Gottesdienst in einem ganz anderen Setting. Emilia Handke berichtet von einem neuen Format in Hamburg.
Der Gottesdienst ist ein zentrales Erkennungszeichen der Kirche, eines ihrer Identitätsmarker sozusagen. Obwohl oder gerade weil er sonntags nur etwa drei Prozent der evangelischen Kirchenmitglieder erreicht, arbeiten wir uns an ihm ab – zuletzt in der deutschlandweiten Studie der Liturgischen Konferenz „Faktoren des Kirchgangs heute“. Und dabei wird deutlich: Er ist ein Zielgruppengottesdienst für hochverbundene, engagierte, ältere Mitglieder. Deren Bedürfnisse sind nur schwer mit den vermuteten Bedürfnissen derjenigen in Einklang zu bringen, die nicht kommen, aber durchaus religiös gestimmt sind.
diejenigen, die nicht kommen, aber religiös gestimmt sind
Diese längst bekannte Diagnose bildete auch für uns den Ausgangspunkt unserer Kreativ-Offensive – einer Kooperation zwischen Matthias Lemme (Pastor in der Kirchengemeinde Ottensen), Susanne Niemeyer (freie Autorin und Kolumnistin), David Barth (Bildungsreferent bei der Evangelischen Jugend Hamburg), Jan Keßler (Popularkirchenmusiker) und mir. Wir machten uns in der Küche von Matthias Lemme gegenseitig zu Sensoren: In welchen Gottesdienst würden wir selbst gerne gehen? Wie müsste die Stimmung sein, damit wir uns liturgisch und metaphysisch geborgen – oder anders gesprochen: religiös zuhause – fühlen können? Welches Format fehlt der Stadt Hamburg? In welches gottesdienstliche Format könnten wir selbst bedenkenlos einladen? Wichtige Koordinaten, die wir bei Croissants, Rührei und Kaffee vom Herd gefunden haben, will ich im Folgenden skizzieren.
religiös zuhause fühlen
Das Wohnzimmer – ein anderes Setting von Kirche
Ich bin schon oft gefragt worden, was es mit dem Namen „Wohnzimmerkirche“ in unserem Abendformat freitags 20:30 Uhr in der Christianskirche in Hamburg-Ottensen auf sich hat. Es ist nicht mehr und nicht weniger als ein anderes Setting von Kirche – eines, was der Stadt Hamburg zumindest im landeskirchlichen Bereich tatsächlich fehlt. Dass Räume Botschafter für Gedanken sind und bestimmte Gefühle erzeugen, das wusste der Architekt Steve Collins in religiöser Hinsicht zu deuten. Ihm zufolge waren die Kirchen in den großen Gestaltungsepochen des 14. und 18. Jahrhunderts in ihrer Anordnung als Thronsaal und als Klassenzimmer nicht besonders dialogisch ausgerichtet.
Wohnzimmer statt Thronsaal oder Klassenzimmer
Weil uns die Bänke automatisch in die Rolle der Zuhörenden klemmen, stellen wir im Altarraum kleine Sofas, Tische und Stühle auf. Über die Empore wird eine Lampion-Girlande gespannt, das Gewölbe leuchtet – „Abend, Brot und Sterne“ eben. Auf den umgedrehten Holzkisten stehen Limos, Bier und Wein, auf halber Strecke gibt es etwas zu Essen – „Mahl feiern“ (Christian Grethlein) wie auf einer Hausparty oder in einer Kneipe. Das ist ein Setting, das auch gottesdienstlich Ungeübten vertraut ist. Es war uns wichtig, eine Form zu finden, die möglichst wenig voraussetzt – einen Gottesdienst für Anfänger*innen sozusagen. Schon bevor es beginnt, kommen die Leute ab 20 Uhr bei einem Getränk ins Reden oder sitzen und lauschen einfach. In der Mitte des Altarraums steht ein umfunktionierter, schrabbeliger alter Kaugummi-Automat auf einem Sockel mit kleinen Plastikkugeln, die Fragen zum Gottesdienstthema enthalten, wie z.B. „Was war das erste, was du heute Morgen gedacht hast?“, „Welche Figur in der Weihnachtsgeschichte wärest du wohl gewesen?“ oder „Wovon träumst du?“. Anstelle der Predigt ziehen wir selbst manchmal öffentlich eine Kugel aus dem „Fragomaten“ und werden persönlich. Dass Steve Collins für das 21. Jahrhundert das Leitbild der Kirche als Wohnzimmer entwirft, erfuhren wir erst hinterher – und mussten schmunzeln, weil im Grunde alles passt:
„In Zukunft sollte die Kirche vielmehr einem Wohnzimmer entsprechen und ein Ort sein, an dem Gott als Gastgeber erfahrbar wird. Statt der Anbetung oder der Unterweisung dient der Raum vor allem der Interaktion. Statt Kirchenbänken oder schmuckvollen Altarbildern prägen Sessel und Tische, miteinander geteilte Geschichten und Vernetzungsmöglichkeiten den Raum. Der Ort, an dem Menschen als Glaubende zusammenkommen, wird zu einem Ort, an dem sie auch Leben miteinander teilen.“[1]
miteinander geteilte Geschichten
Mit der Gemeinde in Ottensen haben wir Glück – die macht das nämlich mit und freut sich daran. Ein Teil ihrer Gemeindemitglieder aus der Gruppe der sog. Jungen Erwachsenen, für die wir etwas Passendes entwickeln wollten, ist extra angeschrieben worden – mittlerweile erstreckt sich die Spannweite der Besucher*innen von Kindern, die auf dem Boden nach dem Gottesdienst am Valentinstag mit Rosenblättern spielen, bis zu Leuten am Ende der 70. Es sind Menschen, die zum Teil von weit her kommen, um einen Gottesdienst zu feiern, nach dem sie lange gesucht haben. Es sind aber auch Menschen aus der Gemeinde in Ottensen, die sich auf ein neues Experiment immer wieder gerne einlassen. Und es sind tatsächlich auch Menschen, die sonst nicht in Gottesdienste gehen – und das einmal ausprobieren wollen. Hinzukommen einige kirchliche Mitarbeiter*innen, die es interessiert und die selbst etwas für ihre Seele brauchen.
Ein paar Plakate hängen wir auf, das Meiste läuft jedoch über Mund-zu-Mund-Propaganda. Wer sich wohlfühlt, der oder die kommt wieder. Und Gelegenheiten zum Wiederkommen gibt es etwa alle sechs Wochen unter unterschiedlichen Titeln wie „Ich sehe was, was du nicht siehst“, „Wenn Träume Mauern stürzen“, „Wir warten. Auf die Nachricht, auf das Wunder, auf den Bus“, „Liebe. Unzähmbar“ oder „Vom Fallen & Fliegen“. Die Regelmäßigkeit und die Anbindung an einen Ort machen das Community-Building leichter.
Wir warten. Auf die Nachricht, auf das Wunder, auf den Bus.
Liturgie – zwischen Lässigkeit und Spannung
Wir alle, die diesen Gottesdienst konzipieren und in unseren Köpfen und Herzen bewegen, sind mit der klassischen Liturgie vertraut. Wir orientieren uns an dem, was uns selbst kostbar geworden ist und verändern das, was uns nicht hilfreich erscheint, um es Menschen zu erleichtern, sich bei und mit uns zuhause zu fühlen. Wir interpretieren die liturgische Tradition, eignen sie uns an. Biblische Texte, die aus unserer Sicht nichts von ihrer Erzählkraft und Magie eingebüßt haben, verleihen wir unsere Stimmen und aktualisieren sie damit. Ein Beispiel aus einem Text von Susanne Niemeyer über die Berufung Jeremias:
„Was siehst du?“, fragt Gott? Mio schluckt. „Ich sehe eine Welt, die tobt. Ich sehe ein Fass, das überläuft. Ich sehe einen brodelnden Kessel. Ich sehe Risse in der Fassade.“ – „Ja“, sagt Gott, „was siehst du noch?“ – „Ich sehe Menschen, die tropfenweise Feuer löschen. Ich sehe Liebende, die sich an einem Strohhalm festhalten. Ich sehe, wie einer eine Lanze bricht.“ (So oder so ähnlich steht’s geschrieben beim Propheten Jeremia …)
Anverwandlung traditioneller Brocken
Ohne diese Anverwandlung muss man in der Regel viel Konzentration aufbringen, um eine Ahnung zu bekommen, worum es in Jer 1 eigentlich geht und was es für uns Heutige nun bedeuten könnte. Die Auslegung des traditionellen Brockens geschieht normalerweise in der Predigt – wir wollen die Sache dagegen von Anfang an auf den Tisch bringen.
Aber der Reihe nach: Nach einem Lied, das die Welt bedeutet – wie z.B. „All you need is love“ von den Beatles – beginnen wir für gewöhnlich mit einer Aktion. Bisher waren das ein Portal mit dem Spiel „Ich sehe was, was du nicht siehst“ in dessen ganzer Bedeutungstiefe; persönliche Erzählungen über das Erleben des 9. Novembers 1989; Antworten auf die Frage, worauf wir selbst eigentlich gerade warten im Advent; und zuletzt das Schreiben eines Liebesbriefs mit unbekannten Gästen der Wohnzimmerkirche.
