Carolin Hohmann stellt zentrale Anliegen und Perspektiven von Womanist Theology vor und fragt nach deren Bedeutung und Auftrag für die deutschsprachige Theologie.
„Womanist Theology?“, frage ich mich und suche schnell eine kurze Zusammenfassung auf Wikipedia, um meinen US-amerikanischen Kolleg:innen im Kolloquium folgen zu können. Kein Eintrag in deutscher Sprache. Auch ein Blick auf Arbeiten innerhalb der deutschsprachigen Theologie liefert kaum Ergebnisse, ich bin erstmal ratlos.
Was ist Womanist Theology?
Bevor diese Frage beantwortet werden kann, ist eine Definition von Womanist notwendig. Eingeführt wurde der Begriff Womanist von der Schriftstellerin („Die Farbe Lila“) und Aktivistin Alice Walker mit folgenden Worten:
„1. Von womanish (frauenhaft): Gegenteil von girlish (mädchenhaft) […]. Von einer traditionellen Redensart [Schwarzer Menschen] abgeleitet, mit der Mütter ihre Töchter ermahnen […]. Bezieht sich normalerweise auf ungehöriges, gewagtes […] Verhalten. Mehr wissen wollen […], als angeblich gut für einen ist. 2. Auch: Eine Frau, die andere Frauen liebt sexuell und/oder nicht sexuell. […] Hat sich dem Überleben der Menschheit und dem ganzheitlichen Menschen verschrieben […]. 3. Liebt die Musik. Liebt das Tanzen. […] Liebt den Kampf. Liebt ihre Leute. Liebt sich selbst. Ohne Einschränkung. 4. Womanist ist im Vergleich zu feministisch wie lila zu lavendel.“[1]
Diese Definition ist lang, und doch ist jeder Punkt wichtig. Stephanie Y. Mitchem fasst Walkers Definition als Ausdruck dessen zusammen, was es bedeutet, eine Schwarze Frau zu sein.[2] Dabei spielt Intersektionalität – die Verwobenheit sozialer Kategorien – eine wichtige Rolle: Die Bürgerrechtsbewegung war für Walker Anlass für ihren Aktivismus, gleichwohl ihre Interessen als Frau dort wenig gesehen wurden; die Frauenbewegung hingegen war blind für den (von weißen Frauen teils unterstützten) Rassismus in den USA.[3] Diese fehlende intersektionale Perspektive kritisierte Walker, was den Beginn der Womanism-Bewegung markierte.
was es bedeutet, eine Schwarze Frau zu sein
Auch die Theologie war von dieser Kritik nicht unberührt: Während sich die feministische Theologie vor allem auf Erfahrungen weißer Frauen stützte, wurden Erfahrungen Schwarzer Frauen in der Black Theology oft übersehen. Patricia Hill Collins bezeichnet die Realität Schwarzer Frauen in der Universitätslandschaft daher als „outsiders-within“[4], als Außenseiter:innen im Inneren. Walker rückt diese Erfahrung mit der Gegenüberstellung der Farben Lila und Lavendel ins Zentrum: Beide Farben liegen im Farbspektrum nah beieinander und doch unterscheiden sie sich. Die Farbe Lila wird bei Walker, angelehnt an ihren gleichnamigen Roman, zum Symbol für Freiheit und Rebellion gegen gesellschaftlich vorgegebene Wege; Lila als Ergebnis von Rot und Blau, als Gleichgewicht zwischen Stärke (Rot) und Ruhe (Blau).[5] Beide Farben, Lila und Lavendel, haben genauso wie womanistische und feministische Forschung ihre Relevanz. Für Walker ist Womanism offener, weil hier feministische Perspektiven inkludiert sind, was umgekehrt kaum zutraf. „Ich glaub, Gott ist sauer, wenn da irgendwo auf einer Wiese die Farbe Lila ist und du gehst dran vorbei und siehst sie gar nicht“[6], lautet ein Zitat aus Walkers Roman „Die Farbe Lila“.
