Wie kann eine Einladung zum Nachdenken und Nachspüren über das eigene Weiß-Sein formuliert sein, so dass niemand gleich abwinkt? Wolfgang Reißmann macht einen Versuch.
Abwinken tun viele. Die einen, weil ihnen in 2023 keine*r mehr Themen wie Critical Whiteness, Privilegien oder Alltags-Rassismus nahebringen muss. Die anderen, weil sie sich in der „Wokeness“-Kritik schon eingerichtet haben und sich gar nicht erst auf den Weg machen, weil man angeblich ja nichts mehr richtig machen kann. Ich versuche es so: Es ist nie zu spät und nie umsonst, sich für das eigene Weiß-Sein zu interessieren. Jede Weiße Person kann dabei noch etwas über sich selbst lernen und entdecken. Ich bin jedenfalls dankbar, in einer Zeit zu leben, in der es viele Angebote gibt, über die eigene gesellschaftliche Positioniertheit und Prägung nachzudenken. Dabei geht es mir nicht darum, besonders „woke“ zu werden. Mich treibt kein missionarischer Eifer, ich bin kein Altruist. Natürlich habe ich die Vorstellung, dass es allen hilft, wenn tiefsitzende Routinen des Denkens, Fühlens und Handelns, die Trennung und (illegitime) Herrschaft erzeugen, aufbrechen und einem neuen, anderen Miteinander Platz machen. Es geht zunächst aber um mich selbst. Um meine Lebensfreude, mein Heil.
Weiß-Sein erdenken – und erleben
Ich hatte vor zwei Jahren Glück. Eine Bekannte hat ein Rassismus-kritisches Training organisiert und es war noch ein Platz frei. Im Laufe eines Wochenendes haben wir in der Gruppe über viele Fragen diskutiert. Eine grundlegende, die ich bis heute schwer fassen kann, lautet: Was macht mein Weiß-Sein aus? Wie bin ich Weiß? Für mich, für andere Weiße und für Nicht-Weiße?
Freilich findet jede Weiße Person mit intaktem Gerechtigkeitssinn schnell zu abstrakten Antworten, gefüttert mit Wissen um gesellschaftliche Machtstrukturen, intersektional sensibilisiert: Demnach bin ich ein Weißer, mittelalter Mann, Bildungsmilieu, ländlich sozialisiert, usw. Als Weißer, als Mann, der Mittelschicht zugehörig, genieße ich Privilegien, hatte es einfacher als andere, eine akademische Karriere zu machen, der ländliche Hintergrund war hierfür vielleicht weniger förderlich. Allen, denen es (noch) fremd ist, sich selbst in den diversen Ungleichheitsstrukturen zu verorten, sei das dringend empfohlen. Es erdet, es lehrt die strukturell Privilegierten Demut, und es immunisiert vor neoliberalen Irrlehren, wonach alle alles gleichermaßen erreichen können, wenn sie sich nur anstrengen. Was mich persönlich heute mehr beschäftigt, ist jedoch etwas anderes: mein Gefühlsleben, körperliche Empfindungen, habituelle Prägungen, die weniger steuerbar sind als meine rationale Einsicht. Mein Ziel ist ein glückliches und dabei nicht ausgrenzendes Weiß-Sein, das sich irgendwann selbst überflüssig macht, weil auch alle anderen Farben keine Rolle mehr spielen. Für die meisten, insbesondere Nicht-Weiße, ist das in dieser Gesellschaft allerdings nicht der Fall. Solange irgendeine Farbe eine Rolle spielt, solange auch die Farbe Weiß.
Wie also bin ich Weiß? Wie Sie? Ich verallgemeinere nicht, und Glückwunsch, wenn es Ihnen anders geht. Öfter als ich es wahrhaben will, spüre ich: Verhaltensunsicherheiten, Verlegenheit, eigenartige Schuld- und Schamgefühle, Barrieren. Farben stehen mir im Weg, trennen, entfernen mich, verkomplizieren, nehmen Leichtigkeit. Gegen meinen Willen, gegen meinen Verstand, gegen meine Überzeugungen.
