Un- und unterbezahlte Care-Arbeit rückt allmählich in den Fokus der Wirtschaftswissenschaften. Ina Praetorius über den Weg in eine Care-zentrierte Politik und Theologie.
Täusche ich mich, oder weiss inzwischen eine kritische Masse von Menschen, dass es sich bei der un- und unterbezahlten Care-Arbeit um den grössten Wirtschaftssektor handelt? Zu Beginn der Corona-Pandemie jedenfalls, im Januar 2020, kurz vor der Eröffnung des Weltwirtschaftsforums in Davos, hat die Entwicklungsorganisation Oxfam die Weltöffentlichkeit wieder einmal mit Zahlen erschreckt:
«Weltweit leisten Frauen und Mädchen täglich weit über 12 Milliarden Stunden Haus-, Pflege- und Fürsorgearbeit – unbezahlt. Würde man ihnen auch nur einen Mindestlohn für diese Arbeit zahlen, wären das umgerechnet über 11 Billionen US-Dollar pro Jahr.»
Feministische Care-Aktivist*innen sehen sich durch die Oxfam-Studien in ihrem jahrzehntelangen Engagement bestätigt. Sie hatten in den 1990er Jahren erreicht, dass statistische Ämter anfingen, die unbezahlte Arbeit zu erfassen. So liess zum Beispiel am 5. Dezember 2022 das Statistische Bundesamt der Schweiz verlauten, im Jahr 2020 seien 9,8 Milliarden Stunden unbezahlt gearbeitet worden, zu 60,5 Prozent von Frauen, aber nur 7,6 Milliarden Stunden bezahlt.
verzerrte Wahrnehmung der gesellschaftlichen Wertschöpfung
Ökonom*innen sprechen inzwischen von einem «vierten Sektor» der «Sorge- und Versorgungswirtschaft»[1] und kritisieren, dass der unbezahlte Teil dieses Sektors nur in «Satellitenkonten Haushaltsproduktion», nicht als Teil des Bruttoinlandsprodukts erfasst wird. So werde aufgrund einer verzerrten Wahrnehmung der gesellschaftlichen Wertschöpfung eine Politik legitimiert, die ganze Bevölkerungsgruppen verarmen lässt und Wohlstand systematisch zugunsten derer verschiebt, die schon zu viel besitzen. Kürzlich haben Nancy Fraser und Anna Saave[2] in detaillierten Studien die dualistische Ideologie freigelegt, die es erlaubt, unbezahlte Arbeit – und in vergleichbarer Logik auch Naturprozesse, kolonialisierte Weltregionen und demokratische Institutionen – ökonomisch als Nichts erscheinen zu lassen.
Wie wollen wir als Gesellschaft langfristig mit solchen Missständen umgehen?
Doppelbewegung
Manchmal frage ich Wirtschaftsjournalist*innen, wie sie es mit der öffentlichen Thematisierung der verschwiegenen Basis-Leistungen halten. Einer meinte kürzlich, das Thema stehe auf seiner Prioritätenliste ganz unten, denn da sei doch ausser Gejammer nicht viel zu holen.
Thematisierung der verschwiegenen Basis-Leistungen
Einerseits trifft der Mann einen wunden Punkt, denn tatsächlich befinden sich Teile auch der informierten Öffentlichkeit noch im Empörungsmodus: Man weiss um den Skandal der nicht als «Wirtschaft» anerkannten Grundlagen, hat aber noch nicht ins systematische Nachdenken darüber gefunden. Der Journalist lässt aber auch Ignoranz erkennen, denn es gibt längst Initiativen, die sich auf den Weg in eine Care-zentrierte Neuausrichtung der Ökonomie gemacht haben:[3] Schon in den 1980er Jahren wurden im Rahmen der «Hausarbeitsdebatte» und der damals entstehenden feministischen Ökonomik Zusammenhänge zwischen Geldwirtschaft und «hausfrauisierten»[4] Sphären erforscht.
