Wir haben nur das Wort – vor langer Zeit gesprochen, aufgeschrieben, weitererzählt. Aus diesem „Nichts“ ein „Etwas“ zu machen – das ist die große Frage in der Christentumsgeschichte. Daniel Kosch bedenkt diese Herausforderung, die einem Experiment gleichkommt, ungesichert und schön zugleich. „Methoden“ – Wege, die das Wort vernehmbar machen – sind jetzt das Wesentliche. Bibliodrama ist ein solcher Weg.
Es gibt zahlreiche räumliche Metaphern, die das Verhältnis zur Bibel ausdrücken: «Das Wort ist dir nah» (Dtn 30,14; Röm 10,8); die Bibel liegt mir fern; die Kirche steht unter dem Wort Gottes; «das Lehramt ist nicht über dem Wort Gottes» (Dei Verbum 10); das Wort lebt in mir; das Wort «hat unter uns gewohnt» (Joh 1,14); die Bibel ist mir ein kritisches Gegenüber. Mit den räumlichen Kategorien von Nähe und Distanz, Über- und Unterordnung, Innen und Aussen wird versucht, die Beziehung von Leserinnen und Hörern zum biblischen Wort zu beschreiben. [1]
Das Bibliodrama-Konzept von Nicolaas Derksen und der Wislikofer Schule für Bibliodrama und Seelsorge [2] nimmt dieses «Sprachspiel» auf und macht es unmittelbar erfahrbar. Denn in diesem Konzept spielt die «Raum-Einteilung» eine zentrale Rolle [3]. Der biblische Text wird selbst zum Raum, in dem die am Bibliodrama Teilnehmenden sich bewegen, sprechen, fühlen, denken und interagieren. Indem sie sich darauf einlassen, positionieren sie sich nicht vis-a-vis zum Text, schauen ihn nicht «von aussen» an, sondern lassen sich buchstäblich auf ihn ein, verorten sich innerhalb des Textes. Er wird – zumindest für die Dauer des Spiels – zur Landkarte des Lebens, zum Koordinatensystem, in dem sich die einzelnen und die Gruppe orientieren. Sie treten in den Textraum ein, werden zu seinen Bewohnerinnen und Bewohnern, und das nicht nur im Geist, sondern mit allem, was sie ausmacht.
Biblischer Textraum
Von dieser Metapher des biblischen Textraums her, in den die Bibliodrama-Spielerinnen und –Spieler eintreten, lässt sich auch das spezifische Verständnis von «Bibliodrama» verdeutlichen, das diesem Konzept zu Grunde liegt: Es ist nicht in erster Linie das Drama des eigenen Lebens oder der eigenen Psyche, das darüber bestimmt, was vom biblischen Text aufgenommen wird und wie es aufgenommen wird. Mindestens versuchsweise lassen die Beteiligten zu, dass die Dramatik und Dynamik des biblischen Textes zur Spielregel, zur Topographie ihres Lebens wird und bringen sich mit all dem, was ihr Leben ausmacht, in den biblischen Textraum ein. Sie nehmen den Text in ihren eigenen Lebensraum auf, indem sie sich in seinen Sprachraum begeben. Wo dies gelingt, geschieht, was der Aargauer Schriftsteller Klaus Merz in einem Vierzeiler so umschreibt [4]:
Lesen
und bemerken:
Du wirst von den Wörtern
verstanden. Manchmal.
Das nachgeschobene «Manchmal» deutet an, dass diese Erfahrung sich nicht automatisch und jedes Mal einstellt. Sie ist nicht machbar. Klaus Merz bezeichnet sie in der Gedichtüberschrift als «Augentrost» – im theologischen Kontext könnte man von einer «Erfahrung von Gnade» sprechen.
