Ein Projekt zur Aufarbeitung von Missbrauch in der Katholischen Kirche im Bistum Limburg hat u.a. die Frage nach der Theologie gestellt. Drei Themenfelder wurden dabei deutlich: Gottesbild, Heiligkeit und Hoffnung. Knut Wenzel (Frankfurt) entwickelt anhand der Ergebnisse Auswegperspektiven. (Teil 2)
Dialektik der Heiligkeit I: Kirche
Neben der Apostolizität wird im Credo als eine weitere von vier Wesenseigenschaften der Kirche die Heiligkeit genannt: eine im Zusammenhang des systemischen Missbrauchs schwer erträgliche Zuschreibung. Sollte auf sie nicht besser verzichtet werden? Oft wird, wie zum Ausgleich, ins Feld geführt, dass die Kirche doch auch Kirche der Sünder sei: nur dass dann die Sünde an den Menschen haften bleibt und die Kirche als solche von ihr unbelastet erscheint. Manche plädieren deswegen dafür, die Kirche selbst als sündig aufzufassen, die Sündigkeit gehört dann zu ihrer Verfasstheit wie die Heiligkeit. Kann es aber zufrieden stellen, im Denken wie im Glauben, beide Wesensbezeichnungen einfach so, unvermittelt, nebeneinander stehen zu lassen? Die Zuschreibung der Sündigkeit ist im Kontext der Missbrauchskrise selbsterklärend; es bedarf eines näheren Blicks auf die Heiligkeit.
Christentum und Kirche stehen hier in unzweideutiger Kontinuität zur biblischen Tradition. Das Alte Testament hat ein strikt theozentrisches Verständnis ausgebildet: Heilig ist nur einer – Gott, der Heilige.[1] Gott ist heilig – und die geschöpfliche Wirklichkeit, der er Heiligkeit verleiht. Diese ist dann nie Eigentum der betreffenden Wirklichkeit, sondern immer verliehen. Für die Kirche heißt das: Wenn Heiligkeit ihr Wesen kennzeichnet, hat sie den Grund ihres Wesens nicht in sich, in eigener Verfügung, sondern in Gott. Wie ist das zu verstehen? Sie hat ihr Wesen – als in der Intention Jesu Christi existierende Gemeinschaft aus Menschen – als Zusage Gottes, als Verheißung, nicht als Besitz, den sie sich selbst anrechnen könnte. Im Gegenteil steht sie unter dem Vorbehalt der Verheißung, das auch real zu werden, was sie von Gott her ist.
Menschen können und sollen die Kirche als Ort der Heilsbegegnung beanspruchen.
Warum aber überhaupt noch von der Heiligkeit der Kirche reden? Weil die Kirche damit als jener menschliche, aus der Sozialität und Geschichtlichkeit menschlicher Wirklichkeit geformte Ort markiert werden soll, an dem Menschen das Heil von Gott her in der Konkretheit ihrer Welt aufsuchen und (Wort der Hoffnung) antreffen können sollen, an dem sie es dingfest machen, ja beanspruchen und einfordern können – als Forderung, wenn nicht an Gott, so doch an die Kirche. Menschen können und sollen die Kirche als Ort der Heilsbegegnung beanspruchen. So können und sollen Menschen die Kirche sich zurückholen. Die Heiligkeit der Kirche komplett aufzugeben hieße, diesen identifizierbaren Ort der Begegnung mit dem Heil von Gott her in menschlicher Wirklichkeit, hieße, den Ort der Durchkreuzung der Horizontalität der Immanenz durch die Vertikalität der Transzendenz aufzugeben.
Die Heiligkeit ist auf die Sündigkeit zurückzubinden: als das göttliche Nein zu ihr.
Schließlich ist die Heiligkeit auf die Sündigkeit zurückzubinden: als das göttliche Nein zu ihr. Deswegen ist zuvor vom Vorbehalt der Verheißung die Rede gewesen: die göttliche Verheißung lässt doch den status quo menschlicher Wirklichkeit nicht auf sich beruhen. Die Verheißung von Heil ist die Identifizierung, die Aufdeckung von gegenwärtigem Unheil und der Einspruch gegen es. In diesem Sinn ist die Kirche in ihrer Heiligkeit unversöhnt mit sich in ihrer Sündigkeit.
Dialektik der Heiligkeit II: Mensch
Grundfalsch wäre es und die Repristination überkommener Denkmuster, Heiligkeit in exklusivem Verhältnis von Gott und Kirche zu verhandeln, auch wenn die das als normal erachtete. Die Pragmatik – die im Gebrauch sich zeigende Bedeutung – von „heilig“ ist breiter, weil grundsätzlich: In allen hier relevanten Sprachen vom Hebräischen über das Griechische und das Lateinische bis hin zum Germanischen bedeutet heilig: Absonderung, Ausgrenzung. Das Heilige ist das Herausgesonderte, das allen Zusammenhängen Enthobene. Die Rede vom Heiligen ist der religiös aufgeladene Diskurs vom Absoluten.
