Was unterscheidet uns von den anderen? Nicht unser Christsein, argumentiert Monika Heidkamp.
„Wie können wir die Menschen heute noch erreichen?“, „Wie kann Kirche für die Menschen wieder relevant werden?“, „Was müssen wir tun, damit sich die anderen wieder für uns interessieren?“
In kirchlichen Diskursen sind derartige Fragen hinlänglich bekannt. Dabei fällt oft und immer wieder ein ganz bestimmter Sprachstil auf: Ich meine die Rede von einem „Wir“ und von den „Anderen“. Das Wir, das meint nur manchmal ausschließlich kirchliche Amtsträger*innen; meist geht es bei dem „Wir“ um diejenigen Christ*innen, die in irgendeinem Feld von Kirche sozialisiert sind, die sich als Christ*innen verstehen, dem eine Bedeutung zumessen – also freiwillig Engagierte, Mitarbeitende im kirchlichen Dienst, Theolog*innen …
„Wir“ und die „Anderen“ – gibt es diese Trennlinie überhaupt?
Wenn danach gefragt wird, wie „wir“ die Menschen „noch“ erreichen können, geht es inhaltlich oft um pastorale Strategien, zeitgemäße Formen der Verkündigung, um den Versuch, den erlebten Relevanzverlust der Kirche zu stoppen. So weit, so gut – aber gibt es diese Trennlinie zwischen dem „Wir“ und den „Anderen“ überhaupt? Gibt es „uns“ und die „anderen“? Auch für beispielsweise pastorales Seelsorgepersonal gilt doch, dass es meistens auch Freundschaften, Bekannte, Hobbys außerhalb des kirchlichen Kontextes gibt, also Kontakte zu den klassischen „Anderen“…
Das Sprechen vom „Wir“ kann suggerieren, dass sich Christ*innen durch etwas auszeichnen, das andere nicht haben, das die einen fundamental von den anderen unterscheidet und so womöglich eine Verständigung gänzlich unmöglich machen könnte.
Haben Christ*innen andere Grundbedürfnisse, andere Lebensvollzüge als alle anderen?
Aber haben Christ*innen andere Grundbedürfnisse, andere Lebensvollzüge als alle anderen? Sind „wir“ nicht gerade in den tiefsten und banalsten Lebensvollzügen so wie alle anderen? Sollte es etwas geben, das „uns“ unterscheidet, was den Unterschied so groß macht, dass „wir“ von „uns“ reden im Gegensatz zu den „anderen“?
Mir scheint das Sprechen im „Wir“ nicht nur eine Sackgasse zu sein, sondern auch Teil des Problems. Denn es mag Lebenswelten geben, die einem fremd sind und bleiben; fremde Lebenswelten sind aber kein christliches Spezifikum. Man kann sich als Getaufte*r als von einer anderen Welt wähnen, jedoch sind die meisten Getauften in der Regel ziemlich weltlich unterwegs.
Identität durch Abgrenzung wird in Zukunft immer weniger funktionieren.
Die Grenzziehung ist daher eine Setzung, auf deren Basis sich christliche Identität in Abgrenzung konstruieren kann – gerade dann, wenn Identitätskonstruktionen fraglich werden. Immer seltener und immer weniger wird das allerdings in Zukunft funktionieren. Denn als Menschen einer pluralen Gesellschaft sind „wir“ schon immer mit verschiedenen Identitäten unterwegs.
Vielleicht ist der Ursprung dieser Unterscheidung auch in einem ekklesialen Selbstverständnis von Christ*innen zu suchen. Michael Seewald hat über die Entwicklung von Dogmen geschrieben, dass die Überlieferung der Kirche immer eine „Interpretationsleistung [ist], die von Menschen ausgeht“[1]. Er hebt hervor, dass in diesem Zuge gewichtet und unterschieden werde, „was an der Vielfalt kirchlicher Überlieferung normativ sein und damit geglaubt werden soll, und was nur von sekundärer oder überhaupt keiner Wichtigkeit ist.“[2]
Seewald verdeutlicht dies beispielhaft daran, wie bei den Zugangsvoraussetzung zum kirchlichen Amt gewichtet werde: dass nämlich die Männlichkeit Jesu besonders hervorgehoben werde, obwohl dies im Neuen Testament nicht reflektiert werde, der Zusammenhang zwischen Armut und Amt jedoch vernachlässigt werde.
Welche Gewichtungen prägen hintergründig pastorale Praxen?
