Ein dreifacher Machtwechsel findet statt in unseren Breiten: jener zwischen Individuum und religiöser Institution, jener zwischen Religionen und Kapitalismus und jener zwischen den normativen Zeitebenen. Was aber kommt dann? Einige spekulative Überlegungen von Rainer Bucher.
Nicht mehr die religiösen Institutionen bestimmen die Praktiken ihrer Mitglieder, sondern deren situative Bedürfnisse die Praktiken der religiösen Institutionen. Die Entbettung des Religiösen aus seiner kulturellen (und damit übrigens auch lokalen) Selbstverständlichkeit führt zu mehrfachen Polarisierungseffekten. Es verstärken sich die Ränder des Partizipationsspektrums, also völlige Religionsabstinenz wie höchste Religionsintensität, aber auch die Formen religiöser Vergemeinschaftung differenzieren sich aus, indem einerseits besonders verdichtete charismatisch-enthusiastische religiöse Bindungsmuster attraktiv werden, während andererseits sich völlig neue, nicht länger mitgliedschafts-, gemeinschafts- und gefolgschaftsorientierte religiöse Aktionsformen innerhalb und außerhalb etablierter kirchlicher Sozialgebilde entwickeln.
Die Machtwechsel
Der Kapitalismus aber hat geschafft, was alle Souveräne machen: Er macht sich die anderen untertan, auch die Religionen. Sie müssen sich in seinem Machtfeld situieren. Und sie tun es auch, weltweit. Man kann ein Spektrum aufmachen: Vom „Kapitalismus als Religion“ (W. Benjamin) zu kapitalismusaffinen Aufsteigerreligionen, etwa den Pfingstkirchen, über das christdemokratische Arrangement zu kapitalismuskritischen religiösen Ansätzen wie der Theologie der Befreiung oder auch Papst Franziskus, bis zum radikal-fundamentlistischen Kapitalismuswiderstand, der sich vor allem auch gegen seine kulturellen Befreiungseffekte richtet, lässt sich diese Positionierung der Religionen gegenüber dem Kapitalismus dann reihen.
Die aktuell dominante normative Zeitebene aber ist nicht mehr, wie in vormodernen Gesellschaften die – natürlich nur jeweils imaginierte – ideale Vergangenheit, auch nicht, wie in modernen Zeiten, eine utopische, bessere (wieder: ideale) Zukunft, sondern die jeweilige Gegenwart, für welche die Vergangenheit, von der sie ziemlich viel weiß, höchst unattraktiv und die Zukunft, von der sie ziemlich viel fürchtet, höchst gefährlich ist. Diese Gegenwart gilt es zu bestehen und zu erhalten: Viel mehr scheint nicht drin zu sein.
Natürlich gibt es Gegenbewegungen: So ordnen sich Individuen etwa demonstrativ religiösen Institutionen unter und Religionen versuchen, sich als anti-kapitalistische Größen zu profilieren. Und es gibt nach wie vor, ja verstärkt reaktionäre, oft national grundierte, vergangenheitsorientierte religiöse Fundamentalismen. Aber gerade ihr gegenkulturelles Auftauchen belegt den von ihnen bekämpften Mainstream.
Wie weiter im religiösen Feld?
Was kommen wird, kann natürlich niemand wirklich wissen, in Zeiten exponentieller historischer Entwicklungsbeschleunigung schon gar nicht. Aber es zeichnen sich drei Konfliktzonen ab, wo sich entscheidende Prozesse abspielen dürften, insofern in diesen Zonen charakteristische Dramatisierungsphänomene zu beobachten sind.
Zum einen dramatisiert sich das ja auch im real existierenden Christentum prekäre Spannungsfeld zwischen einem universalistisch-inklusivistischen und einem exklusivistischem Selbstverständnis und den jeweils entsprechenden (Auschluss-)Praktiken. Ist der Glaube die Bedingung der göttlichen Liebe und Erlösung oder die Verkündigung von deren bedingungslosen Universalität? Sind „die anderen“ die Verdammten oder die (auch) vom eigenen Gott Geliebten? In praktisch allen Weltreligionen entwickeln sich einerseits verstärkt exklusivistische Gruppierungen, aber auch universalistisch-inklusivistische Interpretationen.
