Ausgehend von der aktuellen Reform des Stadttheaters in Gent skizziert Christian Kern Impulse für kirchliche Gestaltungsprozesse und theologische Arbeit in performanzanalytischer Perspektive.
Das Stadttheater in Gent und sein „Neues Evangelium“
Am Stadttheater in Gent lässt sich derzeit beobachten, wie sich eine altgediente Institution neu aufstellt. Das hat mit Milo Rau zu tun, der seit Herbst 2018 Künstlerischer Leiter des Theaters ist. Mit Beginn seiner Aktivität in Gent hat er einige neue Regeln für die Art und Weise aufgestellt, wie hier Theater praktiziert wird.
„Genter Manifest”: Theater als plurales, heterogenes Bündel von Aktivitäten und Formen.
In seinem „Genter Manifest“ skizziert er Theater als plurales, heterogenes Bündel von Aktivitäten und Formen, das Schauspiel nicht nur auf den üblichen Bühnen zur Aufführung bringt, sondern seine Orte sowie Formen vielfältig wechselt. Seine Produktions- und Darstellungsprozesse verändern soziale, kulturelle und politische Bedingungen.
Das erste Gebot des Theater-Manifests lautet dementsprechend: „It’s not just about portraying the world anymore. It’s about changing it. The aim is not to depict the real, but to make the representation itself real.” Die anderen folgenden 9 Gebote des Manifests bestimmen entsprechende Produktionsbedingungen, die diese Wirksamkeit des Theaters ermöglichen sollen: Mindestens ¼ der Proben soll außerhalb der Theaterräume selbst stattfinden und die Aufführung in mindestens drei Ländern präsentiert werden. Mindestens zwei Sprachen sollen gesprochen und neben ausgebildeten Schauspielern auch sog. Laien-Schauspieler involviert werden. Mindestens eine Produktion soll jährlich in einem Krisen- oder Kriegsgebiet stattfinden.
„Das neue Evangelium“ inszeniert Etappen des Lebens Jesus, lokalisiert an zwei markanten Orten der heutigen Gegenwart Europas.
Raus jüngstes Projekt, „Das neue Evangelium“, das im September 2020 auf der Film-Biennale in Venedig im Sonderprogramm gezeigt wurde und im Dezember 2020 in Kinos erscheint, setzt dieses Konzept um. The New Gospel inszeniert Etappen des Lebens Jesus, allerdings nicht historisierend, sondern lokalisiert es an zwei markanten Orten der heutigen Gegenwart Europas: in Matera im ruralen Süden Italiens sowie in Rom.
Der Dreh des Films fand im Sommer 2019 statt. Rau hatte bereits zu Produktionsbeginn einige Profischauspieler für den Dreh organisiert. Nun wurden vor Ort weitere Castings und Recherche durchgeführt. Die Castings dienten nicht bloß dazu, Mitwirkende zu gewinnen, sondern ebenfalls ein Gespür für und Wissen um das Leben von Menschen an den Produktionsorten zu entwickeln. Eine situativ-explorative Arbeit.
Im Rahmen dieser Castings-/Erkundungsarbeit stoßen Rau und sein Team nun auf eine höchst prekäre soziale, juristische und ökonomische Situation, die bisher außerhalb des Sichtfeldes lag: rund um Matera hat sich seit den 2000er Jahren eine Art subaltäre Landwirtschaft unter Kontrolle lokaler Mafia-Gruppen gebildet.
Subaltäre Landwirtschaft unter Kontrolle lokaler Mafia-Gruppen. Die Ortssituation schreibt sich in das Skript ein.
In Landwirtschaftsbetrieben zum Tomatenanbau arbeiten mehrere Tausend Geflüchtete unter weitestgehend ausbeuterischen Bedingungen. Rau trifft eigenen Angaben zufolge dort auch auf den afrikanischen Asylaktivisten Yvan Sagnet (Link: cineuropa.org). 2013 initiierte dieser eine Protestbewegung gegen die Lebens-/Produktionsverhältnisse auf den Tomatenfeldern und erwirkte tatsächlich eine juristische Stärkung des Arbeiterschutzes bzw. der Arbeiterrechte. Bis zum Sommer 2019 wurde diese allerdings nicht umgesetzt.