Traumatisierte Weiße Körper leiden
In diesem Zwiespalt von Ratio und mindestens situativ gegenläufigem Erleben hat mir ein Buch geholfen, mich als Weiße Person besser zu verstehen und zu erleben. Es heißt „My Grandmother’s Hands. Racialized Trauma and the Pathways to Mending Our Hearts”. Geschrieben hat es der Therapeut, Berater und Autor Resmaa Menakem. Es handelt in erster Linie von den Vereinigten Staaten von Amerika. Nicht zu allem, was beschrieben wird, finde ich direkt Zugang. Die Grundgedanken sind aber übertragbar, zumal der Autor historisch mit Europas Kolonialgeschichte ansetzt, wo auch sonst. Menakem geht davon aus, dass Schwarze wie Weiße Körper und mit Blick auf Polizeigewalt die Körper von Personen staatlicher Exekutivorgane traumatisiert sind. Nicht alle, aber viele. Diese Traumata können durch eigene Erfahrungen ausgelöst werden, werden aber auch intergenerational weitergegeben, kulturell vererbt. Sie wirken weiter in der Art und Weise, was und wie wir über uns und andere sprechen, wie wir einander begegnen, miteinander umgehen, was wir – oft unbewusst – von unseren Eltern und anderen Bezugspersonen gelernt und übernommen haben. Was das Buch für mich so wertvoll macht: Es spricht mich als fühlendes Wesen an. Menakem interessiert sich weniger für abstrakte, ‚kognitive‘ Einstellungen und Wertesysteme, ob eine*r liberal oder konservativ ist, rechts oder links. Er fragt danach, was Menschen – ihre Körper – in unterschiedlichen Situationen und Konstellationen empfinden, und ob es sich um angenehme oder unangenehme Gefühle handelt, ob sie Angst, Wut oder Freude, Geborgenheit verspüren, Kälte oder Wärme, und wenn ja, wo im Körper sie diese Gefühle lokalisieren. Das Buch wechselt permanent zwischen Informationsteil und Körperübungen, die frau*man allein oder in der Gruppe ausprobieren kann.
Das schuldige Auge macht das Gegenüber klein
Natürlich werde ich nicht über Nacht ein anderer Mensch, weil ich ein Buch lese und ein paar Übungen mache. Ich werde aber auch nicht dümmer oder ärmer. Die körperzentrierte Auseinandersetzung birgt Potenzial für inneres Wachstum. Ich habe über mich gelernt, dass mich eine rassifizierende Gesellschaft strukturell zwar privilegiert, ich dafür aber einen emotionalen Preis zahle. In meinem Fall sind es nicht allein, aber vor allem Schuld- und Schamgefühle, mit denen ich zu kämpfen habe. So macht mir mein Weiß-Sein keinen Spaß. Und wenn ich da nicht rausfinde, wird auch mein Ziel, ein glückliches, nicht ausgrenzendes Weiß-Sein zu leben, nur ein frommer Wunsch bleiben. Denn wenn Schuld und Scham nicht trennen – gesenkter Blick, Ignoranz, Über-Sehen, dann verbinden sie auf eine Weise, die langfristig alte Machtverhältnisse nur anders wiederholt. Denn das schuldige Auge macht das Gegenüber klein. In der Ordnung der Schuld bleibt dem Gegenüber nur der Ort der Ohnmacht, es ist Nicht-Subjekt, wird Objekt unserer Unterstützung, unserer (letztlich egoistischen) Wiedergutmachung. Natürlich gibt es konkrete Menschen, in deren Schuld ich stehe oder vor denen ich Scham empfinde, weil ich mich falsch verhalten habe. Es gibt auch gute Gründe, anderen helfend beiseite zu stehen, und eine Verantwortung mitzuwirken, um strukturelle Ungleichheiten abzubauen. Ein Anzeichen für (m)ein Trauma sehe ich dort, wo ich anlasslos Schuld und Scham empfinde, nur weil eine*r anders aussieht oder ich Andersheit zuschreibe. Geholfen ist damit niemandem, diese Verbindung trennt.