noch nicht ins systematische Nachdenken darüber gefunden
Im Jahr 2007 erschien das bahnbrechende Werk «The Real Wealth of Nations» der US-amerikanischen Kulturtheoretikerin Riane Eisler.[5] Inzwischen diagnostiziert die Soziologin Brigitte Aulenbacher unsere Gegenwart so:
«Ich wage die These, dass wir gegenwärtig eine grosse Transformation des Sorgens beobachten können, in der gesellschaftliche Sorgezuständigkeiten im Sinne einer Polanyi’schen ‘Doppelbewegung’ neu geordnet werden. Im Zuge wirtschaftsliberaler ‘Bewegungen’ werden Sorge und Sorgearbeit einerseits verstärkt … zur Ware gemacht… Sorgenotstände … haben andererseits gesellschaftliche ‘Gegenbewegungen’ hervorgerufen…»[6]
Gesucht: eine Care-zentrierte transdisziplinäre Theorie
Teil dieser Transformation ist die Suche nach einer kohärenten postpatriarchalen Theorie: Forschungsverbünde – im deutschsprachigen Raum vor allem ForGenderCare in Bayern (2015 bis 2019) und Sorgetransformationen in Hamburg (2020 bis 2023) – haben angefangen, Sorgearbeit aus vielfältigen Perspektiven auszuleuchten. In die Wirtschaftswissenschaft, die lange eine Männerbastion war, kommt Bewegung, nicht zuletzt dadurch, dass sie zum Betätigungsfeld kluger Frauen[7] geworden ist: Die US-Amerikanerin Mariana Mazzucato etwa wirbt für ein Konzept der kollektiven Wertschöpfung;[8] die Britin Kate Raworth kritisiert das stereotype Bild der auf- und absteigenden Kurven für ökonomische Prozesse und ersetzt es durch das Bild des «Donut», das planetare Grenzen gleichzeitig mit sozialem Wohlergehen abbildet.[9] Die Denkwerkstatt WiC (Wirtschaft ist Care) hat begonnen, Care neu als Kriterium für alles Wirtschaften zu verstehen: Sie anerkennt, dass reale Sorgepraxen nicht per se gut sind. Oft werden sie erzwungen, sind fragwürdigen, etwa paternalistischen oder maternalistischen Traditionen verhaftet oder übertrieben aufwändig.[10] Sie müssen daher, wie der gewinnorientierte Teil der Wirtschaft, zum Gegenstand einer Kritik werden, die sich an einem zu entwickelnden ethischen Kriterium Care orientiert.[11]
Care neu als Kriterium für alles Wirtschaften verstehen.
In diesem Sinne berichtet das von Riane Eisler gegründete Interdisciplinary Journal of Partnership Studies von Workshops, in denen Care-Tätige ihre Praxis untersuchen auf die Frage hin, inwiefern sie allgemeine Prinzipien guten Handelns (nicht) realisiert. Ziel einer Care-zentrierten Politik und Ethik ist nicht einfach eine «Aufwertung» oder «Wertschätzung» bestehender Sorgepraxen und die Integration marginalisierter Sektoren in ein unverändert profitgetriebenes System. Vielmehr geht es darum, die ganze Oiko-Nomia zu ihrem Kerngeschäft, der Befriedigung der Bedürfnisse aller Menschen im begrenzten Lebensraum Erde, zurückzuführen.[12]
Der mögliche Beitrag der Religionen
Religionen und Kirchen haben Substantielles zur Transformation beizutragen. Denn es sind die Frommen jeglicher Zugehörigkeit, die nie bestritten haben, dass alle Menschen vom ersten bis zum letzten Tag ihres Lebens fürsorgeabhängig und keineswegs die beziehungslosen Nutzenmaximierer sind, als die sie von der Leitwissenschaft Ökonomie noch immer modelliert werden.[13] Zwar haben die patriarchal geprägten Monotheismen menschliche Abhängigkeit meist nicht als Angewiesenheit auf die natürliche Mitwelt und aufeinander, sondern als Unterwerfung unter einen unsichtbaren himmlischen Autokraten konzipiert. Exegetische und kulturhistorische Forschungen haben aber inzwischen gezeigt, dass die biblische Tradition weitaus vielfältiger ist als die patriarchale Ideologie, die man ihr übergestülpt hat. Sie bietet reichlich Anknüpfungspunkte für ein zukunftsfähiges Nachdenken darüber, wie die Menschheit sich so verstehen kann, dass sie die Erde nicht zerstört, sondern zu einem wohnlichen Ort des sorgenden und sorgfältigen Zusammenlebens gestaltet.[14]
reichlich Anknüpfungspunkte für ein zukunftsfähiges Nachdenken
Vorarbeiten für eine Care-zentrierte politische Theologie sind da: Christine Globig arbeitet an den biblischen Grundlagen einer Sorgeethik,[15] Bernhard Emunds an einer postpatriarchalen Aktualisierung der katholischen Soziallehre.[16] WiC schlug mit der Idee «Karwoche ist Carewoche» schon im Jahr 2016 vor, die etymologische Verwandtschaft der Vorsilbe Kar- mit dem englischen Care für eine erneuerte Passions- und Ostertheologie zu nutzen. Und die Siebte Schweizer Frauen*synode hat in den Jahren 2017 bis 2021 der Care-Zentrierung einen intensiven öffentlichen Denkprozess gewidmet, an den sich anknüpfen lässt.