Wo sich solches ereignet, entsteht eine Wechselwirkung, ein Austausch, der an die Art erinnert, wie die johanneische Schule das Verhältnis zwischen dem Vater und dem Sohn, zwischen Gott und seinen Kindern beschreibt: Ich in Dir und du in mir – wir in Gott und Gott in uns (z.B. Joh 15-17). Im Bibliodrama, im biblischen Textraum können sich der eigene Lebensraum und der Raum der göttlichen Gegenwart gegenseitig durchdringen. Aufgabe der Leitung ist es dabei, Voraussetzungen zu schaffen und Hilfe zu leisten dazu, dass sich das ereignen kann. So fragt Nico Derksen z.B. eine Teilnehmerin «Hast Du Verbindung mit Adonai in deinem Schmerz?» (48)
Einübung in christliche Lebenskunst
Dieses Verständnis von Bibliodrama als Ort, wo sich in der Begegnung mit dem biblischen Wort der biographische Lebensraum und der Raum der göttlichen Gegenwart gegenseitig durchdringen, begründet auch das Verständnis von «Bibliodrama als Seelsorge» (so der Untertitel des Buches) «als Instrument der Glaubenserfahrung, des Glaubensgesprächs und der Gemeindeentwicklung»[5] oder als «Einübung in christliche Lebenskunst», wie es Nico Derksen gelegentlich formuliert. Es geht um weit mehr als um eine weitere Methode von Bibelarbeit oder biblischer Erwachsenenbildung.
In seinem Geleitwort bezeichnet Gotthard Fuchs Bibliodrama als «eine kleine Schule der Menschwerdung in christlicher Perspektive» (15) und umscheibt es so: «Immer sind diese Sozio- und Psychodramen also auch Theodramen. … Die Vorlage des biblischen Textes wird zum kreativen Medium der Selbst- und Weltgestaltung, und umgekehrt wird das eigene Leben und Verhalten im Lichte der biblischen Geschichten neu beleuchtet und offenbart. So wie die biblischen Geschichten in dem Geist verstanden und gelebt werden wollen, in dem sie geschrieben sind, so wird nun auch das eigene Leben in demselben Geist verstanden und ausgerichtet sein – ein schöpferisches Zusammenspiel, in dem Christenmenschen Gottes Geist selbst am Werk sehen, den wirkenden Gott in seiner fortwährenden Schöpfungs- und Inkarnationstreue.» (12-14)
«Bibliodrama als Seelsorge» liegt also – «katholisch» gesprochen – ein «sakramentales» Bibelverständnis zu Grunde: Es vollzieht sich darin ein «heiliger Tausch» zwischen Gotteswort und Menschenwort, Gotteserfahrung und Lebenserfahrung. Im Anklang an Eucharistie und Abendmahl gilt demzufolge der Grundsatz: «Nur was auf den Tisch kommt, kann verwandelt werden» (96). Und im Anschluss an den Ritus und die Theologie der Taufe ist die Rede vom «eintauchen lassen in den Textraum wie in ein Taufbecken, sodass wir getauft werden im Text und in unserem Leben». Der Text soll zum Raum werden, «der existenzielle Erfahrungen weckt und eine persönliche Glaubenserfahrung möglich macht» (73).
«Im Rachen des Löwen»
Dieses gleichzeitig Beheimatung und Verwandlung versprechende Verständnis von Bibliodrama erinnert auch an das jüdische Verständnis des biblischen Gotteswortes: Nach der Zerstörung des Tempels und nach der Zerstreuung des Gottesvolkes in alle Himmelsrichtungen ist die hebräische Bibel den Söhnen und Töchtern Israels zum «portativen Vaterland» geworden, das sie «mit sich herumschleppten» (Heinrich Heine). Nur dank dieser Beheimatung im Wort konnten die Jüdinnen und Juden in der Zerstreuung überleben. Ähnlich sagt Rose Ausländer (Gedichte, Frankfurt am Main 2001, 251):
«Am Anfang
war das Wort
und das Wort
war bei Gott»
Und Gott gab uns
das Wort
und wir wohnen
im Wort
Und das Wort ist
unser Traum
und der Traum ist
unser Leben
Bei diesen Gedanken über Bibliodrama als «Wohnen im Wort» und über seine verwandelnde Kraft, die unseren Träumen Leben einhaucht, würden wir wohl alle noch gerne verweilen. Aber wir wissen, wie es schon die Bibel weiss, dass das «Wohnen im Wort» uns nicht davor bewahrt, in einer Welt zu wohnen, die nicht nur schön, sondern auch schrecklich und schwierig ist. So schreit der Beter oder die Beterin in Psalm 22,22 zu Gott «befrei mich aus dem Rachen des Löwen». Und in einem Gedicht, das den Titel SALVA NOS trägt und sich auf die Übersetzung dieses Psalmwortes in der Vulgata bezieht, schreibt Hilde Domin[6]:
1
Heute rufen wir
heute nennen wir.
