Am Sonntag erhalten die Kulturwissenschaftler Jan und Aleida Assman in Frankfurt den angesehenen Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Die theologische Bedeutung beider Preisträger verortet Joachim Valentin.
Es ist eine ungewöhnliche Friedenspreisverleihung. Der mit 25.000 Euro dotierte Preis des Börsenvereins des deutschen Buchhandels, erstmals verliehen im Nachkriegsjahr 1950, ist durch den Rang und die Würde seiner Preisträger*innen und also die Weisheit seines „Stiftungsrates“ zum heimlichen deutschen Nobelpreis mit hoher internationaler Publizität geworden, nicht nur für literarische, sondern auch gesellschaftliche Verdienste. Wenn am 14. Oktober also zum zweiten Mal ein Ehepaar diesen Preis erhält, die Konstanzer Anglistin Aleida und der Heidelberger Ägyptologe Jan Assmann, so stehen sie in einer bisher 68 gliedrigen Reihe mit Romano Guardini, Paul Tillich, Martin Buber, Astrid Lindgren, Susan Sonntag, Janusz Korczak, Jürgen Habermas und Navid Kermani.
Beide sind relevant für die Theologie…
Geehrt werden ein Denker und eine Denkerin, die beide für die Theologie hochrelevante Werke vorgelegt haben. Damit stehen sie in der Reihe der Friedenspreisträger nicht alleine. Und doch haben beide als Philologen am Kernbestand unserer Identität als Gläubige einer Religion mit jüdischen Wurzeln in besonders bedenkenswerter Weise gearbeitet und theologisch wie gesellschaftlich hoch wirksame Überlegungen zur Kultur von Gedächtnis und kollektiver Erinnerung entwickelt.
Einiges ist noch nicht ausreichend gewürdigt und rezipiert.
Bemerkenswert ist vor allem, mit welcher Freiheit und Kreativität dieses Paar alle Fächergrenzen überwindend über Jahrzehnte gemeinsam geforscht, publiziert und sich wechselseitig inspiriert hat. Hier ist vor allem die gemeinsam herausgegebene, inzwischen elfteilige Reihe Archäologie der literarischen Kommunikation zu nennen, in der unter anderem die für die Theologie hochrelevanten Begriffe Schweigen, Geheimnis, Öffentlichkeit, Neugierde, Einsamkeit, Grammatologie und Vollkommenheit beforscht wurden – hier steht meines Wissens das theologische Echo noch aus.
„Kulturelles Gedächtnis“ und „mosaische Unterscheidung“
Einen deutlicheren Widerhall war den beiden keywords beschieden, die allerspätestens jetzt fallen müssen. Sie heißen „kulturelles (bzw. kollektives) Gedächtnis“ und „mosaische Unterscheidung“ und sind für viele eher mit dem Namen Jan Assmann verknüpft. Das zweite Schlagwort hat allerdings nicht nur unter christlichen Theolog*innen heftige Debatten und Abwehrreaktionen ausgelöst. Noch jüngst hat der Orientalist Navid Kermani Jan Assmann bei einer öffentlichen Diskussion an der Frankfurter Goethe-Universität deshalb Ungenauigkeit und Einseitigkeit vorgeworfen.
Eine starke These, zu lasten von historischer Genauigkeit?
Auch Jan-Heiner Tück, Erich Zenger, Rolf Rendtdorff und andere haben Jan Assmann in seiner zentralen These widersprochen, der historische Wechsel vom Polytheismus zum Monotheismus, der in der Theologie aller Offenbarungsreligionen gemeinhin als evolutionären Fortschritt, ja Quantensprung gefeiert wird, sei – in den Spuren Friedrich Nietzsches und Sigmund Freuds – einer scharfen Kritik zu unterziehen: Der Polytheismus römischer, griechischer und vor allem ägyptischer Prägung sei weit toleranter und damit friedfertiger gewesen als die von Echnaton und Mose „erfundene“ monotheistische Religion (also das Judentum – der Vorwurf des Antijudaismus gegen Jan Assmann folgte auf den Fuß).
Ist der Monotheismus wirklich der Grund allen Übels?
Diese habe die bis dahin unübliche (eben mosaische) Unterscheidung zwischen „wahr“ und „falsch“ in die Religion eingeführt, damit die Verfolgung alles „Häretischen“ und Andersreligiösen. Ja selbst die Erfindung des Mordes aus Gründen der Religion, also auch das aktuelle mörderische Märtyrertum gehe voll auf die Rechnung des Mose und seiner Nachfolger.