Die Grundbestimmung des Selbst- und Nächstenverhältnisses des Menschen ist die Unverfügbarkeit.
So wird mit dem Begriff der Heiligkeit Gottes dieser als der Absolute bestimmt. Das ist hinsichtlich der in der theologischen Tradition fest verankerten Rede von der Heiligkeit des Menschen[2] zu beachten. Heilig ist der Mensch freilich nicht aus sich, sondern nur von Gott her: als die ihn ergreifende und von ihm ergriffen werden wollende heiligmachende Gnade.[3] Diese Gabe stiftet ein Gnadenverhältnis zwischen Gott und Mensch; in ihm übersetzt sich die Heiligkeit Gottes, seine Absolutheit, in eine relationale Heiligkeit, eine relationale Absolutheit des Menschen. Diese ist präzis mit dem Begriff der Unverfügbarkeit erfasst. Unverfügbarkeit bestimmt den Menschen sowohl in seinem Selbstverhältnis als auch in seinem Verhältnis zu den anderen: Als Subjekt konstituiert sich der Mensch in der Anerkennung der Subjekthaftigkeit der und des anderen, und damit: in ihrer und seiner Unverfügbarkeit. Allen subjektiven Anerkennungsverhältnissen eignet eine selbstbezügliche Dimension; in seinem Bezug zu einer, einem anderen realisiert sich der Bezug des Subjekts zu sich selbst. So ist dieser Selbstbezug von derselben subjektkonstitutiven Unverfügbarkeit bestimmt wie die Relation zu anderen. Diese Unverfügbarkeit ist nun das relationale Absolute des Menschen als Subjekt. Die Grundbestimmung seines Selbst- und Nächstenverhältnisses ist die Unverfügbarkeit. Darüber legen sich naturgemäß in zahllosen Schichten Vertrags‑, Zweck‑, Verdinglichungsverhältnisse. In ihnen unterhält sich eine Ökonomie verbrauchender Produktivität. Sie meint aber niemanden.
Wo aber der Mensch in seiner Subjekthaftigkeit in Blick kommt, wo er, ob inner- oder intersubjektiv, nicht als Mittel, sondern als Zweck in sich selbst angesehen wird, kommt Unverfügbarkeit als Prinzip der Subjektrelation zur Geltung. Nach dem Grundsatz gratia non destruit sed perfecit naturam – die Gnade zerstört nicht, sondern vollendet das Wesen des Menschen – nimmt die Heiligung diese Subjektstruktur des Menschen auf. Die Rede von der Heiligkeit des Menschen verbindet die Unverfügbarkeit – das relationale Absolute in der Subjektstruktur des Menschen – mit der Unverfügbarkeit Gottes als des Absoluten. In dieser Unverfügbarkeit ist der Mensch Bild des Heiligen.
Sünde und Vergebung
Missbrauch, spiritueller wie sexualisierter, stellt die Beanspruchung des, der anderen in seiner bzw. ihrer Subjekthaftigkeit für einen Zweck dar: den der Machtausübung, den der Bedürfnisbefriedigung. Dabei wird nicht eine Kompetenz, eine Fertigkeit oder auch ein Besitztum der anderen Person für den betreffenden Zweck in Anspruch genommen – das würde in den vorhin angesprochenen Bereich wechselseitig mehr oder weniger akzeptierter Verdinglichungsverhältnisse fallen –, sondern die Person selbst. Wenn bestimmte, also endliche Zwecke durch die Unterwerfung oder mindestens Instrumentalisierung der anderen Person selbst erreicht werden sollen, liegt jene Missachtung oder Brechung der Unverfügbarkeit des (anderen) Subjekts vor, wird sich also dieser Mensch derart verfügbar gemacht, dass von Missbrauch gesprochen wird.
Es gibt keinen nicht-missbräuchlichen Gebrauch des Menschen in seiner Subjektwürde.
Dabei hat dieser Begriff eine Tendenz der Verharmlosung, zeigt er doch eine Fehlform des Gebrauchs an. Gebrauch aber gilt einer Sache. Hier jedoch geht es um den missbräuchlichen „Gebrauch“ eines Menschen in ihrer oder seiner unverfügbaren Subjekthaftigkeit. Hier überhaupt „Gebrauch“ anzusetzen, zeigt in sich schon Missbrauch an: nämlich Verfügung ausüben zu wollen über das Unverfügbare. Es gibt keinen nicht-missbräuchlichen Gebrauch des Menschen in seiner Subjektwürde.
