Christlicher Glaube als Sondermoral? Nein, meint Erny Gillen. Es kommt auf das richtige Mischungsverhältnis zwischen religiösem Glauben und ethischer Normativität an.
Der heutige Dalai Lama bringt ein einprägsames Gleichnis ins Gespräch, um das Verhältnis von Moral und Religion zu beschreiben. Sie verhalten sich wie Tee und Wasser zueinander. Das Wasser stehe für Moral oder Ethik, der Tee hingegen für den spezifischen Geschmack.
Glaube und Moral – wie Tee und Wasser
Nicht dieser Geschmack soll im Vordergrund einer nötigen gemeinsamen Moral für die Welt von heute stehen, sondern das dafür notwendige saubere und gute Wasser. Dieses macht die Qualität des Tees ebenso aus, wie der Geschmack, den ich persönlich bevorzuge.
Quellen der Moral
Das Bild bringt etwas auf den Punkt, worüber in der Theologie seit langer Zeit diskutiert und auch gestritten wird. Was sind die Quellen christlicher Moral? Der Glaube oder die Vernunft? Im Spiegel der unterschiedlichen Antworten auf diese Frage entstanden verschiedene Ansätze, je nachdem auf wen hin die entwickelte Moral dargestellt wurde. Nach Außen hin wird die Vernunft als Bauprinzip der Moral hochgehalten, das saubere Wasser also. Nach Innen, in die Religionsgemeinschaft hinein, wird der spezifische Geschmack betont, der Tee, der die Besonderheit ausmacht.
In unserer offenen Welt wird es immer schwieriger “interne” und “externe” Kommunikation auseinanderzuhalten. Manche sagen: was intern kommuniziert wird, ist in der Twitter-Zeit schon Minuten später auch extern kommuniziert. Und im Umkehrschluss wissen wir ebenfalls, dass die externe Kommunikation immer auch interne Kommunikation ist. Hilft das Tee-Gleichnis über die internen und externen Kommunikationshürden hinweg? Ja, weil es deutlich macht, dass wir sowohl Wasser als auch Teeblätter brauchen, um den moralischen Mix für heute hinzubekommen.
Wir brauchen einen neuen moralischen Mix für die anstehenden Durststrecken und wir brauchen genießbare Moral.
In jeder nützlichen, oder bildhaft gesprochen, genießbaren Moral vermischen sich das Wasser und der Tee zu einem Ganzen. Selbstverständlich kann ein Wissenschaftler die entstandene Mischung chemisch wieder trennen. Und genauso können Ethiker das Gebräu der Moralschaffenden wieder in seine Bestandteile zerlegen und diese gesondert betrachten. Um diese analytischen Fähigkeiten geht es zur Zeit aber nicht so sehr. Nicht die Analyse der handelsüblichen Teesorten bringt uns voran, sondern eher die Kreation neuer Mischungen für die sich ankündigenden moralischen Durststrecken. Die bekannten Mischungen reichen offensichtlich nicht aus, um das gemeinsame Tee-Haus der Menschheit für die nächsten Generationen in Frieden und Gerechtigkeit zu erhalten und zu gestalten.
„Laudato si“ als neuer Weg moralischer Orientierungssuche
Papst Franziskus hat das Dilemma und die Sorge um unser gemeinsames Zuhause in seiner Enzyklika “Laudato si’” für Christinnen und Christen, ja, für alle Menschen auf einen ähnlichen Punkt gebracht. Es geht bei der Armuts- und Gerechtigkeitsfrage ebenso wie beim Erarbeiten einer sinnvollen Umweltethik um globale Herausforderungen, die nicht effizient von einzelnen Menschen, Organisationen, Staaten und Religionsgemeinschaften gelöst werden können.
Deshalb ruft Papst Franziskus zum problemorientierten Dialog auf, an dem er aktiv und öffentlich mit seinem Tee teilnimmt. Er lädt nicht zu sich nach Hause ein. Er lädt vielmehr die Weltgemeinschaft ein, selbst einladend zu sein und auf alle zu hören, die einen Beitrag leisten können und wollen. So werden die Vereinten Nationen trotz ihrer Versagen und Schwächen zum Forum für gemeinsame moralische Fragen erklärt. Nicht an ihrem Fehlen sollen sie gemessen werden, sondern an ihrem Potential.
Keine Religion dieser Welt, kein Staat dieser Welt können den Anspruch erheben, das adäquate Zukunftsforum für unsere Welt zu sein. Es geht nur gemeinsam und in geteilter Leadership.
Moralische Leadership, das ist vor allem: einen offenen Dialog führen wollen.
Leadership in komplexen moralische Fragen zeichnet sich durch gute und sachdienliche Beiträge aus, die das Problem vor Augen haben und dem Willen entspringen, es gemeinsam zu lösen. Um im Bild zu bleiben: Es geht darum, eine Teemischung zu kreieren, die lindernd und heilend auf die erkannten Leiden wirkt. Und für diese Mischung braucht es den offenen und problemzentrierten Dialog. Bei diesem sind die Beiträge der verschiedenen Wissenschaftler genauso entscheidend, wie die Beiträge aus den unterschiedlichen Kulturen und Religionen. Die Staatengemeinschaften, die für das Wohl ihrer Bürger und Bürgerinnen stehen, sind gefordert, diesen Dialog zu orchestrieren und sich selber hilfreich einzubringen.
