Für Sabine Baßler ist Friedenserziehung auch eine Aufgabe des Religionsunterrichts. Dafür nimmt sie eine Standortbestimmung von Religionslehrkräften als Dolmetscher*innen vor und betont mit Verweis auf die Arbeit von Hubert Halbfas Sprache und Sprechfähigkeit als zwei zentrale Kompetenzen im Religionsunterricht.
Der Religionsphilosoph Ahmad Milad Karimi stellt die Frage, wo Menschen heute lernen, wie Frieden geht.1 Friedenserziehung ist kein Schulfach – sie findet in Streitschlichtungsprogrammen, Projektideen, unterrichtsthematisch mal mehr oder weniger in Geschichte, Politik, Ethik und im Religionsunterricht statt. „Es reicht eben nicht, auf dem Pausenhof darauf zu achten, dass Kinder sich nicht gegenseitig Gewalt antun. Sie werden nicht lernen, wie sie mit ihren Aggressionen, mit ihren Gewaltfantasien, mit all dem umzugehen haben und wie sie Frieden stiften können.“2 Anselm Grün formuliert im Dialog mit Ahmad Milad Karimi, dass der christliche Friede und der religiöse Friede überhaupt auch gegenüber dem Feind gelte, gegenüber dem/der, der/die anders denkt als man selbst.
Wir haben die Sehnsucht nach Frieden beim jeweils anderen gespürt.
Im Vorwort des Buches von formulieren Grün und Karimi: „Wir haben nicht nur ein Gespräch geführt, wir sind ein Gespräch geworden. Wir haben dabei erfahren, was den jeweils anderen bewegt und somit Anteil an seinen Erfahrungen erhalten. Wir haben die Sehnsucht nach Frieden beim jeweils anderen gespürt, die jedoch auch so viele andere Menschen bewegt.“3 Der Religionsunterricht kann ein solcher Erfahrungs- und Gesprächsort sein, an dem die Hoffnung auf Frieden wachgehalten, Wege zum Dialog aufgezeigt und Friedensbilder gestaltet werden, die Schüler*innen Mut machen. Aber welche Sprache, welchen Handlungsspielraum eröffnen wir als Religionslehrkräfte und als Schule insgesamt? Eröffnen wir Sprach-, Dialog-, Denk- und Handlungsspielräume für Gegenwart und Zukunft, für unseren größten Schatz: alle Kinder und Jugendlichen?4
Schüler*innen Worte und Sprache „zu geben“, ihre Sprechfähigkeit auszubauen, ist sowohl hinsichtlich der Wortschatzerweiterung wie auch des Nachdenkens über Sprache eine zentrale Aufgabe von Unterricht – in jedem Fachgebiet. In meinem Unterrichtserleben in einer Werkrealschule ist eine eingeschränkte Sprache der Schüler*innen – aus unterschiedlichsten Gründen – sehr stark wahrnehmbar und ich versuche, durch gezielte Wortschatzerweiterung und Denkraumeröffnung diesem Phänomen entgegenzuwirken.
Gerade im Fach Religion sind viele Begriffe, deren Bedeutung für die Religionslehrkraft selbstverständlich sind, für die Schüler*innenschaft unverständlich geworden. So wird beispielsweise der Begriff Messe kaum mit Kirche in Verbindung gebracht, sondern im Sinn einer kommerziellen Messe für Computerspiele oder PKWs verstanden oder der theologische Begriff des Opfers im Sinne eines Kriegs-, Terror- oder Mobbingopfers gedeutet. Viele Begriffe aus dem liturgischen oder gottesdienstlichen Bereich, wie Eucharistie oder Buße, sind für Schüler*innen nicht mehr geläufig, da außerhalb der Weihnachtszeit kaum noch irgendjemand einen Gottesdienst besucht. Es sind Fremdwörter, die übersetzt werden müssen. Auch die Liturgie selbst müsste diesbezüglich mehr Übersetzungsarbeit leisten, aber in diesem Beitrag soll das Augenmerk auf den Religionsunterricht gelegt werden. Denn auch hier sind Dolmetscher*innenqualitäten der Lehrperson von zentraler Bedeutung.
Gegen den religiösen Analphabetismus.
Es kommt entscheidend darauf an, Schüler*innen wieder Worte und eine Grammatik zu vermitteln, die sie dazu befähigt, mehr als nur Halbsätze zu sprechen. Eine zentrale Aufgabe des Religionsunterrichts ist, auf die Bedeutungsebene hinter den Metaphern, Symbolen, Gleichnissen usw. einzugehen. Mit religiöser Sprachkompetenz kann echter Dialog gelingen: sowohl untereinander als auch mit der Literatur, deren Inhalten und ihrem jeweiligen Wahrheitskern. Das (religiöse) Sprechenlernen und die Übersetzung tradierter Texte in das Heute bleiben vorrangige und immerwährende Aufgaben des Religionsunterrichts.
Bereits der 2022 verstorbene Hubertus Halbfas attestierte einen „religiösen Analphabetismus“ und setzte sich für eine religiöse Sprachlehre ein, die zwischen metaphorischer und symbolischer Rede unterscheidet, literarische Formen benennt und die spezifische „Wahrheit“ von Mythen, Sagen oder der Legende zur Sprache bringen kann.5 (Religiöse) Sprache kennenzulernen und (religiöses) Sprechen zu üben, sich mit zentralen Lebensfragen auseinanderzusetzen und ein wertvolles, durch die Jahrtausende gewachsenes Kulturgut in Texten, Liedern und Symbolen zu erfahren, ist ein großer Schatz, der gehoben und entdeckt werden kann und sollte.
In seinem dreibändigen Lesewerk „Das Christenhaus“, „Das Menschenhaus“ und „Das Welthaus“ hat Hubertus Halbfas Texte, Geschichten und Gedichte zusammengestellt, die über den eigenen Tellerrand der je eigenen Religion und Konfession hinausschauen lassen. Diese literarische Fundgrube beinhaltet auch Bibeltexte und ist sowohl für Schule und Gemeindearbeit als auch für die persönliche Auseinandersetzung mit wesentlichen Lebens- und Glaubensfragen geeignet.
Symbolsprache erlernen
Das Kennenlernen von Symbolen und deren Bedeutung hält Halbfas für ein zentrales Element des Religionsunterrichtes, um „die Wirklichkeit in ihrer mehrsinnigen Komplexität zu erfassen“.6 „Symbole allein vereinen das Bewusste und das Unbewusste, das Gegenständliche und das Spirituelle, das Sichtbare und das Unsichtbare […]. Symbole vermitteln zwischen den Zeiten, zwischen dem, was gewesen ist und dem, was sein kann“.7 Nimmt man hier etwa die Paradieserzählung in den Blick, so handelt es sich dabei nicht um ein altes, unglaubwürdiges „Märchen von Adam und Eva“, wie oftmals von Schüler*innen zu hören, sondern um einen Mythos, der zeitlos gültige Glaubensbotschaften enthält.
Eine solche Erkenntnis kann durch die Arbeit und Auseinandersetzung in einem Religionsunterricht wachsen, der zum einen den Baum der Erkenntnis als Mitte und Ursymbol, als zentrales Element aller Kulturen darzustellen vermag, zum anderen aber auch für die Verletzlichkeit des eigenen Lebens und die Gefahr der Zerstörung der Schöpfung sensibilisiert. Um dieser Herausforderung umfassend gerecht werden zu können, sollten solche alttestamentlichen Erzählungen stärker im Sekundarstufenbereich I, auch in der Werkrealschule, verankert sein, da sich Kinder im Grundschulalter aus entwicklungspsychologischen Gründen die Tiefe dieser Thematik nicht erschließen können. Der Symboldidaktik kommt daher eine zentrale Rolle in der religiösen Sprachlehre und der Religionsdidaktik zu.
Im Klassenraum sitzen Schüler*innen unterschiedlicher Religionen, Konfessionen und Weltanschauungen gemeinsam im Unterricht. Diese Tatsache spielt derzeit aufgrund der vielen kriegerischen Auseinandersetzungen weltweit eine noch größere Rolle als in früheren Jahren. Zu Beginn des Angriffskriegs Russlands auf die Ukraine hatte ich teilweise große Auseinandersetzungen mit einigen Schüler:innen, die einen russischen Migrationshintergrund mitbringen, und mir verbieten wollten, für die Ukraine zu beten bzw. von einem Angriffskrieg Russlands zu sprechen. Sie waren überzeugt, dass die Ukrainer*innen die Kriegsbilder selbst produzieren und als Schauspieler*innen diese Szenen drehen. Wenige Wochen später kamen die ersten geflüchteten ukrainischen Kinder und Jugendlichen an unsere Schule und teilweise verweigerten russischsprachige Schüler*innen die Übersetzung vom Deutschen ins Russische.
Auch der Angriff der Hamas auf Israel wirkt sich mit „Free Palastine“-Rufen und Schmierereien auf den Toiletten wie „der Islam wird siegen“ unmittelbar auf den Schulalltag aus und bringt neues Konfliktpotential in die Schule. Diese Beispiele zeigen, wie wichtig es ist, die Sprechfähigkeit, die geschichtlichen Kenntnisse, die Fähigkeit der Dialogbereitschaft und ein Miteinander über den Religionsunterricht hinaus, beispielsweise im Deutsch-, Geschichts-, Politik und Ethikunterricht in einem umfassenderen Maße zu fördern und zu erweitern. Der interreligiöse Dialog braucht die Bereitschaft, einander zuzuhören, und das Feingefühl der Lehrkraft, dass jeder Schüler und jede Schülerin gesehen werden möchte. Hier kommt es auch auf die Bereitschaft der Zusammenarbeit zwischen der Religions- und Ethikfachschaft an, um gemeinsam im Dialog sein zu können. Damit kommen dem Religionsunterricht nun die geschichtliche und politische Aufarbeitung, die Auseinandersetzung mit dem Thema der Menschenwürde sowie die Förderung der Dialogbereitschaft als wichtige Aufgaben zu.
Friedenswege gehen – ein Praxisbeispiel.
Einen Friedenslauf veranstaltete im Dezember 2023 die Bachschlossschule in Bühl, an dem Schüler*innen der Jahrgangsstufen acht bis zehn teilnahmen, die teilweise aus den unterschiedlichsten Ländern geflüchtet sind und/oder Freunde, Freundinnen und Verwandte in Krisen- und Kriegsgebieten haben, Väter, die in der Ukraine kämpfen, als Juden und Jüdinnen unter keinen Umständen möchten, dass ihre Religionszugehörigkeit bei Mitschüler*innen bekannt wird, die Angehörige im Gazastreifen haben, deren Zuhause in Syrien zerbombt wurden. Die traurige Auflistung ließe sich leider noch sehr lange erweitern.
Im Vorfeld des Friedenslaufes haben alle Ethik- und Religionslehrkräfte die „Goldene Regel“ in den Weltreligionen anhand des hervorragenden Materials des Instituts Weltethos aus Tübingen erarbeitet. Im Deutschunterricht der Klasse neun besprach ich mit den Schüler*innen die Ringparabel aus „Nathan der Weise“ von Gotthold Ephraim Lessing.
Die Klassen machten sich zu Fuß auf den Weg zum Friedenskreuz in Bühl, das im Jahr 1951 als Friedenssymbol aus ehemaligen Bunkeranlagen der französischen und deutschen Seite errichtet wurde und als Friedenszeichen am Fuße des Nordschwarzwaldes steht. Im Vorfeld wurden Texte zum Thema Frieden aus dem Buddhismus, dem Judentum, Christentum und dem Islam gesammelt. Diese wurden bei der Aktion am Friedenskreuz vor Ort von Schüler*innen sowie von Lehrkräften vorgetragen, jede Klasse in ihrem eigenen Kontext, sowie die Entstehung des Bühler Friedenskreuzes erklärt. Alle Klassen konnten auf dem Weg zum Friedenskreuz eigene Friedenssymbole gestalten und hatten die Aufgabe, diese zu fotografieren. Außerdem erhielt jede Klasse eine große Flagge mit allen Kontinenten und sehr vielen darauf abgebildeten Länderflaggen für ihr Klassenzimmer.
Die Schüler*innen äußerten sich nach der Veranstaltung sehr positiv zum Friedenslauf. Klasse zehn gestaltete ihr Friedenssymbol mit brennenden Kerzen in Herzform und der Flagge für das Klassenzimmer, hinter der sie sich versammelten. Auch von den Lehrkräften kam gutes Feedback und es wurde der Wunsch geäußert, dass auch die jüngeren Klassenstufen beim nächsten mal mit dabei sein möchten.
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Sabine Baßler ist Lehrerin für Deutsch, Geschichte und Katholische Religionslehre an der Bachschlossschule Bühl sowie Referentin für die Sekundarstufe I für Haupt-, Werkreal-, Real- und Gemeinschaftsschulen am Institut für Religionspädagogik der Erzdiözese Freiburg. Von 2010 bis 2016 war sie Lehrbeauftrage für Katholische Religionslehre an der Pädagogischen Hochschule in Freiburg im Breisgau.
Foto: Conny Ehm |Photography
Bilder: privat
- Grün, Anselm; Karimi, Ahmad Milad, Frieden stiften, Frieden sein, Münsterschwarzach, 2023, S. 111. ↩
- Grün, Anselm; Karimi, Ahmad Milad, Frieden stiften, Frieden sein, Münsterschwarzach, 2023, S. 111. ↩
- Grün, Anselm; Karimi, Ahmad Milad, Frieden stiften, Frieden sein, Münsterschwarzach, 2023, S. 6. ↩
- Vgl. Halbfas, Hubertus, Religiöse Sprachlehre, Ostfildern 2012, S. 71. ↩
- Halbfas, Hubertus, Religiöse Sprachlehre, Ostfildern 2012, S.12. ↩
- Halbfas, Hubertus, Religiöse Sprachlehre, Ostfildern 2012, S.72. ↩
- Halbfas, Hubertus, Religiöse Sprachlehre, Ostfildern 2012, S.72. ↩