In religiöser, in theologischer Resonanz rührt das an den Heiligkeitsstatus des Menschen. Missbrauch missachtet die Heiligkeit des Menschen. Zerstörbar ist sie, theozentrisch gedacht, durch menschliches Tun nicht. Wohl aber kann es dem Menschen den Zugang zu seiner Heiligkeit verlegen: dem Opfer durch Traumatisierung, dem Täter durch Schuld. Wenn Menschen den Zugang zu dem, was sie von Gott her sind, nicht haben, sind sie es für sich nicht: heilig.
Vergebung ist kein Vergessen, sondern eine spezifische, auf Heilung orientierte Weise des Erinnerns.
Insofern also diese Schuld den Heiligkeitsstatus des Menschen berührt, ist von ihr unmittelbar Gott selbst betroffen. Sünde ist nicht etwas substantiell anderes neben der Schuld; mit dem Begriff der Sünde wird die Dimension von Schuld coram Deo ausdrücklich gemacht. Angesichts der Schwere dessen, was als systemischer Missbrauch, als spiritueller, sexualisierter Missbrauch in der Kirche bezeichnet wird, kommt die Einführung des Worts von der Vergebung immer zu früh. Der Umgang mit Vergebung sollte von aller Leichtfertigkeit frei sein. Hier sei nur dieses festgehalten: Der theologische Begriff unterscheidet zwischen zeitlichen und ewigen Sündenfolgen, diese meinen die Sünde in ihrer Wirklichkeit vor Gott, jene die realen Zerstörungen, die die Sünde unter Menschen angerichtet hat. Sündenvergebung hebt diese zeitlichen Sündenfolgen in keiner Weise auf; sie entlastet von den ewigen Sündenfolgen: Gott rechnet die Sünde nicht mehr an – eine Entlastung, die Kraft und Handlungsfähigkeit wieder neu ermöglichen soll, um an der Bewältigung der realen Zerstörungen – der zeitlichen Sündenfolgen – arbeiten zu können: durch Reue, Schuldbekenntnis, Sühne, Wiedergutmachung … Wie auch immer im Zusammenhang des Missbrauchs Sündenvergebung achtsam weiter zu denken ist und vor allem in ekklesialer, aber auch inner‑ wie intersubjektiver Praxis zur Geltung gebracht werden kann: es geht auch um die Wiedererschließung des Zugangs zur Heiligkeit – für die Opfer, für die Täter in je eigener Weise.
Vergebung ist kein Vergessen, sondern eine spezifische, auf Heilung orientierte Weise des Erinnerns.
Zwischen Schöpfung und Kreuz
Die biblisch-christliche Bedeutungstradition begründet eine Kultur des Eingedenkens. Nicht nur sind die Menschen aufgefordert zu erinnern, etwa die Befreiung aus dem Sklavenhaus Ägypten (Dtn 6,20–25) und des Bunds (Dtn 4,23); Gott selbst präsentiert sich als ein Gott des Eingedenkens: er gedenkt der Menschen, er hält sie sich lebendig gegenwärtig (Gen 9,16, mit Ps 8,5). Dem menschlichen Gedächtnis sind eine erste und eine letzte Erinnerung eingeschrieben: eine Erinnerung an den guten Ursprung dieser Welt in der Schöpfung (Dtn 5,12–14)); eine eschatologische Erinnerung an den Kreuz-Weg Christi (Lk 22,19). Eindrücklich wird dieses Eingedenken aufgenommen und durchgearbeitet in Johann Sebastian Bachs Kantate „Heil im Gedächtnis Jesum Christ“ (BWV 67, uraufgeführt am ersten Sonntag nach Ostern 1724). Beide Erinnerungen übersteigen die Reichweite persönlicher Erinnerung kategorial; sie sind auch nicht durch den Begriff des kollektiven Gedächtnisses zu fassen. Es sind jeweils ultimative Erinnerungen. Das Wort Erinnerung meint hier keine Gedächtnisleistung, es bezeichnet eine eigentümliche Distanz, mit der dem Glaubensbewusstsein seine zentralen Inhalte – Schöpfung, Kreuz – präsent sind. Ultimativ sind sie, von äußerster Dringlichkeit, und doch in der fragilen Distanz der Erinnerung.
Mensch ist zwischen Schöpfung und Kreuz situiert
Wie die Erinnerung nie über ihren Gehalt verfügt und das Erinnerte doch abwesend ist und vermisst wird, so hat auch das Glaubensbewusstsein einen nicht-verfügenden Zugang zu seinen zentralen Bedeutungsgehalten. Diese geben den Menschen als zwischen Schöpfung und Kreuz situiert zu verstehen. Der Mensch in der Schöpfung: in einem Welt-Horizont, der auf leib-realistische Lebendigkeit hin zentriert ist, auf eine Lebendigkeit, die durch Stofflichkeit und Lebendigkeit ausgezeichnet ist. – Der Mensch vor oder unter dem Kreuz: dieselbe Lebendigkeit ist leidensfähig; sie ist als (selbst‑)bewusstes Lebens schuldfähig; in ihrer Lebendigkeit ist sie sterblich. Das Kreuz zeichnet dem Schöpfungshorizont einen negativen Realismus ein: das Verletzliche wird verletzt werden, der Stoff des Lebendigen wird verbraucht werden, das frei gewollte Selbst-Bewusstsein wird schuldig werden.
Wenn die Kreuzesperspektive in dieser Aussage sich erschöpfte, läge darin kein Realismus, und sei es ein negativer, sondern Zynismus. Warum sollte dem Verletzlichen noch gesagt werden, dass es verletzt werden, dem Schuldfähigen, dass es schuldig werden, dem Sterblichen, dass es sterben wird? Es ist aber das Kreuz, wie es etwa die Ikonographie des Apsismosaiks von San Clemente in Rom zeigt, im Horizont der Schöpfung aufgerichtet.
Das Verhältnis von Kreuz und Schöpfung ist dialektisch. Keins löst ins andere hinein sich auf, sie kommen nicht zur Deckung, das eine wird durchs andere fortbestimmt. Die Schöpfung, das Lebendig-Gewollte, geht durch das Kreuz: durch Erniedrigung, Schmerz, Tod. Das vom Kreuz Gezeichnete ist Schöpfungs-Lebendigkeit, es kommt aus dem guten Ursprung, das Gute ist sein Prinzip. Dieses ist Gott selbst, er sagt der Schöpfung, der von ihm gewollten Lebendigkeit, ihr ursprüngliches Gutsein zu, indem er sie durch sein Wort erschafft. Derselbe lässt Jesus nicht im Tod, greift durch dessen Gottverlassenheit (Mk 15,34) hindurch, ist in Jesu Festhalten am Vater auch im Tod noch gegenwärtig, des Kreuzes Weh, Schuld, Tod von innen ergreifend, durch den Tod Jesu Leben erwirkend: Erlösung. Es ist eine biblische Entdeckungsgeschichte, dass Gott der Lebendige nicht in Zuständigkeit fürs Leben nur diesseits des Tods ist – „Die Toten können dich nicht loben“ (Ps 115,17) –, sondern gerade in der Aufbrechung der Endgültigkeitsmacht des Tods, eine Entdeckungsgeschichte mit Kulminationspunkt in der Auferweckung Jesu Christi.
Die Konstellation von Schöpfung und Kreuz: keine Feier eines blanken Vitalismus, der vom Tod nichts wissen will, sondern Emphase einer Lebendigkeit, die das Nein des Tods kennt und nicht hinnimmt. Daraus lässt sich keine hell aufgleißende Feel-Good-Message gewinnen; aber darin vielleicht ein Hoffnungsbild finden, dunkler zwar, jedoch von profunder Leuchtkraft, dank derer es auch in die vertracktesten Unheilssituationen hineinzuscheinen vermag. Das Licht dieses Hoffnungsbilds verbraucht sich nicht am Dunkel des Unheils, in das es hineinleuchtet.
Der Bogen einer Theologie angesichts des Missbrauchs hätte weiter ausgezogen werden können. Vollständigkeit erscheint aber als ein angesichts der Situation unangemessenes Ideal.
Knut Wenzel, Dr. theol., ist Professor für Fundamentaltheologie und Dogmatik an der Goethe-Universität Frankfurt am Main.
[1] So sind 1Sam 6,20 und der Superlativ in Jes 6,7 zu verstehen.
[2] Vgl. Karl Rahner, Art.: Heiligkeit (des Menschen). II. Dogmatisch, in: Ders., Sämtliche Werke, Bd. 17/1: Enzyklopädische Theologie. Die Lexikonbeiträge 1956–1973, Freiburg 2002, 288f.
[3] Vgl. Karl Rahner, Art.: Heiligmachende Gnade, in: Ders., Sämtliche Werke, Bd. 17/1: Enzyklopädische Theologie. Die Lexikonbeiträge 1956–1973, Freiburg 2002, 289–294.
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Beitragsbild: Calvaire von Pleyben (Bretagne) – Erlösung aus dem Höllenschlund, Foto J. Pock
Teil 1 des Beitrags: