Stammtischtheologie heißt der Essay-Wettbewerb, aus dem Viktoria Dinkelaker mit „Eure Rede sei: Ja, ja, nein, nein; was darüber hinausgeht, stammt vom Bösen“ (Mt 5,37) oder: Worüber wir in der Theologie zu wenig reden als Siegerin hervorging. Der Wettbewerb ist ein Event im Rahmen des Wiener Festivals der Verbundenheit DAHAM Ende Mai 2023, das öffentliche Plätze transformieren und unerwartete Begegnungsräume öffnen will, die Menschen verbinden.
Wenn ich überlege, worüber in der Theologie zu wenig gesprochen wird, kommt mir nicht zuerst ein Thema in den Sinn, sondern eine Grundhaltung, die das „wie“ unseres akademischen Arbeitens und Zusammenlebens in einer Glaubensgemeinschaft betrifft. Verbindlichkeit ist, scheint mir, kein Wert unserer Generation. Hinter diesem Begriff stecken für mich jedoch Werte, die es sich (neu) zu entdecken und theologisch zu reflektieren lohnt. In Schulen und an Unis, bei Freizeitaktivitäten, in Freundschaften oder Familien kommen wir ohne sie nicht aus. Und, davon bin ich überzeugt, auch im Glauben nicht. Anhand von fünf verschiedenen Umschreibungen möchte ich mich darum dem Begriff annähern und seine unterschiedlichen Aspekte genauer betrachten.
Mut zur eigenen Meinung
Verbindlichkeit assoziiere ich zunächst mit dem Mut, eigene Werte zu entwickeln, daraus eine Meinung zu Lebensfragen zu bilden und diese schließlich auch mutig zu vertreten. In der Predigt vom vergangenen Sonntag bemühte die Pfarrerin den Chatbot ChatGBT, um zu beantworten, welche Bedeutung Palmsonntag für gläubige Christ:innen hat. Problematisch ist nicht prinzipiell, eine fremde Definition zu zitieren – schockiert hat mich, dass keinerlei Auseinandersetzung damit passierte, dass sie also anschließend nichts darüber sagte, was zum Palmsonntag für die konkrete Gemeinde dazugehört, oder auch nur, warum sie dieser Definition zustimmt.
Theologisch verbindlich zu sprechen bedeutet, das Wagnis einzugehen, von dem zu reden, wovon man als Menschen nicht reden kann1 – und zu einer erkennbaren, vielleicht auch streitbaren Position zu kommen. Natürlich ist, seit poststrukturalistisches Denken auch das theologische Gespräch durchzieht, klar, dass keine Position mehr sich selbst absolut setzen darf und keine Norm starr bestimmen kann, was richtig und falsch, wertvoll oder wertlos ist – zum Glück. Doch klar ist auch: Vollständig auf Normen verzichten können wir nicht. Wie kann man nun Normen haben und gleichzeitig so mit ihnen umgehen, dass sie auch im Gespräch mit Menschen tragfähig sind, die sich auf völlig andere Normen berufen? Wo gesellschaftlicher Konsens kaum noch zu finden ist, ist es Aufgabe der Theologie, dem Menschen Mut zur Bildung eines eigenen Willens zu machen – und lohnt ein Gespräch mit der (z.B. konstruktivistischen) Philosophie über die Frage von Normativität.
Aufrichtigkeit
Die jesuanische Warnung vor dem Schwören (siehe Titel) hat mit Verbindlichkeit zu tun: Es gilt, zu seinen Worten zu stehen, d.h. auch nur zu versprechen, was man halten kann und sich der eigenen Grenzen bewusst zu sein. Wo laufen wir im Alltag Gefahr, mehr als „Ja, ja, nein, nein“ zu sagen? Zu viele Worte zu machen, Zusagen zu machen, die wir nicht einhalten können oder unsere Meinung dreimal zu ändern, bevor wir ins Handeln kommen, um auch ja nichts falsch zu machen? Verbindlichkeit ist ein einladendes Stichwort, um neu darüber nachzudenken, was Nachfolge für uns heute bedeutet. Und auch, um pastorales Handeln in Predigt, Seelsorge oder Religionsunterricht zu reflektieren. Ich halte die Aufgabe, Menschen zur Aufrichtigkeit anzuleiten, für eine der zentralen Botschaften, die darin ihren Platz finden sollte. Gemeinsam mit dem Zuspruch der Gnade Gottes, der Bewusstmachung der eigenen Geschöpflichkeit, der Zuwendung zu anderen Geschöpfen und dem Aufruf zur Dankbarkeit gegenüber Gott gehört sie zu den „frohen Botschaften“, die das Evangelium sind.
