Ein Projekt zur Aufarbeitung von Missbrauch in der Katholischen Kirche im Bistum Limburg hat auch die Frage nach der Theologie gestellt. Drei Themenfelder wurden dabei deutlich: Gottesbild, Heiligkeit und Hoffnung. Knut Wenzel (Frankfurt) entwickelt anhand der Ergebnisse Auswegperspektiven. (Teil I)
Vorbemerkung
Der folgende Text ist im Zusammenhang eines aufwendigen Projekts des Bistums Limburg zur Aufarbeitung der Krise des spirituellen und sexuellen Missbrauchs in der Katholischen Kirche entstanden. Aufwendig ist dieses Projekt auch darin, dass es ausdrücklich nach der Ausarbeitung einer Theologie fragt, die auf die Krise reagiert und in der Lage ist, Auswegperspektiven zu formulieren. Auf einer Salonveranstaltung am 27. November 2021 im Haus am Dom, Frankfurt, sind umfangreiche Themenfelder in der Spannung zwischen Fallanalysen einerseits und theologischen Reflexionen andererseits zusammengetragen worden. Eine Umsetzungsgruppe des Teilbereichs „Theologie angesichts des Missbrauchs“ im Rahmen des diözesanen Gesamtprojekts hat dieses zu drei theologischen Schwerpunktfragen verdichtet: die Frage nach dem Gottesbild, näherhin der Trinität, die Frage nach (einem angemessenen Verständnis) der Heiligkeit, die Frage nach (Möglichkeiten und Bildern) der Hoffnung. Dieser Text ist ein Versuch, diese Fragekomplexe im systematischen Zusammenhang theologisch unter der Leitfrage nach Auswegperspektiven zu durchdenken. Zugleich soll er als „public source“ für weitere theologische Entwicklungen dienen.
Die Gebrochenheit des Glaubensbewusstseins Vieler
„Theologie – braucht es nicht“: so groß sind Enttäuschung, Empörung, Fassungslosigkeit angesichts des systemischen geistlichen und sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche, dass die Theologie in Mithaftung genommen wird, ja, dass von ihr nichts mehr erwartet wird. Das hat auch damit zu tun, dass sie als Sprachrohr der offiziellen Lehre gesehen wird – von Kirchenfunktionären wie von Missbrauchsopfern, aber auch von denen, die sich mit viel Energie der Aufarbeitung des systemischen Missbrauchs widmen. Nicht zuletzt hat diese Wahrnehmung lange Zeit einem verbreiteten Selbstbild (in) der Theologie entsprochen. Allzu lang. Die Theologie hat ihre Glaubwürdigkeit eingebüßt – innerhalb wie außerhalb der Kirche. Mehr noch, sie scheint für viele keinen Anlass für eine Hoffnung auf Auswegsperspektiven zu geben.
Allzu vielen Menschen ist die Kirche … ekklesiale Depression.
Aber sie ist noch da. Solange das so ist, kann von ihr erwartet werden, an Perspektiven des Auswegs zu arbeiten und ihre (Zwischen‑)Ergebnisse auch öffentlich darzulegen. Die Abwendung von der Theologie und die Hinwendung zu scheinbar unbelasteten Diskursen – Psychologie, Soziologie insbesondere – oder der komplette Verzicht auf theoriebezogene Reflexion zugunsten eines blanken Pragmatismus: das ist so nachvollziehbar wie fatal. Alle in den Missbrauch Verwickelten – allen voran die Opfer, aber auch die mit seiner Aufarbeitung Beschäftigten, und auch die Täter – sind zugleich höchstpersönlich involviert in den Glauben an den dreieinen Gott. Sie haben ihr Leben auf diesen Gott gesetzt (wie eine überkommene, aber doch aussagekräftige Formulierung lautet) – sei es, dass der Missbrauch ihnen diese Glaubensoption einstweilen oder endgültig zerstört hat, sei es, dass die Glaubensentscheidung für sie noch gilt, aber doch unter hohen Plausibilitätsdruck geraten ist – zuallererst für die Glaubenden selbst. Allzu vielen Menschen ist die Kirche nicht mehr Raum der Vermittlung, nicht mehr Instanz der Vergegenwärtigung dieses Glaubensgrunds, sondern dunkler Schatten, der sich auf ihn gelegt hat: ekklesiale Depression.