… eine Teemischung zu kreieren, die lindernd und heilend wirkt.
Das COP2 1 hat gezeigt, dass es geht – auch dank des Leaderships eines Papst Franziskus, der dem Schrei der Armen und der Schöpfung seine Stimme verliehen hat. Er hat das “Problem” so wirkmächtig ins Zentrum gestellt, dass dieses angesichts der vielen anderen Interessen nicht mehr übersehen werden konnte. Und der öffentliche Erwartungsdruck war gross genug, um die mächtigen Wasserkocher bei der Stange zu halten.
Die Methode, moralische Fragen nicht von vorgefassten Ideen her, sondern von der Wirklichkeit her anzugehen, gehört zu den wissenschaftstheoretischen Prinzipien dieses Papstes. Er hat sie in „Evangelii gaudium“ beschrieben und in „Laudatio si“ angewendet.
Moralisch sein bedeutet: Geschichte prägen und gestalten
Moral ist die Kraft und Freiheit des Menschen, Einfluss auf den Lauf seiner Geschichte zu nehmen. Seine Einwirkung auf die Wirklichkeit hat verändernde Kraft, schafft Neues und hat Folgen. Die wichtigste Erkenntnis für unsere Zeit dürfte sein, dass der Mensch so oder so moralisch aktiv ist. Dort, wo er scheinbar nichts tut, also so weiterlebt wie bisher, zieht er genauso seine moralische Spur, wie dort, wo er diese neu orientiert und bewusst anders verlegt. Dort, wo Menschen handeln und sich in ihrer Freiheit und Verantwortung ernst nehmen, gibt es keinen moralfreien Raum.
Ein Nein ist nicht das Ende, sondern der Anfang…
Jedes Kind lernt, was viele Erwachsene leidvoll unterdrücken, nämlich das Nein-Sagen. Mit seinem Nein formt es seinen Willen und seine Moralfähigkeit. Die stärksten moralischen Normen sind “Du-sollst-nicht“-Sätze. Zwischen diesen grossen Nein-Sätzen eröffnen sich weite Felder für die Spiele des Lebens. Das Nein ist nicht das Ende, sondern der Anfang für den in ihm bejahten Wert. Wer etwa Nein zum Töten sagt, spricht sich indirekt für den Wert des Lebens aus. Wer sich gegen die Zerstörung unserer Umwelt ausspricht, sagt ja zur Schöpfung.Und hier beginnt dann erst das Teeexperiment.
Ein hausgemachtes Getränk mit den Zugaben von Mutter Erde
Der heutige Papst hat Nein zu den von ihm (nicht nur in Rom) diagnostizierten Kurienkrankheiten gesagt, er hat Nein zu einer menschenverachtenden und -vernichtenden Kultur gesagt und er hat sich gegen rein technische Lösungen ausgesprochen. Die Teeblätter, die er mitbringt, riechen nach der Freude für das Leben in sublimer Geschwisterlichkeit mit der gesamten Schöpfung. Alle Moralschaffenden sind eingeladen, mit frischem sauberem Wasser und ihren guten Kräutern zur Teeprobe zu kommen. In der Moralküche darf ausprobiert und getestet werden. Nicht jedem muss jeder Tee schmecken. Wichtig ist, dass nicht aufgegeben wird an Mischungen zu arbeiten, die den Durst nach einer guten Welt für alle stillen.
In der Moralküche darf ausprobiert und getestet werden. Nicht jedem muss jeder Tee schmecken.
Moral mit Wasser und im Dialog mit anderen für einen lindernden und heilenden Tee zu kochen, beginnt im Kleinen. Dass Moral auch mit Wasser gekocht wird, soll ermutigen, dieses Lebens- und Freiheitselixier immer wieder anzusetzen und zu kosten, als ein hausgemachtes Getränk mit den Zutaten von Mutter Erde. Der Durst kommt immer wieder und erinnert uns an unser überlebensnotwendiges Bedürfnis, diesen zu stillen, das heißt aktiv mit all unseren Kräften und Fähigkeiten teilzunehmen an der Schöpfung Gottes.
Erny Gillen ist freischaffender theologischer Ethiker, mit einem Schwerpunkt auf den Themen Ethik und Leadership. Letztes Jahr publizierte er einen offenen Brief an Papst Franziskus unter dem Titel “Wie ein Papst Kurienkrankheiten heilen kann”. Zuvor war er in theologischer Lehre und Forschung tätig sowie zuletzt als Generalvikar der Erzdiözese Luxemburg und in verschiedenen Funktionen des internationalen Caritas-Netzwerks.
Foto: www.hamburg-fotos-bilder.de / pixelio.de
- COP21: 6. Sustainable Innovation Forum, Paris ↩