Eigenverantwortung
Es ist eine große Stärke unseres Studiums, dass wir keinen fertig vorgegebenen Stundenplan in die Hand gedrückt bekommen, sondern uns selbstverantwortlich organisieren. Umso gravierender ist der Einfluss von organisatorischen Reformen, die Themen und Ablauf des Studiums sowie Studiendauer stärker eingrenzen und festlegen. Verbindlichkeit ist eben nicht gleichzusetzen mit Verpflichtung. Sie ist gerade da stark gefordert, wo man selbst entscheidet, welche Themen man behandeln möchte, bei welchem Professor, welcher Professorin, in welchem Veranstaltungsformat. Verbindlichkeit im Studium bedeutet, neugierig einem Thema so zu begegnen, als könnte es das theologisch ergiebigste und wichtigste Thema sein, das man je behandelt. Denn wer sagt, dass es sich nicht als genau das entpuppt?
Ich wünsche mir von der Organisationsform des theologischen Studiums, dass es die Entwicklung eigener Interessen fördert und zu Engagement für die eigenen theologischen Anliegen animiert. Dazu gehört die entsprechende Unterstützung, individuelle Interessen überhaupt zu entdecken – in Sprechstunden für Hausarbeiten, mithilfe von Mentoring-Programmen, Tutorien oder indem in Vorlesungen mehr als nur die eigene Meinung erwähnt wird. Und schließlich gehört dazu zum einen die Freiheit zur eigenen Schwerpunktsetzung – denn man kann auch mit riesiger Neugierde und Lust am Studieren nicht alle Themen detailliert verfolgen – und ein klares Einfordern von Engagement in Form von guter Vorbereitung sowie eigenen Forschungsleistungen an den Stellen, wo Schwerpunkte gesetzt werden.
Entgegenkommen/Dienstbarkeit
Verbindlichkeit hat als Synonyme auch „Entgegenkommen“ und sogar „Dienstbarkeit“.2 Die oben beschriebene Eigenverantwortung beinhaltet, dass Lehrende und Studierende wechselseitig die ihnen jeweils eigene Verantwortung übernehmen. Dies geschieht durch ein Interesse an der Meinungsbildung und der Forschungsarbeit des Gegenübers – ein Interesse, das leer und unverbindlich bleibt, solange nicht aufeinander zugegangen wird und das Gegenüber diese Prozesse auch mitverfolgen kann. Verbindlichkeit hat insofern auch mit „Verbindung schaffen“ zu tun, sodass ein Umfeld entsteht, in dem Studierende, Mitarbeitende und Lehrende nicht auf derselben Ausbildungsstufe, aber in einem Klima gegenseitigen Interesses zusammenarbeiten. Ich wage es auf die Formel zu bringen: Ich wünsche mir, dass nicht „systemrelevant“, sondern „existenzrelevant“ geforscht wird.3
Weg vom Studium, hineingezoomt in die Inhalte der Theologie, rufen „Entgegenkommen“ und „Dienstbarkeit“ die Bundestheologie als gesamtbiblisches Thema auf den Plan: Gott geht im Alten Testament einen Bund ein, legt sich auf ein Volk fest und hält zu ihm. Der „neue Bund“ in Jesus Christus beinhaltet das Gebot: „Liebt einander! Wie ich euch geliebt habe, so sollt auch ihr einander lieben“ (Joh 13,34). Liebe gibt es nicht ohne Verbindlichkeit, so wie es auch Glaube nicht ohne Verbindlichkeit gibt. Vielleicht können wir auch ihre biblischen Spuren neu entdecken.
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Viktoria Dinkelaker, geb. 1999 in Freiburg i.Br., studierte zunächst ein Jahr lang klassisches Saxophon und seither Evangelische Theologie in Heidelberg, momentan in Wien, Studienschwerpunkte Dogmatik und Praktische Theologie.
- Vgl. Barth, Karl: Das Wort Gottes als Aufgabe der Theologie (1922), in: Härle, Wilfried (Hg.): Grundtexte der neueren evangelischen Theologie, Leipzig 2007, S. 102-119: 103. ↩
- Art. „Verbindlichkeit“, in: Duden Online, verfügbar unter: Synonyme zu Verbindlichkeit | Anderes Wort für Verbindlichkeit | Duden (letzter Zugriff: 03.04.23). ↩
- Das Zitat von W. Huber bezieht sich auf die Frage der „Systemrelevanz“ von Kirche während der Pandemie, lässt sich m.E. aber auch auf die Frage der Relevanz persönlicher existenzieller Fragen von Studierenden im „System“ Universität beziehen. Text unter: die-kirche.de | News-Detail (letzter Zugriff: 04.04.23). ↩