Eine Stimme
die ein Wort sagt
das Widerfahrene
mit etwas Luft die in uns aufsteigt
mit nichts als unserm Atem
Vokale und Konsonanten
zu einem Wort fügend
einem Namen
es zähmt
das Unzähmbare
es zwingt
einen Herzschlag lang
unser Ding zu sein.
2
Dies ist unsere Freiheit
die richtigen Namen nennend
furchtlos
mit der kleinen Stimme
einander rufend
mit der kleinen Stimme
das Verschlingende beim Namen nennen
mit nichts als unserem Atem
salva nos ex ore leonis
den Rachen offen halten
in dem zu wohnen
nicht unsere Wahl ist.
Wohnen in unserer Welt, leben in unseren Beziehungen, wohnen im Wort, leben im biblischen Textraum ist keineswegs immer wohnlich, bergend und beheimatend. Viele, viel zu viele Menschen leben unter Bedingungen, die jenen im Rachen des Löwen gleichen, in dem zu wohnen nicht ihre Wahl ist: Jene, die an Leib und Leben bedroht sind; jene, die in Gefahr sind, auf der Flucht von den Fluten des Meeres verschlungen zu werden; aber auch jene, für die das Leben ein Albtraum ist, weil Depression, chronische Krankheit, heillose Familienkonstellationen, Einsamkeit oder Verzweiflung ihr Leben unerträglich machen, ohne dass es daraus ein einfaches Entkommen gibt.
Aber nicht nur die Räume, die uns das Leben bietet, sind längst nicht immer so, dass wir darin «Schöner wohnen» könnten, wie es das einschlägige Hochglanz-Magazin suggeriert. Das johanneische Wort «Im Hause meines Vaters sind viele Wohnungen» (Joh 14,2) trifft auch auf die unterschiedlichen Texträume zu, die zu bewohnen uns die Bibel anbietet und oft genug zumutet.
Im Hause meines Vater sind viele Wohnungen (Joh 14,2)
Gerade von der historischen und sozialgeschichtlichen Exegese ist zu lernen, dass die Texte ihren Sitz im Leben nicht nur im Tempel, in schönen Kirchen und Synagogen, geheizten Wohnzimmern und anregenden Studierstuben haben, sondern auch im Gefängnis oder in der Küche, im Raum der Grossstadt und in der einsamen Klause, auf dem Krankenlager, in der Wanderung durch die lebensbedrohliche Wüste und im manchmal verzweifelten Kampf um Gerechtigkeit und Lebenschancen in einer brutalen Welt und ausbeuterischen Strukturen.
Es ist deshalb ein grosses Verdienst des neuen Buches und der bibliodramatischen Praxis, die ihm vorausliegt, nicht nur mit schönen Texten oder solchen mit einem guten Ausgang im Sinne von Heilung, Befreiung und Eröffnung neuer Lebensperspektiven zu arbeiten. Das Buch ermutigt, «die ganze Bibel ernst zu nehmen, vor allem auch die schwierigen Texte, die von Hass und Gewalt, Vergeltung, Gericht und Rache handeln». Die «Bibel als Ganzes» ist «grossartig», «weil sie nichts wegredet, nichts schönredet, nichts eliminiert. Wir sind dadurch eingeladen, das ganze Leben wahr und ernst zu nehmen, das Gute und Schöne genauso wie das Böse und Hässliche. … Zorn und Wut Gottes haben nichts zu tun mit Strafe, Hass, Vergeltung, moralisierenden Urteilen. Sie sind zu verstehen als Gottes Suche nach Beziehung zu seinen Menschen zu seinem Volk. Wut und Zorn sind Ausdrücke seiner Enttäuschung, sind Ausdruck von Verlangen, wieder in Beziehung miteinander zu kommen. … Im Leben wie im Bibliodrama zeigt sich, dass Gefühle, Orte von Rache und Vergeltung, nicht verneint oder umgangen werden können. Erst wenn beide Orte ernst genommen werden, kann Rettung geschehen.» (138f.)
Vertrauensvorschuss für den biblischen Text
Hinter diesem Zugang zu den «schwierigen» Bibeltexten steht ein Offenbarungsverständnis, das so formuliert wird: «Wir nehmen diese Texte als Wort Gottes, als vom Geist inspirierte Texte. Sie sind eine Einladung an uns alle zu hören, zu lesen, zu interpretieren. … Die Bibel ist ein Buch, ein kostbares Buch. Sie enthält Lebens- und Glaubenserfahrungen, aber sie bewahrt nicht alle Lebens- und Glaubenserfahrungen. … Es geht um die Konfrontation mit diesen Texten, um eine Entdeckungsreise, die uns erfahren lässt, was in uns wirksam wird, wenn wir uns auf diese Texte einlassen, so wie sie sind.» (74) Poetisch heisst es andernorts: «Leben ist Leben und Tod, Segen und Fluch, Gastfreundschaft und Hass, Treue und Bruch. Leben ist Gelassenheit, und Leben ist Zorn.» (157)
Wer, der mit der Wislikofer Schule für Bibliodrama die Liebe zur Bibel und zum Leben und das Leiden an dem teilt, was Leben beschädigt und zerstört, möchte nicht zustimmen? Wer, der an Ungerechtigkeit und Unmenschlichkeit leidet, möchte nicht ohne Einschränkungen sagen können: «Der Gott der Bibel ist ein gerechter Gott, er will Menschen Recht tun, Opfern und Tätern, er will Unrecht ans Licht bringen, sodass Opfer und Täter endlich hören und sehen, was los ist, was angetan wird, wie gelitten wird, wie verletzt wird. Erst so lernen wir, dass Gott anders ist, als wir denken.» (157)?
Es ist richtig, dem biblischen Text mit einem Vertrauensvorschuss zu begegnen.
Zwar kann ich solchen Formulierungen mit Blick auf das gesamte „Bibelhaus“ zustimmen. Und ich bin auch einverstanden damit, dass die Ablehnung von Bibeltexten, die wie etwa das Amos-Buch mit harten Forderungen und drohenden Worten auf Ungerechtigkeit reagieren, oft auf Verdrängung oder auf unverarbeiteten Mustern religiöser Erziehung beruht. Ich finde es daher durchaus richtig, dem biblischen Text mit einem Vertrauensvorschuss zu begegnen, sich auf ihn einzulassen. Ruft ein Text Widerstände oder Kritik hervor, ist es wichtig, zuerst die eigene Lesart und die eigenen Erwartungen zu hinterfragen: Will ich gewisse harte Realitäten nicht wahrhaben? Will ich mich dem Anspruch der biblischen Gerechtigkeitsforderung entziehen? Steht hinter meinen Widerständen die nicht-erwachsene Hoffnung auf eine Welt, in der Gerechtigkeit keinen Preis hat? Ziehe ich es vor, der Illusion nachzuhängen, dass die Armen satt und selig werden, ohne dass die Reichen damit konfrontiert werden, dass ihr Tun unselig ist und dass die Strukturen des Bösen einer grösseren Gerechtigkeit weichen müssen? Verkrieche ich mich in ein selbstgebautes kuscheliges Barmherzigkeitsnest, um nicht dem rauen Gegenwind ausgesetzt zu sein, der mir im weiten Raum des prophetischen Gotteswortes ins Gesicht bläst und mich damit konfrontiert, dass nicht nur die Welt und die Kirche, sondern auch ich selbst umkehren und mein Leben ändern muss?