Eine späte Kehrtwende in: Exodus. Die Revolution der Alten Welt
Diese bei Assmann scheinbar belegte und lange notorisch wiederholte These ist ungeheuer wirkmächtig und bis heute in nahezu jeder religionspolitischen Debatte unheilvoll präsent. Dabei greift sie tatsächlich zu kurz, weil sie in ihrem Kern die Friedfertigkeit des Polytheismus sträflich über- und die des Monotheismus unterschätzt. Da hilft es wenig, dass Assmann für sein ebenso monumentales wie genau gearbeitetes jüngstes Werk Exodus. Die Revolution der Alten Welt (2015) die Bibel und wesentliche Literatur zu ihr (nach eigener mündlicher Auskunft) endlich tatsächlich gelesen hat, freilich um nun zu einem völlig anderen Ergebnis zu kommen: Am Sinai entstehe „Religion als eine auf Offenbarung gegründete, gegen das Gegebene und Gewachsene durchzusetzende Wahrheit und Verpflichtung, die sich nicht – wie bis dahin üblich – auf Kult, den Umgang mit dem Heiligen, beschränkt, sondern sich auf alles […] erstreckt. Religion wird nun von der Kultur unterscheidbar und ihr als kritische Instanz gegenübergestellt.“ (402)
Das „kulturelle Gedächtnis“ als Gemeinschaftswerk des Paares
Freundlicheres ist für die theologische Bewertung und Relevanz des von beiden Geehrten gemeinsam entwickelten, aber zunächst nur unter seinem Namen bekannt gewordenen Denkmodell eines kulturellen Gedächtnisses (J. Assmann, 1997) zu sagen. Aber das Buch ist nicht nur seiner Frau als der besseren Handwerkerin (la miglior fabbra) gewidmet. Neben den vielfältigen oben schon erwähnten Querbezügen wird sie auch dutzendmale an entscheidenden Stellen zitiert und als Miturheberin genannt. Mit ihrer kurz darauf erschienenen Habilitationsschrift Erinnerungsräume: Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses (1999), die leider weniger wahrgenommen wurde und bis vor kurzem vergriffen war, hat sie ihren Anspruch auf den Begriff zurückerobert.
Seine Frau ist die bessere Handwerkerin – er weiß das.
Doch worum geht es? Beim historischen Übergang der Tradierung zentraler Inhalte von Mündlichkeit zur Schriftlichkeit, also etwa zwischen Homer und
Herodot bzw. in der Zeit des babylonischen Exils, geschieht ein wesentlicher Medienwechsel. Schrift hat andere Eigenschaften als die orale und rituelle Überlieferung, und während sie lange vor allem als Kommunikationsmedium zwischen räumlich oder zeitlich weit entfernten Partnern verstanden wurde, arbeiten die beiden Literaturwissenschaftler im Anschluss an die Forschungen von Maurice Halbwachs und Jurij Lotmann ein Modell der Tradition aus, das die Technik der Verschriftlichung als zentralen kulturhistorischen und -politischen Prozess sichtbar werden lässt.
Tradition: angewiesen auf Techniken der Verschriftlichung
Diese Überlegungen sind bis heute existentiell, wenn es gilt, über öffentliche Erinnerungskulturen etwa der Shoah oder der deutschen Wiedervereinigung, aber auch religiöse Großthemen und -ereignisse zu reflektieren. „Erst [mit der Schrift] bildet sich ein Gedächtnis aus, das mehr oder weniger weit über den Horizont des in einer jeweiligen Epoche tradierten und kommunizierten Sinns hinausgeht […] Das kulturelle Gedächtnis speist Tradition und Kommunikation, aber es geht nicht darin auf. […E]s gibt Einbrüche aus dem Jenseits des jeweils aktualisierten Sinns, Rückgriffe auf Vergessenes, Repristinationen von Tradition, Wiederkehr des Verdrängten […] Den positiven neuen Formen der Retention und des Rückgriffs über die Jahrtausende hinweg entsprechen die negativen Formen eines Vergessens durch Auslagerung und eines Verdrängens durch Manipulation, Zensur, Vernichtung, Umschreibung und Ersetzung.“ (23)
Die Arbeiten zur Erinnerung sind bahnbrechend – auch für die politische Identität der Bürgerinnen und Bürger.
Jan Assmann hat diese grundstürzenden Überlegungen in seinem für Theolog*innen bis heute lesenswerten Sammelband Religion und kulturelles Gedächtnis (2000) konkretisiert; Aleida hat sie (wie er für die Ägyptologie) für die Anglistik fruchtbar gemacht. Entscheidend für hochaktuelle Debatten über deutsche Erinnerungskultur ist aber ihre grundlegende und in der umfassenden Analyse verschiedener deutscher Erinnerungskulturen bahnbrechende Arbeit Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik (2006), sowie neuerdings: Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur: Eine Intervention (2016).
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Dr. theol.habil. Joachim Valentin, Direktor des katholischen Kultur- und Bildungszentrums Haus am Dom (katholische Akademie) und apl. Professor für christliche Religions- und Kulturtheorie an der Goethe Universität Frankfurt a.M.
Fotos: terramara / pixelio.de (oben) – Amélie Losier / BDB (Mitte)