Auch in der pastoralen Arbeit und Reflexion lassen sich Gewichtungen ausmachen. So liegt beispielsweise oft ein großes Gewicht auf einem Missionsverständnis, das sich darauf konzentriert, die Zahl der „aktiven“ Christ*innen zu vermehren. Wäre es hier möglich, sich anders zu denken?
Mit Seewald ließe sich der Impuls formulieren, (1) die verschiedenen Interpretationsleistungen und Setzungen zu finden, die in den pastoralen Praxen und ihren Reflexionen bewusst, aber auch indirekt und unbewusst vorhanden sind, und (2) nach Anregungen zu suchen, die in der Überlieferung zu finden sind und neue Schwerpunkte ermöglichen.
Beispielsweise wäre es möglich, biblische Facetten und Erzählungen aufzuspüren, die bislang noch nicht entdeckt oder vernachlässigt wurden und so die Bibel als inspiratorische Quelle zu nutzen, die sich nicht erschöpft.
Die zunächst alltägliche Gastfreundschaft Jesu entdecken.
Ein Beispiel: Christoph Theobald entdeckt in den vielfältigen Begegnungen zwischen Jesus und den Menschen, von denen im Evangelium berichtet wird, ein spezifisches, nämlich „gastfreundliches“ Verhalten Jesu. Das Besondere an den Begegnungen mit Jesus liegt nach Theobald in der Art und Weise, wie Jesus in Beziehung tritt und welche Wirkung dies hat.[3]
Diese zunächst alltägliche Gastfreundschaft Jesu (mit Blick auf die biblischen Erzählungen kann Gastfreundschaft theologisch als „Heiligkeit“ reformuliert werden, vgl. z. B. Hebr 13,2) zeichnet sich insbesondere durch zwei Merkmale aus: Lernfähigkeit und Präsenz.
Jesus zeichnet eine Lernfähigkeit aus, die gleichzeitig einen Lernprozess bei den Menschen provozieren kann.
Die Gastfreundschaft Jesu ist von dessen Fähigkeit gekennzeichnet, „sozusagen als Jünger (Jes 50,4f.) von Jedermann und in jeder Situation neu zu ‚lernen‘, wer er selbst ist und was er ‚kann‘ […].“ (59)
Jesus zeichnet also eine Lernfähigkeit aus, die gleichzeitig einen Lernprozess bei den Menschen provozieren kann, denen er begegnet: Indem Jesus nicht beantwortet, wer er für die anderen ist, „öffnet er einen immer weiteren und tieferen Raum, in dem andere ihn benennen und ‚identifizieren‘ und sich gerade so selbst in ihrer eigenen Einzigkeit ‚identifizieren‘ können; dies ist der Lebensraum, in dem die ‚geheimnisvolle‘ Identität des Nazareners sozusagen in sie ‚übergehen‘ und in ihnen Gestalt annehmen kann.“ (61)
Präsenz und Nähe für jede und jeden, ohne den Raum mit sich zu „füllen“.
Dieser Stil der Gastfreundschaft Jesu ist von einer spezifischen Präsenz und Nähe geprägt, nämlich für jede und jeden „gegenwärtig“ zu sein, ohne den Raum jedoch mit sich zu „füllen“.
Die Qualität der Begegnungen mit Jesus wird dabei nicht von Dauer und Regelmäßigkeit bestimmt, weshalb diese Begegnungen auch nur einen kurzen Augenblick lang sein können, wie es bei vielen Erzählungen im Evangelium der Fall ist.
Es ginge dann nicht mehr um den Unterschied zwischen Christsein und -nichtsein.
Theobalds Motiv der Gastfreundschaft kann als Anregung dienen, Automatismen aufzudecken und zu unterbrechen, um neue Schwerpunkte setzen zu können. Dem jesuanischen Stil in Begegnungen folgend, ginge es dann jedenfalls nicht mehr um den Unterschied zwischen Christsein und -nichtsein.
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Monika Heidkamp ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Seminar für Pastoraltheologie der Katholisch-Theologischen Fakultät Münster.
Bild: pixabay.com
[1] Seewald, Michael: Religiöse Überlieferungen im Zeitalter des „häretischen Imperativs“ – Krisenempfindung und Aufbrüche kirchlicher Traditionsdeutung, in: Sajak, Clauß Peter (Hg.): Kirche ohne Jugend. Ist die Glaubensweitergabe am Ende? Freiburg i. Br., 45-69, hier 61.
[2] Ebd.
[3] Vgl. hier und im Folgenden: Theobald, Christoph: Christentum als Stil. Für ein zeitgemäßes Glaubensverständnis in Europa, Freiburg i. Br. 2018, 58-63, hier 58.