„Seht, da ist der Mensch“ – Dieses Leitwort des 100. Deutschen Katholikentages wurde in Leipzig in schier unzähligen Veranstaltungen diskutiert und auf seine Konsequenzen hin bedacht. Auch bei einem von Ulrich Feeser-Lichterfeld moderierten Podium, das nach den Orten heutigen Lebens und ihre Bedeutung für die Pastoral fragte.
Der Katholikentag feierte unlängst in Leipzig seinen 100. Geburtstag. Er fungierte und funktionierte als eine Einladung zum Wahrnehmen des Menschlichen in seiner vielfältigen und immer wieder überraschenden, ja nicht selten irritierenden Gestalt. Das Podium, von dem hier berichtet wird, stellte in diesem Kontext ganz selbstverständlich auch den oder besser die Menschen in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit – und tat dies zugleich mit einer Fokussierung auf das „Wo“.
Wo überall ist der Mensch, wo lebt er und begegnet anderen Menschen, wo bewegt er sich, wo erlebt er Freude und Hoffnung, wo trauert er, und wo ängstigt er sich? Unter der Überschrift „Auf dem Weg zu einer orts- und raumsensiblen Pastoral“ war Gelegenheit, den Blick zu schärfen für die mannigfaltigen Orte und Räume, welche erst die Weite kirchlichen und gesellschaftlichen Lebens ausmachen, und welche Pastoral sagen lässt: „Seht, da ist der Mensch“.
„Die Wahrheit liegt auf dem Platz“
In diesem Sinne eröffnete Rainer Krockauer (Caritastheologe in Aachen) die Diskussion und knüpfte dabei an die vertraute Weisheit des Fußballtrainers Otto Rehhagel „Die Wahrheit liegt auf dem Platz“ an. Pastorale Orts- und Raumsensibilität, so Rainer Krockauer in seinem Einstiegsreferat, lebt von den Gesichtern und dem Charisma der Akteure, die für profane Orte, lokale Sozialräume und menschliche Lebensräume sensibilisiert sind. Sie steht und fällt beispielsweise mit ihren lokalen Projekten und ihren mutigen und auch extravaganten Experimenten in der pastoralen Sorge um menschliche Orte und Räume: offene Kirchen, Cityklosterprojekte, lokale Kirchenentwicklungsprojekte, diakonische Stadtteilprojekte, Sozialraumentwicklung unter Beteiligung von Gemeinden und Verbänden, Stadtteilnetzwerke und vieles mehr. Diese Projekte seien keine exotischen Randnotizen im Transformationsprozess von Pastoral, sondern vielsagende Wegzeichen, die mehr Aufmerksamkeit und Stimme bräuchten.
Inspirierend sei, so Krockauer, dass in den Projekten etwas erprobt und entwickelt werde, was erklärtes Programm von Kirchen ist. Als Teil der Menschheitsfamilie geht es schließlich, so die bekannte Lesart der II. Vatikanums, „um die Rettung der menschlichen Person, um den rechten Aufbau der menschlichen Gesellschaft“ und damit, in den Worten von Alfred Delp, um nicht weniger als die Sorge um „den menschentümlichen Raum und die menschenwürdige Ordnung“[1].
Pastoral ist demnach der diesbezügliche originäre Beitrag von Kirche im Zusammenwirken mit anderen. Die gravierenden religionssoziologischen Veränderungen, gerade im Blick auf die kirchlichen Sozialformen, lassen die gewohnten Sozialformen nicht mehr das sein, was sie einmal waren, sondern „kreieren neue Orte auch im Alten und schaffen damit völlig neue Räume“, lassen einen suchen, „wo man ist und wer man dort ist“[2]: Kirche für die Menschen!
Kirchliche Orte sind museale Einrichtungen, wenn in ihnen nicht die Lebens- und Sozialräume der Menschen des jeweiligen Umfeldes zur Sprache kommen.
Klar ist: Pastoral braucht verlässliche Orte, Kirchenräume, Begegnungs- oder Beratungszentren – aber diese Orte sind museale Einrichtungen, tote Gebäude, wenn in ihnen nicht die Lebens- und Sozialräume der Menschen des jeweiligen Umfeldes zur Geltung und zur Sprache kommen. Und ebenso klar dürfte sein (gleichwohl bei weitem nicht überall wie selbstverständlich praktiziert): Nicht in der „Kabine“ allein – um noch einmal die Fußballmetaphorik zu strapazieren – entscheidet sich das Spiel, sondern vor den Türen von Kirche, Pfarrsaal und Pfarrbüro, also „auf dem Platz“ und damit in der Schlange vor der Supermarktkasse, auf der Parkbank oder im Wohnzimmer der Menschen.
Seit dem 13. März 2013 verbindet sich eine pastorale Orts- und Raumsensibilität, so Krockauer abschließend, mit dem Papst in Rom und wird von ihm in einer ungeahnten Dynamik weiter befördert. Schon in seiner Wahlrede formulierte Kardinal Bergoglio einen radikalen Anspruch für die Gesamtkirche und forderte sie bekanntlich dazu auf „aus sich selber heraus und an die Peripherien zu gehen, nicht nur an die geographischen, sondern auch an die existentiellen Peripherien“. Wenig später knüpfte er – nun als Papst Franziskus – auf dem Balkon des Petersdomes daran an: „Und jetzt beginnen wir diesen Weg, Bischof und Volk.“
Der skizzierte Weg und die neu entfachte Sensibilität für Peripherien unterschiedlichster Art fordern heraus mitzugehen, unterstützen diejenigen, die längst losgegangen sind, und stärken ihre Freude am Aufbrechen, am Hinausgehen, am Probieren, am Weg – in der ganzen Offenheit des damit verbundenen Prozesses. Gerade die im Podium exemplarisch in den Mittelpunkt gerückten Schauplätze experimenteller Projekte, so der Tenor des Eröffnungsreferats in Leipzig, könnten Modelle dafür sein, was Pastoral in die Gestaltung von (anderen und Anders-) Orten und Räumen (einer Nachbarschaft, einer Innenstadt, einer ländlichen Region) einzubringen vermag. Sie leben von den Protagonisten, die für eine innovative Praxis stehen und die Kirchenentwicklung mit ihrem Mut und Engagement vorantreiben. Ihnen lohnt es zuzuhören.
Neue Sensibilität für Peripherien
In der dem Auftaktreferat sich anschließenden Diskussion der weiteren Podiumsgäste wurde schnell deutlich, wie existentiell und bereichernd das kooperative Miteinander „vor Ort“ sein kann. Eine Gesellschaft, die den Strukturpartner „Kirche“ im Sozialraum leugnet oder nicht zur Kenntnis nimmt, verfehlt ihren sozialraumentwicklerischen Auftrag ebenso wie ein theologischer oder pastoraler Ansatz von Kirche, der auf den Binnenraum von „Gemeinde“ fixiert bleibt. Unter der Perspektive des Sozialraumes bleiben Kirche und Welt hingegen miteinander verbunden.
Der evangelische Theologe und Diakoniewissenschaftler Ralf Hoburg (Hannover) vertrat in diesem Zusammenhang engagiert die Position, dass die Kirchengemeinden – gleich ob protestantischer oder katholischer Natur – gegenwärtig allerdings noch allzu kirchlich tickten, um die geforderte und herausgeforderte Religionssensibilität aufbringen zu können. Auch Petra Potz (Berlin), Stadtplanerin und maßgeblich beteiligt an dem groß angelegten und ökumenisch verantworteten Projekt „Kirche findet Stadt – Innovations- und Experimentierfelder für eine partnerschaftliche Entwicklung lebenswerter Quartiere“, forderte ein Umdenken auf Seiten der kirchlichen Akteure: Nicht sie, sondern die Verantwortungsträger in Stadt und Kreis hätten bei der Sicherstellung der konkreten Daseinsvorsorge den Hut auf. Von daher brauche es auf kirchlicher Seite Bescheidenheit und die Bereitschaft, sich als einer von vielen – dies aber sehr wohl engagiert – an integrativer Entwicklung von Stadt und ländlichem Raum zu beteiligen.
Das notwendige Umdenken
Als Pastoraltheologe, der eine Vielzahl von sozial- und lebensraumorientierten Projekten evaluiert hat, sprach Udo Schmälzle (Münster) der Kirche vor Ort durchaus dieses Potenzial und Engagement zu. Es sei häufig nur nicht auf Seiten der haupt- wie ehrenamtlichen Repräsentanten zu finden – sie litten vielmehr nach wie vor oftmals an einem „diakonalen Blackout“ – sondern fast im Sinne einer „Graswurzelbewegung“ bei den durchschnittlichen Christinnen und Christen. Kirche findet Stadt, so eine These von Schmälzle, wenn sie sich mit ihren Akteuren als Solidaritätsstifter in der Zivilgesellschaft verstehen und das allseits bekannte Schwarze-Peter-Spiel hinter sich lassen, in dem jeder dem Anderen die Schuld für die maroden Zustände in den Quartieren zuschreibt und am Ende für die Menschen in diesen Quartieren gar nichts geschieht.
Sich in die Zukunftsgestaltung der Quartiere einbringen
Die Besucherinnen und Besucher dieser Katholikentagsveranstaltung konnten eine ganze Reihe von Beispielen beibringen, in denen Kirche bzw. Christinnen und Christen aktiv bei der Zukunftsgestaltung von Stadt und Land mitwirken oder – mindestens so bedeutsam – mit den Augen des Glaubens überhaupt erst Bedarfe zur Sozialraumentwicklung ausmachten. Dass solche Orts- und Raumsensibilität ein eigenes Charisma ist bzw. der Ausbildung und Förderung bedarf, war ein weiteres Diskussionsthema. Ebenso die Konkurrenzsituationen, die es zum Beispiel immer wieder beim Ringen um Projektförderungen zwischen kommunalen und kirchlichen Akteuren gibt.
Alles in allem unterstrich dieser Nachmittag in Leipzig die von den Mitinitiatoren vorgebrachte doppelte Relevanz eines pastoralgeographischen Diskurses:[3] Zum einen, um nach städteplanerischen, humangeographischen, kulturwissenschaftlichen und nicht zuletzt pastoraltheologischen Konzepten von „Ort“ und „Raum“ für die Pastoral zu fragen und dabei mehr die Qualität der jeweiligen Praxis im Blick zu haben, „pastoral“ als Adjektiv also eher klein zu schreiben und kriteriologisch am Anspruch eines Handelns im Sinn und Geist Jesu Christi zu messen. Und zum anderen, um aufzuzeigen, was eine orts- und raumsensible Pastoral in die Gestaltung von Orten und Räumen (einer Nachbarschaft, eines Quartiers, einer Stadt, auf dem Land) einzubringen hat.
Papst Franziskus: Geben, was fehlt!
Dann wird das leichter möglich sein, wovon Papst Franziskus in seiner Videobotschaft zur Eröffnung des Katholikentages sprach: „Es ist nicht das Machen oder der äußere Erfolg, der zählt, sondern die Fähigkeit, stehen zu bleiben, hinzuschauen, aufmerksam zu sein gegenüber dem Mitmenschen und ihm zu geben, was ihm wirklich fehlt.“
Leipzig hat gezeigt: Der pastoralgeographische Ball ist und bleibt im Spiel!
[1] Delp, A., Das Schicksal der Kirchen, in: Ders., Im Angesicht des Todes, Frankfurt/M. 11. Aufl. 1981, 138-144, 141.
[2] Bucher, R., An neuen Orten. Studien zu den aktuellen Konstitutionsproblemen der deutschen und österreichischen katholischen Kirche, Würzburg 2014, 1.
[3] Vgl. Feeser-Lichterfeld, U. / Krockauer, R.: Orte, Räume, Schwellen … – braucht es eine „Pastoralgeographie“?, in: euangel . Magazin für missionarische Pastoral, 2. Jahrgang, Heft 4, (2011), S. 13-19.
(Photo: Rainer Bucher)