Rainer Bucher empfiehlt eine bemerkenswerte Ausstellung des Photographen Thomas Struth im Museum Folkwang, Essen.
Thomas Struth, geboren 1954, gehört mit Andreas Gursky, Thomas Ruff und Candida Höfer zur „Düsseldorfer Schule“ der Photographie, die in der Nachfolge von Bernd und Hilla Becher zu großer internationaler Berühmtheit gelangt ist. Die Essener Ausstellung zeigt wieder einmal warum.
Düsseldorfer Schule
Struth ist bekannt wegen seiner „Museum Photographs“ und „Family Portraits“: eindringliche Studien über Menschen, die beobachten und dabei beobachtet werden und das in jener objektivierenden Sichtweise, welche die Düsseldorfer Schule charakterisiert. Der Kontrast dieses distanzierenden Blicks mit dem ahnbar emotionalen Innenleben der Familien oder der Dynamik von Kunstbetrachtung entwickelt ungeheuren Reiz. Struths Bilder sind Entdeckungsfahrten.
Forschungslabors, Operationssäle, Raumschiffe, Hochöfen: Spitzenleistungen menschlicher Technik,
Nun hat sich Struth eine neue Themengruppe erarbeitet: Forschungslabors, Operationssäle, Raumschiffe, Hochöfen: Spitzenleistungen menschlicher Technik, künstliche Wirklichkeiten allesamt. Die 34 großformatigen Photos zeigen komplexe Apparaturen, Strukturen und technische Hochleistungsprodukte, Menschen sind (fast) keine mehr zu sehen. Es sei denn als verborgene Schöpfer all dieser für die meisten völlig undurchschaubaren Spitzenleistungen: „Ich wollte den Prozess der Imagination und Phantasie untersuchen (….) Es geht mir darum, wie etwas, das zuvor nur ein Gedanke war, sich materialisiert und Teil der Wirklichkeit wird.“ (Struth)
Die Faszination über so noch nie mögliche Blicke in eine Raumfähre, auf eine riesige schwimmende Bohrplattform im Reparaturdock, in einen Teilchenbeschleuniger wechselt mit der Bewunderung für den dort Schönheit entdeckenden Blick Struths, wo alles, aber keine Schönheit intendiert ist, und ist auch begleitet vom Erschrecken über die grenzwertige Beherrschbarkeit all dieser Technik – und das Verschwinden des Menschen in ihr.
„Es geht mir darum, wie etwas, das zuvor nur ein Gedanke war, sich materialisiert und Teil der Wirklichkeit wird.“ (Struth)
Und in all dem sieht man einen amerikanischer Erlebnispark – und die Verkündigungskirche in Nazareth. Interessiert Struth die ästhetische Verwandtschaft all dieser Orte oder ihr Künstlichkeitscharakter? Oder interessieren sie als Orte der Macht? „Nature and Politics“ heißt die Ausstellung schließlich und es geht tatsächlich um das Verschwimmen der Grenzen von Natur, Gesellschaft, Politik, Technik und das ganz weit weg von allem Kulturpessimismus wie jeglicher Fortschrittseuphorie. Struth fragt einfach: Wo sind wir? Und vor Struths Bildern überfallt einen die Erkenntnis: Wir ahnen es nicht einmal.
Die Lehre für die Theologie? Vielleicht: Mehr zu schauen und weniger verstehen oder gar erklären zu wollen. Struth versteht, wie auch die meisten TheologInnen, nichts von Naturwissenschaft und Technik. Aber er hat die Mittel und den Mut, sich ihnen zugleich selbstbewusst und aufmerksam zu nähern.
Mehr schauen und weniger verstehen oder gar erklären
Falls Sie in nächster Zeit einmal ins Ruhrgebiet oder auch nur in seine Nähe kommen: Besuchen Sie diese Ausstellung. Vielleicht wird Ihnen ganz anderes ein- und auffallen, irgendetwas Lohnendes aber sicher.
Und wenn Sie dann ein wenig erschöpft vom Zugriff der teils riesigen, immer ein wenig anstrengenden, sicher auch „schönen“ Photographien auf Ihre Assoziations-, Bilder- und Erfahrungsspeicher Erholung brauchen: Die Dauerausstellung zur „Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts“ des Folkwangmuseums hält wunderbare Bilder von Caspar David Friedrich bis Paul Cézanne, von Marc bis Picasso, Kandinsky bis Beckmann bereit. Wie viel Trost sie auch immer spenden mögen: Die Auflösung aller Sicherheiten sieht man auch ihnen schon an.
Noch bis zum 29. Mai im Museum Folkwang, Essen; weitere Informationen hier.
(Text und Photo: Rainer Bucher)