Angesichts dessen ist es notwendig, die beiden Verwicklungen – in den Missbrauch, in den Glauben – voneinander abzuheben. Es ist wichtig, in den Bedeutungsgründen des Glaubens Bilder, Ideen, Konzepte aufzuspüren und geltend zu machen, die der Verderbnis des systemischen Missbrauchs standhalten, die gegen sie aufgeboten werden können, durch die mit einem verletzten Glauben neu begonnen werden kann – oder mit denen sich dessen zu vergewissern möglich wird, dass die eigene Glaubenshaltung, auch wenn sie heute, nach 2010, nicht (mehr) aufrechterhalten werden kann, doch nicht im Grundsatz falsch gewesen, sondern triftig ist. So anspruchsvoll nämlich kann sich die Lage des eigenen Glaubens für das Glaubensbewusstsein ausnehmen: Mein Vertrauen in die Kirche ist durch sie radikal verletzt; ich will aber nicht, dass mein einst durch sie vermittelter Glaube deswegen nichtig wird; ich suche nach Gründen seiner Gültigkeit: aus einem Treuebedürfnis zu meiner ursprünglichen Glaubensentscheidung, auch wenn ich die darin gründende Glaubenshaltung jetzt nicht mehr recht einnehmen kann: nur noch restbeständlich, vorläufig gar nicht, später vielleicht erneut, nevermore. Wer ob der Kirche verbittert, will sich deswegen doch nicht über die eigene Glaubensidentität verbittern lassen.
Die theologische Rückfrage nach den Gründen des Christentums … hat ihre Verankerung in den Erfahrungen der Opfer.
Theologie angesichts des Missbrauchs – verankert in den Opfererfahrungen
Ist damit die gegenwärtige Not des Glaubensbewusstseins auch nur einigermaßen getroffen, wird sichtbar, dass externe Expertisen, so notwendig sie sind, nicht ausreichen. Der Glaube, zu dem sich die Menschen in Familien und Gemeinden – in der Kirche – wechselseitig angestiftet haben, war doch nur dann „wahr“, wenn er auch jetzt im Kern nicht falsch ist. Eine Heilung – die Gewinnung neuer Lebendigkeit – bedarf äußerer Unterstützung, möglich wird sie aber nur aus den inneren Lebensgründen. Die Lebensgründe christlichen Glaubens neu erschließen und plausibel darlegen – nichts anderes ist die Aufgabe der Theologie. Die theologische Rückfrage nach den Gründen des Christentums gilt dem gesamten Bedeutungskosmos des Glaubens, wie er sich zwischen den Instanzen Gottes und des Menschen aufspannt. Ihre Vorgehensweise ist nicht random; sie hat vielmehr ihre Verankerung in den Erfahrungen der Opfer. Von hier aus erhält die theologische Aufmerksamkeit Perspektive und Profil.
Der nah-ferne Gott
Es heißt nicht, einfallslos einer top down-Strategie zu folgen (die womöglich noch Hierarchie-imprägniert ist), wenn diese Erkundung mit dem Gottesverständnis beginnt. Schließlich sind in den Gottesbegriff alle (Selbst‑)Verständnisse und Verständigungen eingetragen, aus denen die Bedeutungsidentität einer lebendigen Religion besteht. Deswegen sind auch die religiösen Resonanzen von Opfererfahrungen dem Gottesbegriff einkodiert. Für viele ist aufgrund ihrer Erfahrungen die Vorstellung eines nahen Gottes unerträglich geworden; sie brauchen größtmögliche Gottesdistanz. Andere wiederum haben das Bedürfnis nach einem nahen, bergenden Gott. Beide Gottesbedürfnisse resultieren aus denselben oder strukturähnlichen Opfererfahrungen. Entstehen so zwei konträre, konkurrierende, einander ausschließende Gottesbilder? Der Mystik ist es gelungen, diese schier auseinander reißenden Erfahrungspole in eine Formulierung zusammenzubringen: Marguerite Porete, die große Mystikerin des 13. Jh., die mit Meister Eckhart im Gedankenaustausch auf Augenhöhe stand, bezeichnet in ihrer Liebesmystik Christus, den Geliebten der Seele, als près-loin, als den Nah-Fernen. Die Mystik zeigt sich hier als Indikator des Paradoxalen im Christentum und seiner Leidensimprägnierung.
Marguerite Porete reflektiert hier nicht nur ihre eigenen spirituellen Erfahrungen, in denen es zum mystischen Kurzschluss zwischen der vermissungsproduktiven Abwesenheit und der sehnsuchtsgetragenen Nähe Christi kommt. Ihre Erfahrungen sind vielleicht nur auf der Basis der trinitarischen Grundstruktur des christlichen Glaubens möglich; geschehen Erfahrungen doch grundsätzlich nicht einfach so: sie werden in Kontexten der Deutung gemacht. Der Gott, der im Logos, in der zweiten Person, sich in die radikale Konkretion, die Nähe der Inkarnation in Jesus begeben hat, ist derselbe Gott, der in der ersten Person absolut transzendent, unidentifizierbar fern, abgründig verborgen ist. Ferne und Nähe Gottes widersprechen einander nicht; sie sind trinitätstheologisch zum Begriff des einen Gottes vermittelt. Der Geist, der „weht, wo er will“ (Joh 3,8) und in dieser Unbestimmbarkeit ubiquitär ist, hält den zugleich nahen und fernen, konkreten und transzendenten Gott in einer unfasslichen Allpräsenz. Ja, fern-nah ist Gott im Geist unfasslich allpräsent. Die ihn fern nur oder bloß nah wollen, sind in ihrem Gottesbegehren gleichermaßen gerechtfertigt: im Geist, über den nicht sie noch irgendjemand befindet und der darin Gott ist.