Es ist wichtig, dass biblischen Texten, die uns mit solchen Fragen konfrontieren, im Bibliodrama wie in der Verkündigung Raum gegeben wird. Und es hat mich bei der Lektüre beeindruckt zu sehen, was geschehen kann, wenn Menschen sich in solche Texträume hineinbegeben und sie nicht nur aus Distanz beschreiben und analysieren. Gleichzeitig haben mich zwei Fragen [7] umgetrieben, mit denen ich schliessen möchte:
Notwendiger Exodus aus biblischen Texten?
Um beim Bild des Raumes zu bleiben, möchte ich die erste Frage so stellen: Gibt es in der Bibel nicht auch Texträume, in denen es nicht zu wohnen, sondern aus denen es auszuziehen gilt –nicht «gegen», sondern «um Gottes Willen»? Gibt es nicht so etwas wie einen notwendigen «Exodus» aus biblischen Texten? Müssen nicht manche Mauern, die in biblischen Texträumen aufgerichtet werden, niedergerissen werden? Gibt es nicht Texträume, in denen es z.B. Frauen es unmöglich ist, frei zu atmen und aufrecht zu stehen? Gibt es nicht Texträume, die bis heute als Giftkammern für Antijudaismus oder Diskriminierung von Homosexuellen dienen? Gibt es nicht Texträume, die nicht nur um der Freiheit und Würde aller Menschen willen aufgesprengt werden müssen, sondern, weil sie den biblischen Gott einsperren und auf ein bestimmtes Bild festlegen und das Bilderverbot missachten? Zwar wäre es falsch, sämtliche Texträume, in denen solche Gefahren drohen, mit dem Schild «betreten verboten» zu versehen, denn auch in solchen Räumen gibt es Befreiendes und Lebensdienliches zu entdecken. Aber bei der bibliodramatischen Raumeinteilung müsste vielleicht ein Raum ausserhalb des Textraumes vorgesehen werden – und es muss damit gerechnet werden, dass Mitspielerinnen und Mitspielern Adonai nicht innerhalb des Textraumes begegnen, sondern erst, indem sie ihn verlassen.
Bibliodrama in Zeiten transzendentaler Obdachlosigkeit?
Meine zweite Frage hängt damit zusammen, dass sich unser Menschsein nicht nur im Raum abspielt, sondern auch in der Zeit. Beim bibliodramatischen Eintreten in den biblischen Textraum kann der Eindruck entstehen, als spiele die Zeit keine Rolle, die zwischen uns und dem biblischen Text liegt. Aber wir leben heute in einer anderen Zeit. Das gilt nicht nur für die äusseren Lebensumstände, sondern auch für die Frage nach Gott und seinem Wirken in der Welt. Die Bibel spricht von einem geschichtsmächtigen Gott. Er heilt und befreit, er greift rettend ein oder wendet sich von seinem treulosen Volk ab, er spricht und schweigt, er beruft Propheten und beschenkt Menschen mit seinen Gnadengaben, er führt sein Volk durch die Wüste und schickt es in die Verbannung. Nach mehr als 2000 Jahren Philosophiegeschichte können wir nicht mehr so einfach und direkt von Gottes Wirken sprechen. Wir sind durch das Feuer der Aufklärung gegangen und durch jenes der Religionskritik. Wir leben nach Auschwitz und im Horizont der Postmoderne, die keine absoluten Gewissheiten mehr kennt. Wir wissen, dass kein Gott den Sturm stillt, um die Flüchtlinge in den überfüllten Booten zu retten. Im Juli 1944 notierte Dietrich Bonhoeffer in der Gefängniszelle, «dass wir leben müssen als solche, die mit dem Leben ohne Gott fertig werden». Es gehöre zur «intellektuellen Redlichkeit» Gott als «Arbeitshypothese fallen zu lassen …Vor und mit Gott leben wir ohne Gott.» [8]
Theologisch in derselben Spur schreibt Magnus Striet «Ich rechne nicht mehr mit einem Eingreifen Gottes in den Natur- oder auch in den Geschichtsverlauf. Die Erfahrung steht mit voller Härte gegen die Vorstellung eines eingreifenden Gottes.» [9] Er spricht deshalb von Gott als einem «Sehnsuchtswort». In diesem Zusammenhang beschäftigt mich die Frage, ob Bibliodrama – und die kirchliche Verkündigung insgesamt – der «transzendentalen Obdachlosigkeit» unserer Zeit ausreichend Rechnung trägt. Denn davon, dass wir uns auch im biblischen Textraum als moderne Menschen ohne die Arbeitshypothese eines eingreifenden Gottes bewegen, hängt ab, ob wir uns ohne Verzicht auf intellektuelle Redlichkeit auf das Bibliodrama einlassen können. Nur unter der Voraussetzung, dass wir im Bibliodrama die Gottesfrage, wie unsere Zeit sie stellt, radikal ernst nehmen kann es der aufgeklärten Rationalität verpflichteten Menschen tatsächlich helfen, «den Rachen offen zu halten, in dem zu wohnen nicht unsere Wahl ist» (Hilde Domin).
[1] Der Text geht zurück auf ein Referat des Autors anlässlich der Buchvernissage von «Bibliodrama als Seelsorge» (s.u. Anm. 2) am 27. Mai 2016 in Wislikofen/Aargau (Schweiz).
[2] Nicolaas Derksen, Claudia Mennen, Sabine Tscherner, Bibliodrama als Seelsorge. Im Spiel mit dunklen Gottesbildern. Ein Praxisbuch, Ostfildern 2016.
[3] Vgl. besonders 69ff. und die vielen Beispiele.
[4] Klaus Merz, Die Lamellen stehen offen. Frühe Lyrik 1963-1991 (Werkausgabe, Band 1), Innsbruck-Wien 2011, 234.
[5] Vgl. www.bibliodramaundseelsorge.ch.
[6] Hilde Domin, Sämtliche Gedichte, Frankfurt am Main 2009, 117f.
[7] Diese Fragen beziehen sich – mangels konkreter Erfahrung mit der konkreten bibliodramatischen Arbeit der Wislikofer-Schule für Bibliodrama, zu der neben dem eigentlichen «Spiel» auch Textarbeit und Reflexion der Erfahrungen gehören, nur auf das vorliegende Buch.
[8] Dietrich Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft (DBW 8), München 1998, 533.
[9] Magnus Striet, In der Gottesschleife. Von religiöser Sehnsucht in der Moderne, Freiburg22015, 16f.
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Daniel Kosch ist promovierter Theologe im Fachbereich Neues Testament. Von 1992 bis 2001 leitete er die Bibelpastorale Arbeitsstelle des Schweizerischen Katholischen Bibelwerks in Zürich. Seitdem wirkt er als Generalsekretär der Römisch-Katholischen Zentralkonferenz der Schweiz. Zahlreiche Publikationen zur historischen Jesusforschung, Paulus und den Anfängen der Kirche, Grundsatzfragen der biblischen Erwachsenenbildung, sowie – verbunden mit seiner aktuellen Funktion – zu Fragen des Staatskirchenrechts, der Kirchenfinanzierung und des Kirchenmanagements.
Bild: Jürgen Jotzo / pixelio.de