outsiders-within
Für den akademischen Diskurs ist dies als Verweis darauf zu lesen, dass feministische Theorie (auch Theologie!) Perspektiven Schwarzer Frauen lange ausblendete und ausschließlich weiße Perspektiven ins Zentrum rückte. Katie G. Cannon war eine der Mitbegründerinnen der Womanist Theology, die fehlende intersektionale Perspektiven innerhalb der ‚Mainstream-Theologie‘ kritisierte. Weil Erfahrungen von Unterdrückung und Marginalisierung, insbesondere die Stimmen Schwarzer und in Armut lebender Frauen, kaum Gehör fanden, setzte Cannon in ihrem Aktivismus und in ihrer Forschung die „Geringsten unter ihnen“ (Mt 25,40) in den Fokus. Dabei fordert sie die Anerkennung eines epistemologischen Privilegs der Unterdrückten.[7]
Wo ist Womanist Theology (nicht)?
Arbeiten zur Womanist Theology finden sich primär in der Theologie und Ethik des US-amerikanischen Raums. In der deutschsprachigen Theologie hingegen sind Stimmen der Womanist Theology oder deren Rezeption selten; zumindest zählt die Womanist Theology nicht zum theologischen Mainstream. Dies hängt sicher stark mit deren US-amerikanischen Wurzeln, insbesondere historisch mit der „Rassen“-Trennung („racial segregation“) und den noch immer anhaltenden Unterdrückungserfahrungen Schwarzer Menschen in den USA zusammen. Die spezifische Situation Schwarzer Frauen in den USA mag sich von Erfahrungen Schwarzer Frauen in anderen Ländern und Kontexten unterscheiden.
Nichtsdestotrotz sind die Themen der Womanist Theology auch für den deutschsprachigen Kontext relevant: Wie gehen wir in der Theologie, aber auch als Gesellschaft mit Rassismus um, sowohl auf individueller als auch auf struktureller Ebene? Welche Bedeutung erhalten dabei intersektionale Perspektiven, insbesondere die Verwobenheit mit Geschlecht, Klasse und Religion? Die US-amerikanischen Bezugspunkte dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass Rassismus auch in Deutschland gegenwärtig war und ist. Der Nationale Diskriminierungs- und Rassismusmonitor (NaDiRa) weist darauf hin, dass Rassismus und rassistische Gewalt zwar zunehmend in den Medien genannt, strukturelle Dimensionen jedoch kaum thematisiert werden.[8] Dabei sind Rassismuserfahrungen einer Studie der EU-Agentur für Grundrechte (FRA) zufolge unter 13 befragten EU-Ländern in Deutschland am höchsten und haben für Betroffene in den vergangenen Jahren sogar zugenommen.[9]
Rassismus ist auch in Deutschland gegenwärtig.