Die Ortssituation schreibt sich in das Skript ein. Yvan Sagnet schlüpft in die Rolle des Jesus, eine Vielfalt weiterer Akteure, aus der Gegend Materas wird Teil des Casts. In Kooperation mit lokalen, nationalen humanitären Gruppen und kommunalen Einrichtungen wird die Protest-Aktion „Rivolta della Dignità“ durchgeführt. Zu ihr zählt u.a. ein Protestmarsch, der in Rom endete, dem Sitz der damaligen rechtsradikalen Salvini-Regierung. Dort wird im Oktober 2019 ebenso der letzte part des Films abgedreht, in einem römischen Theater, die Auferstehung Jesu.
Heteromorphe Charakteristiken
Das Theater, wie es sich im Neuen Evangelium Raus verkörpert, ist charakteristischerweise situativ und explorativ. Natürlich gibt es zunächst Produktionsideen und -pläne, aber diese werden nicht top-down durchgeführt. Vielmehr begibt sich die Produktion in konkrete Situationen hinein und setzt sich diesen aus. In dieser explorativen Praxis kann es nun zu überraschenden, innovativen, aber vor allem auch irritierenden und verstörenden Entdeckungen kommen. Es können sich Problemlagen einstellen, denen nun nicht mehr einfach ausgewichen werden kann.
Das Situativ-explorative wird partizipativ und entfaltet kritisch-kreative Kraft.
Die Aktivität des Direktors und der Akteure geht hier in eine medio-passive[1] Zwischensituation über, in denen bestimmte Themen, Handlungen, Gesten unabdingbar werden. Etwas Anderes taucht auf, mit dem man nun umgehen muss. In dem Maße, wie eine ursprüngliche Projektidee im Prozess dieser exposure zur Disposition gestellt wird, ergeben sich Entdeckungen und öffnen sich Möglichkeiten für Partizipation von Akteuren, die vorher außerhalb des Realisierbaren und Sichtbaren lagen.
Das Situativ-explorative wird partizipativ und entfaltet kritisch-kreative Kraft, indem es Räume öffnet und Gestalten zu erscheinen erlaubt, in denen nicht-präsente Themen, Lagen, Bedingungen emergieren und von Gewicht werden können. Dabei ist der Erfolg dieses Prozess keineswegs sicher, er ist fallibel und beinhaltet ein Risiko zu scheitern[2].
Das neue Evangelium hat eine eigene performative Qualität.
Das neue Evangelium ist keine einfache Aufführung, die ein Stück wiederholt und dadurch belehren will (wie bürgerliche Theater der Aufklärung). Ebenso wenig stellt es einfach eine bewusste Distanz zwischen Zuschauern und ihren Lebensbedingungen her, um revolutionäre Impulse freizusetzen (wie in epischen Theatern in der Spur Brechts). Vielmehr hat es eine eigene performative Qualität: Es entfaltet sich als Verkörperungsprozess, in dem hier und jetzt illokutiv ein heterogener Erscheinungsraum aufbricht, der beunruhigend ist, weil in ihm verdrängte, de-realisierte Lebensfacetten zutage treten, die in den bisher herrschenden Wahrnehmungsrastern außen vor blieben.
Nun werfen sie aber die Frage auf, was an gegebenen Bedingungen verändert werden muss. Im Verkörperungsprozess des Neuen Evangeliums betrifft dies konkret den Ort Matera, der 2019 die Kulturhauptstadt Europas bildete. Der Ort repräsentierte Europa, das sich hier selbst auszeichnet und betrachtet, die eigene kulturelle Entwicklung, Erhabenheit und Schönheit. Diese Idylle aber wird nun aufgebrochen und unterlaufen. Es fällt Licht auf den Ort als Teil einer Situation der Ausbeutung, die im Hier und Heute betrieben wird, um europäische Märkte üppig zu bedienen; mit gutem Tomatensaft aus dem sonnigen Süden und mehr.
