewusstseinswandel: ‚Wir sind mit einer klaren Vorstellung von dem losgezogen, was wir der Welt zu bringen hätten, und haben entdeckt, dass wir Zuspät-Gekommene waren, die alles erst lernen mussten.’“ (Bauer 2008, 124f.) Bauer resümiert ihren so artikulierten Erkenntnisgewinn: „Nicht sie bekehrten die Arbeiter zur Kirche, sondern diese bekehrten sie zum Evangelium.“ (Ebd.)
Sozialraumorientierung verträgt sich nicht mit „missionarischer“ Pastoral im oft missverstandenen Sinne eines andere Überzeugen-Müssens. Es gilt vielmehr: Die Mission im Sozialraum ist die Diakonie. Und diese setzt die beschriebene Haltung der selbstbewussten Selbstvergesslichkeit voraus, und hat vor allem einen Perspektivenwechsel in der Glaubensweitergabe zur Folge: Das Evangelium ist dort im weltlichen Raum wichtiger und gefragter denn je.
Rede nur dann von deinem Glauben, wenn du gefragt wirst – aber lebe so, dass man dich fragt
Entscheidend wird die Art bzw. der Stil der Vermittlung sein. Und wieder könnte das Motto der ersten Arbeiterpriester helfen, das da lautete: „Rede nur dann von deinem Glauben, wenn du gefragt wirst – aber lebe so, dass man dich fragt.“ Sozialraumorientierung verlangt eine zunächst schlichte Präsenz, achtsames Dabeisein, aufmerksames Zuhören, aber dann, wenn man gefragt wird, ist der Raum offen, das Eigene zur Sprache zu bringen. Und das ist dann auch gefragt.
Sich für andere zu interessieren, bleibt nicht ohne Folgen, denn das Interesse drängt zum Engagement, konkret dazu, die Mutlosen zu stärken und die Kleinen groß sein zu lassen. Andere zu ermächtigen, setzt das Selbstbewusstsein eines „Befähigers“ voraus. Das ist nicht nur eine Grundtugend postheroischen Managements (D. Baecker), sondern auch einer postheroischen Diakonie (M. Schüßler).
Zu dieser Ermächtigung gehört nicht nur die Konzentration auf Selbsthilfe- und Selbstorganisationspotentiale, sondern auch auf die darin wirkenden Charismen. Diese zu fördern ist bekanntlich nicht nur eine Kunst, sondern die höchste Form von Professionalität, aber letztlich ist es auch eine Gabe des Geistes selbst, wenn diese Potentiale und Charismen zum Vorschein kommen.
Auf der Straße
1999 hinterließ Rolf Zerfaß die weise Voraussicht: „Wir werden fähig, von einer Pastoral der Eroberung Abstand zu nehmen zugunsten einer Pastoral der Präsenz unter den Anderen, besonders den Armen.“ (Zerfaß 1999, 175) Zwanzig Jahre später hat die Pastoral darin Lernerfahrungen gesammelt. Man sollte sie sammeln und auswerten. Denn, so Madeleine Delbrêl: „Wir anderen, wir Leute von der Straße, glauben aus aller Kraft, dass diese Straße, dass diese Welt, auf die uns Gott gesetzt hat, für uns der Ort unserer Heiligkeit ist.“ (zit. nach Boehme 2004, 58)
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Rainer Krockauer ist Professor für Theologie (insbesondere Anthropologie und Ethik) im Fachbereich Sozialwesen der Katholischen Hochschule NRW, Abteilung Aachen.
Literaturhinweise:
- Bauer, Christian (2008): Gott im Milieu, in: Diakonia, Jg. 39, H. 2, 123-129.
- Boehme, Katja (2004): Madeleine Delbrêl. Die andere Heilige, Freiburg i.Br.
- Höhn, Hans-Joachim (2010): Soziale Diakonie – kulturelle Diakonie. Vom entscheidend Christlichen, in: Pastoralblatt, H. 10, 300–308.
- Krockauer, Rainer (2016): Diakonische Pastoral 3.0, in: www.feinschwarz.net (11.11.2016).
- Sellmann, Matthias (2017): „Für eine Kirche, die Platz macht!“ Notizen zum Programm einer raumgebenden Pastoral, in: Diakonia, Jg. 48, H. 2, 74-82.
- Zerfaß, Rolf (1999): Volk Gottes unterwegs, unter den Völkern, in: Haslinger, Herbert u.a. (Hg): Handbuch Praktische Theologie. Bd. 1. Grundlegungen, Mainz, 167-178.