Ina Praetorius, *1956, Dr. theol., freischaffende Autorin
Neueste Publikation:
Ina Praetorius, Uta Meier-Gräwe (2023), Um-Care. Wie Sorgearbeit die Wirtschaft revolutioniert, Ostfildern (Patmos)
Porträtfoto: Katja Nideröst
Beitragsbild: Postkarte Karwoche ist Carewoche
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[1] Mascha Madörin (2019), Zählen, was zählt. Sorge- und Versorgungswirtschaft als Teil der Gesamtwirtschaft, in: Ulrike Knobloch, Ökonomie des Versorgens. Feministisch-kritische Wirtschaftstheorien im deutschsprachigen Raum, Weinheim und Basel (Beltz Juventa), 89-119.
[2] Nancy Fraser (2023), Der Allesfresser. Wie der Kapitalismus seine eigenen Grundlagen verschlingt, Frankfurt a.M. (Suhrkamp); Anna Saave (2022), Einverleiben und Externalisieren. Zur Innen-Aussen-Beziehung der kapitalistischen Produktionsweise, Bielefeld (transcript).
[3] Uta Meier-Gräwe, Ina Praetorius, Feline Tecklenburg Hgg (2023), Wirtschaft neu ausrichten. Care-Initiativen in Deutschland, Österreich und der Schweiz, Opladen, Berlin, Toronto (Barbara Budrich).
[4] Vgl. dazu Claudia v. Werlhof, Maria Mies, Veronika Bennholdt-Thomsen (1983), Frauen, die letzte Kolonie, Reinbek (Rowohlt).
[5] Riane Eisler (2007), The Real Wealth of Nations. Creating a Caring Economics, San Francisco (Berrett-Koehler); deutsch: Riane Eisler (2020), Die verkannten Grundlagen der Ökonomie. Wege zu einer Caring Economy, Marburg (Büchner).
[6] Brigitte Aulenbacher, Uta Meier-Gräwe (2023), Der Markt wird’s (nicht) regeln: Live-in Betreuung, die Neuordnung des Sorgens und öffentliche Soziologie, in: Uta Meier-Gräwe u.a. Hgg (vgl. Anm. 3), 277-287, hier: 278.
[7] Avivah Wittenberg-Cox, 5 Economists Redefining… Everything. Oh Yes, And They’re Women, in: Forbes May 31, 2020.
[8] Mariana Mazzucato (2018), Wie kommt der Wert in die Welt. Von Schöpfern und Abschöpfern, Frankfurt/New York (Campus).
[9] Kate Raworth (2018), Die Donut-Ökonomie. Endlich ein Wirtschaftsmodell, das den Planeten nicht zerstört, München (Hanser).
[10] Vgl. dazu Uta Meier-Gräwe, Oh, Du Fröhliche! Weihnachten und noch mehr unbezahlte Care-Arbeit, in: Oxi vom 21.12.2023.
[11] Caroline Krüger, Care – ein Kriterium nicht nur in der Krise, in: beziehungsweise-weiterdenken vom 26.06.2020.
[12] Oriana Beaudet, Planting Seeds of Innovation: A Quality Improvement Project to Advance Nursing Innovation, in: Interdisciplinary Journal of Partnership Studies 2023/2.
[13] Vgl. dazu Ina Praetorius, Religiös sein: Abhängigkeiten kultivieren, in: feinschwarz.net vom 19. Februar 2016.
[14] Ina Praetorius (2023), Let’s send homo oeconomicus to a postpatriarchal liturgy, in: Stefan Münger u.a. Hgg., Trinkt von dem Wein, den ich mischte. Festschrift für Silvia Schroer zum 65. Geburtstag, Leuven – Paris – Bristol (Peeters), 381-391.
[15] Christine Globig (2021), Realitäten der Abhängigkeit. Fürsorge als ethisches Paradigma, Baden-Baden (Nomos)
[16] Bernhard Emunds (2022), Von der gesellschaftlichen Ermöglichung der Geldwirtschaft. Solidaristische Impulse für die Wirtschaftsethik, in: Jahrbuch für Christliche Sozialwissenschaften 63, 25-51