Das Genter Theater wird politisch, indem es eine Fiktion auf in ihr überblendete reale Problemlagen hin überführt.
Es fällt so ebenfalls Licht auf die Geschichte(n) Europas, dessen historische Stärke eben auch in einer Reihe solcher Produktions- und Ausbeutungsverhältnisse fußt. In dieser kritischen Aufbrechung beansprucht der Darstellungsprozess zugleich eine andersartige Zukunft, die diese Bedingungen überschreitet.
Das neue Evangelium als situativ-explorativer Darstellungsprozess ist dabei nicht utopisch, es ist keine Ideal-Vorstellung einer geheilten Welt. Es ist stattdessen eher heterotopischer Art. Es entlarvt die Idylle einer europäischen Kulturstadt auf dem Berg als Fiktion, bringt einen grundlegend irritierenden Dissens ins Spiel, der herrschende Raster (europäischer) Selbstbetrachtung infrage stellt. Spätestens hier wird das Genter Theater politisch im Sinne von Jacques Rancière, indem es eine Fiktion auf in ihr überblendete reale Problemlagen hin überführt.[3]
Zwei pastoralrelevante Impulse
Vom Genter Theater und seinem Neuen Evangelium her lassen sich ein paar Impulse gewinnen für kirchliche und theologische Arbeit. Ein erster Impuls betrifft kirchliche Reform- und Gestaltungsprozesse, wie wir sie derzeit erleben. Das Genter Theater erzeugt Aufmerksamkeit für die Arten und Weisen, wie Kirche dem Evangelium Gestalt verleiht. Könnte und sollte Kirche nicht in einer solchen, der Praxis des Neuen Evangeliums verwandten Art Gestalt finden: als offener, situativer, explorativer, partizipativer, fragiler Prozess, der eine eigene, lebenseröffnende Wirksamkeit innerhalb gegebener sozialer, ökonomischer Raster entfaltet?
Vielleicht ist es müßig, daran zu erinnern und diese Frage aufzuwerfen. Denn das entspricht ja eigentlich der Figur Jesu, wie sie die Evangelien in Szene setzen. Hier tritt kein Herrscher auf, kein Direktor oder Aufseher, der einen Masterplan besitzt, der gelehrt und durchgesetzt wird. Hier gibt es keine Instruktion, die von oben herab Handlungen oder Bekehrungen anweist.
Jesus verkörpert Entdeckungs- und Aufbruchsprozesse, in denen herrschende Wahrnehmungsraster aufgebrochen und lebensermöglichende Strukturveränderungen stattfinden.
Was es aber gibt, sind Bewegungen in konkrete Welten und Situationen hinein, Ad-Situierungen bzw. In-Szenierungen in alltäglich-öffentlichen und abgeschiedenen Gegenden. Hier wird überraschend etwas entdeckt, andere Gesichter zeigen sich und Lebensweisen beginnen sich schöpferisch zu verkörpern, die bisher jenseits des Sicht-/Lebbaren lagen. Jesus verkörpert solche nicht unstrittigen Entdeckungs- und Aufbruchsprozesse, in denen herrschende Wahrnehmungsraster aufgebrochen und lebensermöglichende Strukturveränderungen stattfinden.
In diesen Tagen zeigt sich demgegenüber ein Kirchentheater, das anders funktioniert. Die deutschen Bischöfe finden sich zur alljährlichen Herbstvollversammlung in Fulda ein. Wohlchoreographiert verläuft das Treffen: zunächst als Einzug in den Dom in rotem Chorrock; später als Rückzug in einen Konferenzraum zur internen Besprechung; dann als pointiert orchestrierte Pressekonferenz; zwischendurch die Aufreihung in Schwarz zum Gruppenbild ohne Dame. Dies alles ist ebenfalls eine Inszenierung, eine Darstellung eigener Art von „Kirche“ und sie beansprucht, dem Evangelium eine maßgebliche Gestalt zu verleihen.
Diskrepanz zwischen den Inszenierungen kirchlicher Führungsmacht und einer mehr am Stil des Evangeliums orientierten Verkörperungspraxis.
Was hier aber weitestgehend ausfällt, sind jene heteromorphen Charakteristiken, für die das Genter Theater sensibilisiert und die ähnlich auch im Raum Jesu auftreten. Es fehlen jene Prozesse der Partizipation von Personen, die sog. Laien-Schauspieler, die nicht zum inner circle klerikaler Führungskreise gehören. Es fehlt das Wagnis, sich aus dem eigenen Souveränitätsbereich heraus wegzubewegen, in Situationen hinein, in denen herausfordernde, aufschlussreiche, womöglich prekäre und sicher auch irritierende Lebens- und Glaubensweisen auftreten.
Es gibt eine bisher wenig debattierte Diskrepanz zwischen den Inszenierungen kirchlicher Führungsmacht wie in Fulda und einer mehr am Stil des Evangeliums orientierten Verkörperungspraxis, die kritisch die Schattenseiten heutigen Lebens auftreten lassen hilft und performativ für deren Veränderung eintritt.
Eine solche performanzanalytische Repräsentationskritik führt zum Genter Theater zurück und erschließt eine Möglichkeit, wie sich Theologie hier kritisch einklinken kann. Denn Produktionen wie Raus Neues Evangelium sind keineswegs paradiesisch, sondern haben ihrerseits eine eigene Ambivalenz. Sie verändern zwar Felder der Sichtbarkeiten, aber gerinnen doch auch selbst rasch in neuen (An)Ordnungen der Wahrnehmung und überblenden Aspekte. Yvan Sagnet beispielsweise ist zwar laut Rau der erste Jesus schwarzer Hautfarbe in der europäischen Filmgeschichte, aber er bleibt dennoch ein Mann und stellt Jesus als solchen dar. Wenigstens in der Besetzung der Rolle des Jesus im Neuen Evangelium bleibt eine spannende Gender-Frage der Jesus-Repräsentation unthematisiert. Weitere Ambivalenzen ließen sich benennen.
Perfomanztheologie lenkt den Blick stets neu auf diese möglicherweise unmögliche Ankunft und Offenheit für das Andere.
Die Frage, die hier grundlegend aufgeworfen wird, ist, ob die kritisch-kreative Verkörperungspraxis des Neuen Evangeliums eine dauerhafte Öffnung riskiert und sich bleibend einem unverfügbaren Außen aussetzt, das unmöglich antizipiert und gefasst werden kann. Wie ernst steht es hier um einen bleibenden Alteritätsbezug, um eine wirkliche Heimatlosigkeit der compagnia teatrale, um eine permanente kritische Öffnung, deren Leerstelle nicht geschlossen wird, sondern in Überschreitungen und Infragestellungen der eigenen geronnenen Form wieder aufbricht?
Perfomanztheologie lenkt den Blick stets neu auf diese möglicherweise unmögliche Ankunft und Offenheit für das Andere in den Verkörperungsprozessen der Gegenwart für menschliches und nicht-menschliches Leben heute.
___
Christian Kern, ist PostDoc an der KU Leuven und wechselt im Oktober 2020 an das Institut für Katholische Theologie der TU Dresden. Seine aktuelle Arbeit befasst sich mit provokanten politischen Performances aus theologischer Perspektive. Das damit verbundene Netzwerk „Theology, performance & politics“ bündelt performative politische Theologien aus deutsch- und englischsprachigen Kontexten. Siehe den Workshop am 2. und 3. Oktober, der für Gäste offensteht: https://padlet.com/giele/workshopprogramm.
Bild: © Videostill von Thomas Eirich-Schneider.
[1] Diesen Begriff habe ich von Thomas Sojer, vom „Denkkollektiv Simone Weil“. https://www2.hu-berlin.de/simoneweil-denkkollektiv/info/
[2] Vgl. Raus Essay zu seinem Ehrendoktorat der Uni Gent. „Try again. Fail again. Fail better”. https://e-tcetera.be/try-again-fail-again-fail-better/
[3] Ranciere, Der emanzipierte Zuschauer, Wien 2015, 2. Aufl., 79.