Zweitens zeigen sich in allen Religionen massive Kulturkämpfe im Feld der „gender troubles“. Sie drohen nicht nur diese Religionen, sondern ganze Weltgegenden zu zerreißen. Alle großen aktuellen Weltreligionen sind bekanntlich sowohl in ihren Symbolsystemen wie in ihrer sozialen Realität patriarchal strukturiert und geprägt. Insofern soziale Tatsachen Gottesbilder mindestens ebenso prägen wie Gottesbilder soziale Tatsachen, das Patriarchat bis vor Kurzem ganz selbstverständlich sowohl kulturell wie strukturell dominierte und es ja geschafft hatte, sich als „natürlich“ zu essentialisieren, ist das auch nicht besonders überraschend, weswegen fundamentalistische religiöse Bewegungen in Zeiten der zunehmenden Emanzipation der Frauen auch als patriarchale Protestbewegungen begriffen werden können.[1] Wenn Putin in seiner Rede zur Lage der Nation am 21.2.2023 die Einführung der gleichgeschlechtlichen Ehe in der Anglikanischen Kirche Englands als einen Grund anführt, weswegen sich Russland gegen die zerstörerische Dekadenz des Westens wehren müsse, wo doch in der Bibel klar stehe, dass die Ehe eine Sache zwischen Mann und Frau sei, dann ist das mehr als ein Kuriosum. Sein Patriarch Kyrill sieht im Krieg gegen die Ukraine bekanntlich gar einen metaphysischen Kampf zwischen Gut und Böse am Werk.
Drittens aber: Religionen sind fundamental durch die Medien geprägt, mit und in denen sie arbeiten, organisieren sie doch fundamental nicht-triviale Kommunikation. Es gab bekanntlich Religion vor der Erfindung der Schrift, wir wissen das aus Grabbeigaben oder Malereien. Die Schrift aber veränderte die religiöse Landschaft grundlegend, ihre Fähigkeit kommunikativ die Todesgrenze zu überwinden und Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu verbinden, schuf die heute dominierenden Weltreligionen, von den sich die monotheistischen ja sogar explizit nach ihrem zentralen Medium als Buchreligionen begreifen. „Medientechnik und Theologie“ haben sich, wie Jochen Hörisch festhält, eben „demselben Kerngeschäft verschrieben“: „Das Ferne und noch das Fernste nahe zu bringen“.[2] „Religion wie Medien“ geht es „um Schickungen und Sendungen“.[3] Und deshalb sei eben Religion gewiss nicht das „Andere der Medien“[4] – im Gegenteil.
Was kommt nach den Buchreligionen?
Aber wir leben eben nicht mehr auf der Gutenberg-Galaxie des geschriebenen und gedruckten Wortes, zumindest nicht mehr nur. Wir haben elektronische Medien, die nicht nur Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft noch stärker ineinanderschieben („Das Internet vergisst nichts“), sondern als radikale Distanzvernichtungsmedien den Raum, zumindest den irdischen, nihilieren und globale Gleichzeitigkeit herstellen. Das führt nicht nur zur lokalen Entbettung des sozialen Lebens, sondern eben auch zur tendenziellen Entbettung des Religiösen aus seiner regionalen kulturellen Selbstverständlichkeit, ja überhaupt aus seiner regionalen Verortung.
Denkt man dies weiter, dann spricht einiges dafür, dass diese grundlegende mediale Konstitutionsveränderung von Religion auch zu grundlegenden materialen Entwicklungen auf dem Feld des Religiösen führen wird – das dann vielleicht gar nicht mehr so heißen wird. Es werden also nicht nur, wie schon gegenwärtig, die alten Buch-Religionen unter neue mediale und kapitalistische Nutzungsmuster geraten und ihre zentralen Bücher in den generellen Polarisierungseffekt auf dem Feld der Religion von Fundamentalisierung und Irrelevanz geraten.
Es spricht vielmehr auch einiges dafür, dass ganz neue Religionsformen und Religionsinhalte emergieren werden, die medial wie inhaltlich nicht mehr schriftbasiert sind und logischerweise auch dann Religion ganz anders „produzieren“, „organisieren“ und „konsumieren“ als wir es kennen. Wie schrieb Friedrich Kittler schon 1999, lange vor dem Stapellauf der KI: „Gott …. schuf den Menschen, weil er ihn träumte. Der Mensch aber vergaß Gott und schuf die Maschine, weil er sie (seit Descartes und Leibniz) träumte. Am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts aber hat die Maschine den Menschen vergessen. Wer wollte vorhersagen können, von wem und was sie träumt?“[5]
Vielleicht ist das ja schon der Fall und wir Expert:innen für die herkömmliche Religion des Christentums übersehen es nur.
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[1] Vgl. M. Riesebrodt, Fundamentalismus als patriarchalische Protestbewegung, Tübingen 1990.
[2] J. Hörisch, Der Sinn und die Sinne. Eine Geschichte der Medien, Frankfurt/M. 2001, 313.
[3] Hörisch, Sinn und Sinne 314.
[4] Hörisch, Sinn und Sinne 313.
[5] F. Kittler, Die Simulation siegt – Die technischen Weltmächte und das Ende der Vielfalt, FAZ vom 27.11.1999, p. III.
Rainer Bucher, Bonn, bis September 2022 Professor für Pastoraltheologie an der Universität Graz.