Die Kirche ist täterfixiert.
Gottes Allmacht als seine Höflichkeit
Freilich: weder die Polyphonie des biblischen Gottes noch die Vehemenz, mit der dieser Gott sich in den Erfahrungsräumen der Menschen Gegenwart verschafft, soll unterschätzt werden. Und doch: kann er sich auch als der nicht bedrängende Gott präsentieren, wie dem Elias gegenüber: dem er nicht in Sturm, Beben, Feuer erscheint, sondern in einem „leisen, sanften Säuseln“ (1Kön 19,11–13). Der Gott, der nicht bedrängt – als freisetzend gar hat Karl Rahner diesen Gott gedacht, und hat diese Fortbestimmung des Nicht-Bedrängens zum Freisetzen ausgerechnet im Zusammenhang mit dem Begriff der Allmacht Gottes formuliert.[1] In seiner Allmacht ist Gott ermöglichend, Raum gebend. Wenn Gottes Allmacht darin besteht, den Anderen zu würdigen, ihm den Vortritt zu lassen, ist seine Allmacht die Höflichkeit Gottes.[2] In ihrer hierarchischen Verfassung ist die Kirche auf die fokussiert, die das Sagen haben. Auch in der Kirche ist die Ökonomie des Sprechenkönnens machtförmig organisiert. Die Kirche ist täterfixiert. Der höfliche Gott aber bereitet den Hof für die zufällig an den Zäunen und Wegrainen Angetroffenen. Die Zahl der Marginalisierten ist hoch, die Modi ihrer Marginalität vielzählig.
Kirche gründet in „Figuren der Dezentrierung“
Die Kirche gründet in dem Christus, der „an seiner Gottheit nicht festgehalten hat wie an einem Raub, sondern Sklavengestalt angenommen hat“ (Phil 2,6f): Gott entäußert sich, entleert sich in die Menschheit hinein, die er in ihrer niedrigsten Gestalt annimmt: als Sklave (des Tods). Die Kirche gründet ebenso im Heiligen Geist; es ist der Geist, der die Apostel und Jünger sprachfähig macht (Apg 2,1–4); das Vermögen der Sprachfähigkeit – das heißt hier: all dessen, was die Kirche in ihren Wesensvollzügen der Liturgie, der Verkündigung, des Diensts zu tun berufen ist – liegt nicht in ihr begründet, sondern im Geist. Diese beiden Figuren der Dezentrierung – Gott gibt sich in die Ohnmacht und dadurch den Menschen die Ehre; das Handlungsvermögen der Kirche ist nicht ekklesial gegründet, sondern pneumatisch –, in denen doch die Kirche wurzelt, bilden sich in ihrem Selbstverständnis, in ihrer Verfassung, in ihrer Kultur so gar nicht oder viel zu wenig ab. Christi Kenosis (Selbstentäußerung) und der pneumatische Vorbehalt kirchlicher Handlungsfähigkeit stellen aber die Leitkonstellation dar, auf die hin sich stets zu erneuern die Kirche aufgerufen ist. Auf diesen Ursprung in Christus und im Geist stets im Sinn des semper reformanda zurückzukommen, heißt, die im Glaubensbekenntnis genannte und gebetete Apostolizität der Kirche zu aktuieren, die Treue zur „Norm des Anfangs“.
Knut Wenzel, Dr. theol., ist Professor für Fundamentaltheologie und Dogmatik an der Goethe-Universität Frankfurt am Main.
[1] Vgl. Karl Rahner, Allmacht Gottes, in: Ders., Sämtliche Werke, Bd. 17/1: Enzyklopädische Theologie. Die Lexikonbeiträge 1956–1973, Freiburg 2002, 106–108.
[2] Vgl. Andreas-Pazifikus Alkofer, Konturen der Höflichkeit: Handlung – Haltung – Ethos – Theologie. Versuch einer Rehabilitation, Norderstedt 2005.
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Beitragsbild: Von Anna Armbrust, Pixabay
Zweiter Teil des Beitrags: