Die Relevanz der Theologie ist keine Selbstläuferin. Für Marcello Neri hängt ihr Überleben davon ab, ob ihr eine Neu-Verortung gelingt.
Es gibt kaum eine andere akademische Disziplin wie die Theologie, die eine wissenschaftliche Vermittlung von Inhalten mit einer sinnvollen Deutung des konkreten Lebens der Menschen verbinden muss, um sich bei ihren Zuhörern/innen überzeugend behaupten zu können. Das ist das Anstrengende und das Anziehende zugleich an der theologischen Arbeit. Die Theologie kennt weder office hours noch fachwissenschaftliche Grenzen, weil alles, was sich im Alltag der Menschen ereignet, sie ohne Rücksicht herausfordert. Das Banale und das Dramatische, kleine und große Ereignisse, das Geschick eines einzelnen Menschen wie dasjenige der Allgemeinheit. Die Theologie schuldet den Menschen ein Wort gerade dort, wo die alltägliche Sprache erlischt: im Abgrund der Verzweiflung wie im Hellen der Freude.
Die Theologie kennt weder office hours noch fachwissenschaftliche Grenzen, alles fordert sie heraus.
Diese Verletzbarkeit durch den Menschen, der konkret lebt, macht die Einzigartigkeit der Theologie unter den anderen Wissenschaften aus. In einer Zeit, die im Umgang mit den Menschen immer mehr gnadenlos geworden ist, bedürfen wir alle solch einer Disziplin – seien wir religiös musikalisch oder unmusikalisch. Bei der Theologie handelt es sich nicht nur darum, Religion und religiöse Phänomene zu bändigen, um ihr Gefahrenpotential im öffentlichen Leben der Mitmenschen zu bewältigen, oder um ihr Sinnpotential in einer nunmehr erschöpften westlichen Zivilisation für den säkularen Geschmack unserer Zeit ertragbar und verlockend zu machen. Indem die Theologie sich von dem Menschen, der konkret lebt, in seiner brüchigen bzw. tastenden Suche nach einem gelungenen Leben in aller Zerrissenheit und Verwundbarkeit seines alltäglichen Daseins wirklich berühren lässt, berührt sie dann ihrerseits auch jene Tiefdimension des menschlichen Gefühlslebens, das den bewegenden Grund des humanen Existierens darstellt und dem weder Technik noch Wissenschaft eigentlich gerecht werden können.
Theologie ist keine Dompteurin des Geheimnisses, sie erschließt sein Sinnpotential.
Eine Theologie als „Theorie der Affekte“ könnte das menschliche Gefühlsleben gegen die Ausbeutung durch die unsichtbare Macht eines allumfassenden Markts verteidigen (mit ihrem Zwang zum ständigen Genießen), die unser Begehren künstlich hervorfabriziert, um es in einem grenzenlosen Wechsel der erstrebten Ware endlos konsumieren zu lassen. Eine so verstandene Theologie könnte aber zugleich auch eine adäquate Antwort auf die gewalttätige Reaktion gegen diese Tendenz der westlichen Zivilisation sein, die alles in einer unendlichen Kette reiner Immanenz verschlingt. Eine Reaktion, die auf „einer theologischen Narration mit einem deutlichen spirituellen Charakter“ beruht, welche „einen Einfluss jenseits des Politischen und des Ökonomischen ausüben kann“ (J. Olidort). Die zukünftige Topographie unserer Welt sowie die humanistische Qualität der Gestaltung des Mitmenschlichen scheinen sich immer mehr an der theologischen Deutungshoheit des menschlichen Gefühlslebens zu entscheiden.
Was passiert, wenn der „garstige Graben“ zwischen Theologie und Institution immer breiter wird?
Deshalb müsste die westliche Öffentlichkeit ein redliches Interesse an der Theologie haben, das über die Form von Konkordat bzw. bilateralem Vertrag zwischen Staat und Religionsgemeinschaft wie auch jenseits einer bloßen politischen Konvenienz der Stunde zu gehen hat. Konkordate, oder ähnliche Abkommen, setzen die Möglichkeit einer nationalen und institutionalisierten Verankerung der Religion voraus und sind nur solange wirksam wie Religion und religiöse Phänomene durch greifbare Institutionen vertreten werden und die Grenzen der Nationalstaaten als ihren eigenen Raum – sozusagen – respektieren. Was passiert aber, wenn sich Religion als faktisches Phänomen des menschlichen Zusammenlebens von ihren öffentlichen Vertretungsinstitutionen immer mehr abkoppelt und so flüssig wird, dass sie alle üblichen Grenzen durchbricht? Welcher formale Rahmen ist noch möglich gegenüber einer digitalen Universalität des Religiösen in der Gegenwart, das – gut und klug formatiert – überall und jederzeit exportiert werden kann?
Theologie wird von der Vielfalt an Glaubenserfahrungen zunehmend selbst überholt.
Die komplexe Verwandlung der Lebens- bzw. Weltverhältnisse in unserer Zeit fordert auch eine Neubestimmung der Theologie und ihrer Positionierung im öffentlichen und akademischen Diskurs. Von der langen Auseinandersetzung mit der Moderne und Aufklärung haben wir ein theologisches Modell geerbt, das nunmehr von der vielfältiger gewordenen Glaubenserfahrung selbst überholt worden ist – ohne eine wirklich neue Artikulation der theologischen Sprache bzw. der tragenden Architektur des theologischen Wissens herausgearbeitet zu haben. Es gibt zweifellos Versuche, neue Wege zu gehen, die Grundfrage der Theologie etwas anders zu formulieren, an einer unterschiedlichen Akzentuierung der theologischen Vernunft zu arbeiten. Aber man bewegt sich immer noch innerhalb von Strukturen, die ihre Stärke verloren haben und über keine Innovationskraft mehr zu verfügen scheinen. Die Denkform der Theologie bleibt noch heute zu oft selbstreferentiell: Sie spricht sich selbst an wie in einem Teufelskreis, der die Theologie und ihre Sprache in sich selbst befangen sein lässt.
Das vorgegebene Korsett, in das man neuen Wein zu füllen versucht, ist zu starr.
Jeden Tag, an dem ich in einen Seminarraum meiner Universität eintrete, spüre ich ganz deutlich wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass meine Vorlesung am Leben der Studierenden einfach vorbeigehen kann. Zugleich ist eben diese Diskrepanz zwischen Lebenserfahrung der jüngeren Generationen und Sprache der Theologie der notwendige Anstoß zu einer tiefgreifenden Revision – sowohl des theologischen Wissens als auch der Strukturen, welche die Vermittlung dieses Wissens ermöglichen. Mir scheint es aber, dass das vorgegebene Korsett, in das man neuen Wein zu füllen versucht, zu eng und starr ist, um die Theologie mit der konkreten Lebenserfahrung der Menschen von heute wieder in Berührung zu bringen. Uns gelingen höchstens einige Anpassungen, aber wir haben noch nicht die Stärke, um das theologische Modell, das wir von der Moderne erhalten haben, auf den Kopf zu stellen. Sicher würde diese grundlegende Umgestaltung der Theologie einen Verzicht auf bestimmte Sicherheiten bedeuten, die noch heute ihren Vollzug erleichtern. Wenn wir aber nicht bereit sind, solch ein Risiko einzugehen, könnte es sein, dass wir selbst zu einem langsamen Abschied der westlichen Öffentlichkeit von der Theologie beitragen werden.
„Ist unsere Theologie auf eine Zeit vorbereitet, in der das Verhältnis von Religion und öffentlichem Raum nicht mehr in Form von Konkordaten bestimmt sein wird?“
Die Verantwortung für solch eine Situation liegt vor allem bei der Theologie als akademischer Körperschaft selbst. Die Schuld auf andere zu schieben, wäre zu einfach. Letztendlich wäre dies nichts anders als eine verhängnisvolle Selbstrechtfertigung der Theologie. Abgesichert von einem bequemen System, in dem sich die theologische Körperschaft in eine Art von geschlossener Gesellschaft verwandelt hat, geht man weiter, ohne die Spielregeln auf eigene Gefahr in Frage zu stellen. Ich denke hier nicht so viel an die vexata quaestio des Verhältnisses von Lehramt und Theologie, sondern an jene manchmal unausgesprochenen Spielregeln, die Anerkennung innerhalb der theologischen Gemeinschaft garantieren und die geltenden Strukturen der akademischen Theologie regulieren. Wie lange kann aber das moderne System einer öffentlichen Präsenz der Theologie in der westlichen Kultur noch andauern? Ist unsere Theologie auf eine Zeit vorbereitet, in der das Verhältnis von Religion und öffentlichem Raum nicht mehr in Form von Konkordaten bestimmt sein wird? Und vielleicht wichtiger: Vermag die Theologie ihren Standort im öffentlichen und akademischen Diskurs schon heute ohne die Garantie und die Protektion der Abkommen zwischen Staat und Religionsgemeinschaften zu profilieren? Sonst läuft die Theologie dieselbe Gefahr wie die Demokratie: je mehr man denkt, dass sie eine selbstverständliche Gegebenheit ist, desto undemokratischer wird das mitmenschliche Zusammenleben.
Wir müssen auch aufhören zu denken, dass die brennenden Fragen der westlichen Glaubenserfahrung per se die dringendsten Fragen der Theologie überhaupt zu sein haben.
Die Momente, in denen man das ganze theologische Gerüst völlig neu überlegen kann und muss, sind rar. Wir haben das Glück, einen von solchen Momenten erleben zu können. Steht es uns zu, die Chance wahrzunehmen, die uns der Moment einer Passage von Epochen anbietet? Es ist die Zeit gekommen, die Hand an den Pflug zu legen, ohne zurückzublicken. Wir müssen uns von alten Fragen verabschieden, die uns noch zu viel beschäftigen und an der Vergangenheit hängen lassen. Wir müssen auch aufhören zu denken, dass die brennenden Fragen der westlichen Glaubenserfahrung per se die dringendsten Fragen der Theologie überhaupt zu sein haben. Die große, der Theologie bevorstehende Arbeit wird diejenige an ihrer Neuverortung sein, die im Vollzug der selbständigen Suche nach einer unterschiedlichen Begründung ihrer Legitimität bzw. Plausibilität im öffentlichen und akademischen Kontext der Gegenwart impliziert ist. Ich bin überzeugt, dass diese mühsame Arbeit an der Neuverortung der Theologie auch zu ihrer Annäherung an das konkrete Dasein der Menschen von heute in ihrem jeweiligen Lebensgefüge führen kann. Eine Annäherung, die auch eine erneute Berührung der Theologie mit der Sache des Christlichen bedeuten wird.
(Bild: Alexander Altmann/pixelio.de)