Womanist Theology setzt sich mit Themen wie Anti-Schwarzer Rassismus („anti-Black racism“) und weiße Vorherrschaft („white supremacy“) auseinander. Erfahrungen Schwarzer Frauen stehen im Fokus, gleichwohl sind ihre Arbeiten gesamtgesellschaftlich relevant und dürfen nicht verengt rezipiert werden. Angesichts gegenwärtiger politischer Diskussionen und des Erstarkens rechtspopulistischer Parteien ist eine Auseinandersetzung mit (intersektionalen) Rassismuserfahrungen auch in der Theologie dringend geboten. Die Verwobenheit mit weiteren sozialen Kategorien – etwa Geschlecht, Klasse, Religion – darf dabei keineswegs ausgeblendet werden. Ein NaDiRa-Bericht weist darauf hin, dass die Konstruktion der unselbstständigen Abhängigen (als Abgrenzung zur weißen, erwerbstätigen und gleichberechtigt lebenden Frau) mehrheitlich Schwarze Frauen und Musliminnen betrifft.[10] Ebenso ist die Armutsgefährdung für rassistisch markierte Menschen deutlich höher.[11] Die Verwobenheit von Rassismus und Religion zeigt sich darin, dass muslimisch markierte Frauen Diskriminierungen aufgrund religiöser Kulturalisierungen erfahren, die mehrheitlich am Kopftuch festgemacht werden.[12]
Diskriminierung aufgrund religiöser Kulturalisierung
Ein weiterer Aspekt ist die Bedeutung von Empowerment. Womanist Theology geht es nicht ausschließlich darum, Diskriminierungserfahrungen Schwarzer Frauen sichtbar zu machen, sondern ebenso (bislang unsichtbare) Ermächtigungsstrategien offenzulegen und ihre theologische Bedeutsamkeit anzuerkennen: „Und wenn wir (um Alice Walkers schönen Ausdruck zu verwenden) auf der Suche nach den Gärten unserer Mütter sind, geht es eigentlich nicht darum, herauszufinden, wer auf ihnen herumgetrampelt ist oder wie oder warum – das wissen wir normalerweise schon. Vielmehr geht es darum, zu erfahren, was unsere Mütter dort gepflanzt haben, was sie dachten, als sie säten, und wie sie das Verblühen so vieler Früchte überlebten.“[13]
erfahren, was unsere Mütter dachten und wie sie überlebten.
So wichtig es ist, Erfahrungen von Diskriminierung und Unterdrückung sichtbar zu machen, so wichtig ist es ebenso, Menschen nicht auf ihre vermeintliche Rolle als die ausschließlich Benachteiligten festzulegen. Empowerment-Strategien zeigen sich auch in der Theologie: Eine Womanist Theology entlarvt theologische Wissensproduktion, die weiße, männliche Perspektiven als objektive und universale Wahrheiten deklariert. Gleichzeitig geht eine Womanist Theology über oft hohle Phrasen hinaus: Schwarze Frauen werden nicht sichtbar gemacht, sie machen sich sichtbar. Für Delores S. Williams, neben Cannon eine weitere Pionierin der Womanist Theology, müssen (Glaubens-)Erfahrungen Schwarzer Frauen und ihre Bedeutung für das Christentum erkannt, bejaht und in den Diskurs der gesamten christlichen Theologie eingebracht werden.[14] Der berühmte Satz Audre Lordes – „Die Werkzeuge der Herrschenden werden das Haus der Herrschenden niemals einreißen“ – wird erweitert; eine Womanist Theology setzt sich zum Ziel, sich ein eigenes Haus zu bauen.[15]
Wie geht es weiter?
Wenn wir die Verwobenheit von Sexismus und Rassismus, wenn wir Intersektionalität in der Theologie ernst nehmen wollen, müssen Arbeiten der Womanist Theology stärker Berücksichtigung finden. Gewiss sind Erfahrungen kontextabhängig. Gewiss unterscheidet sich der US-amerikanische vom deutschsprachigen Kontext. Trotzdem bleiben für die Theologie die Fragen „Wer wird (nicht) gehört?“, „Wer ist (nicht) repräsentiert?“. Diese Fragen gehen über die Womanist Theology hinaus, aber schließen sie eben auch ein. Nicht jede:r Theolog:in kann Womanist sein, aber jede:r kann und sollte sich innerhalb der eigenen universitären Laufbahn theologisch mit verschiedenen (marginalisierten) Perspektiven auseinandersetzen. Mit den Worten Diana L. Hayes‘ gesprochen: Theologie muss Perspektiven wagen, die den Status quo infrage stellen.[16]
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[1] Walker, Alice (1987) [1983], Auf der Suche nach den Gärten unserer Mütter. Beim Schreiben der Farbe Lila. Essays (übersetzt von Gertraude Krueger u.a.). München: Goldmann Verlag, 9f.
[2] Vgl.: Mitchem, Stephanie Y. (2002), Introducing Womanist Theology. Maryknoll, New York: Orbis Books, 55.
[3] Vgl.: Johnson, Kimberly P. (2017), The Womanist Preacher. Proclaiming Womanist Rhetoric from the Pulpit. Lanham u. a.: Lexington Books, xvi.
[4] Collins, Patricia Hill (2009), Black Feminist Thought. Knowledge, consciousness, and the politics of empowerment. New York/London: Routledge, 14.
[5] Vgl. Diwakar, Sunitha (2014), Symbolism of the colour ‘purple’ in the novels of Alice Walker’s The Color Purple and Chimamanda Ngozi Adichie’s Purple Hibiscus, in: International Journal of English Language, Literature and Humanities, Vol. II, Issue IV, 135–143, 136.
[6] Walker, Alice (2021) [1982], Die Farbe Lila (übersetzt von Cornelia Holfelder-von der Tann). Hamburg: Ecco Verlag, 216.
[7] Vgl.: Kirk-Duggan, Cheryl A. (2014), Womanist Theology as a Corrective to African American Theology, in: Cannon, Katie G./Pinn, Anthony B. (Hg.), African American Theology. Oxford: University Press, 267–279, 267ff.
[8] Vgl.: Hauck, Sué González et al. (2024), Zwischen Anerkennung und Abwehr: (De-)Thematisierungen von Rassismus in den Medien, Recht und Beratung. URL: https://www.rassismusmonitor.de/fileadmin/user_upload/NaDiRa/Publikationen/Medien_Recht_und_Beratung/NaDiRa_Fokusbericht_02_RZ_240708_web.pdf [aufgerufen am 24.02.2025].
[9] Vgl.: Tagesschau (2023), Umfrage in EU-Staaten: Problem des Rassismus in Deutschland am größten. URL: https://www.tagesschau.de/ausland/europa/diskriminierung-schwarze-eu-100.html [aufgerufen am 24.02.2025].
[10] Vgl.: Menke, Katrin/Wernerus, Cora (2022), Geschlechtsspezifischer Rassismus am deutschen Arbeitsmarkt? Qualitative Forschungsergebnisse sexistisch-rassifizierender Adressierungen fluchtmigrierter Musliminnen und Schwarzer Frauen. URL: https://www.dezim-institut.de/fileadmin/user_upload/Demo_FIS/publikation_pdf/FA-5403.pdf [aufgerufen am 24.02.2025].
[11] Vgl.: Salikutluk, Zerrin/Podkowik, Klara (2024), Grenzen der Gleichheit: Rassismus und Armutsgefährdung. URL: https://www.rassismusmonitor.de/fileadmin/user_upload/NaDiRa/Publikationen/Rassismus_und_Armutsgefährdung/NaDiRa_Kurzbericht_01_RZ_240503.pdf [aufgerufen am 24.02.2025].
[12] Vgl. Fn. 10.
[13] Sherley Anne Williams [Übersetzung C.H.], zit. nach Cannon, Katie G. (2021), Katie’s Canon. Womanism and the Soul of the Black Community. Minneapolis: Fortress Press, 7.
[14] Vgl.: Williams, Delores S. (1993): Sisters in the Wilderness. The Challenge of Womanist God-Talk. Maryknoll, New York: Orbis Books, 6.
[15] Vgl.: Floyd-Thomas, Stacey M. (2006), Introduction: Writing for Our Lives – Womanism as an Epistemological Revolution, in: Dies. (Hg.), Deeper Shades of Purple. Womanism in Religion and Society. New York/London: New York University Press, 1–14, 1ff.
[16] Vgl.: Hayes, Diana L. (2006), Standing in the Shoes My Mother Made: The Making of a Catholic Womanist Theologian, in: Floyd-Thomas, Stacey M. (Hg.), Deeper Shades of Purple. Womanism in Religion and Society. New York/London: New York University Press, 54–76, 69.
Bild: Vonecia Carswell auf Unsplash
Carolin Hohmann ist Doktorandin an der Universität Münster und zurzeit visiting scholar an der Villanova University (USA). In ihrem Promotionsprojekt beschäftigt sie sich mit theologischen und religionspädagogischen Perspektiven auf Intersektionalität.