Popsongs – Einstimmen ist leicht und leidenschaftlich
Dann singen wir bekannte Popsongs, die das Thema unseres Abends variieren – das Einstimmen ist leicht und leidenschaftlich. Anschließend betet jemand von uns – mehr oder wenig frei, von den Plätzen inmitten der Gäste aus, eben wie in einem Wohnzimmer. Wieder folgt ein Lied, zuletzt war dies „Auf viele 1000 Arten“. Kriterium ist immer die einfache Erlernbarkeit und das Passungsverhältnis zu dem, was folgt – z.B. verschiedene Texte aus der Bibel, die von der Vielfalt und Unzähmbarkeit der Liebe erzählen wie David an Bathseba, Rut an ihre Schwiegermutter Noomi, Gott an Mensch, Adam an Eva, der Wolf an das Lamm oder Zachäus an sich selbst. Wir machen uns damit viel Mühe. Ein Beispiel – Maria von Magdala an Jesus:
„Ich liebe es, wie du meinen Namen sagst. Dass du dich mir zeigst, dass du meine Geister vertreibst, durch die Nacht mit mir gehst. Ich liebe es, dass du mich sein lässt, die ich bin. Deine Füße liebe ich. Deinen Kopf auch. Wir legen einander Worte in den Mund, lassen die Welt auf der Zunge entstehen. Du verwandelst mich, so wie du Wasser in Wein verwandelst.“ (Susanne Niemeyer)
Ob Jeremias Berufung oder die Schattierungen der Liebe aus der Bibel – immer geht es darum, die Korrelation zu finden zwischen dem heiligen Text und dem, was uns heute unbedingt angeht. Und weil das immer gewaltige Worte sind, ist es entlastend, danach zu singen – zuletzt: „Wunderbar ist die Welt“ mit einem überraschenden deutschen Text von Manfred Krug.
das „Zentralheiligtum“: der Fragomat
Und dann kommt endlich unser „Zentralheiligtum“ – der Fragomat – in der Mitte des Wohnzimmers ins Spiel: Die Leute ziehen in Kleingruppen Fragen und erzählen sich voneinander, lernen sich darüber kennen. Wenn eine Frage nicht passt, wird eine neue gezogen.
Zu leiser Musik decken wir die Tische und sagen Dank für das, was wir haben und miteinander erleben dürfen. Für uns ist dies etwas Ursprüngliches des Abendmahls – sich im Geiste Jesu zu versammeln, ohne dies explizit machen zu müssen. Den Kern freilegen und freigeben. Nach Essen und Reden und Lauschen singen wir wieder von den vorbereiteten Liedblättern – zuletzt: „Weil ich dich liebe“ von Westernhagen und „Gewinner“ von Clueso.
Essen und Reden und Lauschen
Und dann kommen die Fürbitten. Dabei haben wir immer unterschiedliche Formen probiert. Zum Beispiel mit dem Kyrie eleison von Herman van Veen und der Bitte Vornamen aufzuschreiben, für die wir beten sollen. Zehn Minuten lang kann man eine Stecknadel fallen hören, während die Namen wie in einer Litanei verlesen werden. Beim dritten Mal einen einzigen Namen auf einen goldenen Stern schreiben, der an einer Girlande befestigt und damit in den Himmel geschrieben wird. Magische Atmosphäre. Überall leuchtet es. Beim letzten Mal haben wir eine Kerze für uns selbst entzündet, mit allem, was ich Gott über mich und die Liebe sagen will. Dazu wieder Musik, u.a. das Monatslied „Ganz egal, wo auf der Welt“ – ein Vaterunser-Ersatz, weil ein solches Gebet das Wohnzimmer-Setting verlassen würde.
ausklingen lassen – sich selbst am Ende der Woche
Zum Schluss ein in das Lied „Dass der Segen Gottes mit dir ist“ gesprochener Segen und die Einladung zu bleiben. Die Kollekte in großen Gläsern auf den umgedrehten Holzkisten geht neben einer Spende für Speis und Trank an ein Projekt, das mit dem Gottesdienstthema zu tun hat. Nach Mitternacht sitzen immer noch einige im Altarraum und lassen ausklingen – was sie erlebt haben und sich selbst am Ende dieser Woche. Und über allem Brot der Abend und die Sterne.
Und das Fazit? Zusammen ist man weniger allein – als Liturg*in ebenso wie als Mensch, der unruhig durch diese Welt treibt. Ein religiöses Zuhause für einen Abend zu schaffen, das scheint für ziemlich viele unterschiedliche Menschen gelungen zu sein.
Die nächsten Termine stehen hier.
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Dr. Emilia Handke, leitet als Pastorin das Werk „Kirche im Dialog“ der Nordkirche
Bilder: Thomas Hirsch-Hüffell
[1] Lena Niekler/Christian Schernus: Gemeinschaft leben: Dabeisein und dazugehören, in: Katharina Haubold/Florian Karcher/Lena Niekler: Jugendarbeit zwischen Tradition und Innovation. Fresh X mit Jugendlichen gestalten, Neukirchen-Vluyn 2019, 130.