Mein Weiß-Sein ist natürlich nicht Ihr Weiß-Sein. Wo ich mit Schuldgefühlen kämpfe, kämpfen Sie vielleicht mit irrationaler Dünnhäutigkeit, einer eigenartigen Weißen Verletzlichkeit und Angst, immer in Habachtstellung, etwas ‚Schlimmes‘ könnte passieren, obgleich ihr Kopf die Statistiken eigentlich ganz gut kennt. Sie wissen, dass es stochastisch rationaler ist, sich von Weißen Körpern bedroht zu fühlen. Aber dieses Wissen hilft Ihren körperlichen Empfindungen wenig. Menakem argumentiert, dass viele solcher Empfindungen auf Traumata zurückgehen, auf die Gewalt, die sich Weiße Körper selbst gegenseitig zugefügt haben. Schon eine kurze Reflexion auf die europäische Geschichte (und Gegenwart) von Krieg, aber auch von Gewalt in der Erziehung, zeigt wie viel Leid wir, verbunden mit unseren Ahnen, mit uns herumtragen, und auch heute weiter produzieren. Rassismus verschiebt auf perfide Art Täter- und Opferstrukturen. Die Angst vor dem Schwarzen Körper ist vielfach die unsichtbar gemachte und verschobene Angst vor anderen Weißen Körpern.
Heilen und Wachsen, jeden Tag ein bisschen, immer wieder neu
Aber nicht alle Körper sind ‚traumatisiert‘ bzw. nehmen diese in unterschiedlichen Situationen unterschiedlich teil, auch körperlich und sinnlich. Glück ist jenen Weißen Personen beschieden, deren Körper weitestgehend komplexfrei und zugleich aufrichtig auf Augenhöhe begegnen und verbinden. Sie sind Vorbilder, White Heroes. Mir gelingt das in Momenten, nicht kontinuierlich. An diesen Momenten möchte ich wachsen, sie mehr werden lassen. Das ist auch das Schöne an Menakems ‚Programm‘: Wir können immer den nächsten, kleinen Schritt gehen. Es ist lern- und trainierbar, unbegründete Ängste und Unsicherheiten aufzuspüren. Diese Prozesse sind anstrengend. Sie stellen Selbstgewissheiten in Frage, Angst vor Gesichtsverlust kann sich einstellen. Aber sich einer Notwendigkeit nicht zu stellen, weil die Aufgabe groß ist, ist keine Alternative. Nur intentionale Weiße Rassist*innen können den einfachen Weg der Schmerzvermeidung wählen, indem sie nicht-weiße Körper ausgrenzen, abwerten, ignorieren. Wir anderen wollen das nicht. Wenn wir Ver-Spannungen spüren, ist wie in jeder Therapie der erste Schritt: Tatsachen anerkennen. Menakem hat für diese Art Schmerz ein schönes Wort: „clean pain“ – „sauberer Schmerz“, im Gegensatz zum „dirty pain“, der auf beiden Seiten entsteht, wenn traumatisierte Körper ‚unbehandelt‘ in Interaktion mit anderen treten. In der Bearbeitung des Erkannten bleibt Menakem ganz beim Körper: Der Anspannung soll Entspannung, der Unsicherheit Geborgenheit entgegengesetzt werden. Atem- und Entspannungsübungen oder uralte Körpertechniken wie Summen, Seufzen und Singen liefern hierfür Ansatzpunkte, die nach und nach in Alltagsroutinen eingebaut werden.
Wenn wir Weiße Personen unsere Körper besser kennten, besser mit ihnen umgehen lernten, wird vieles möglich, wovon die schon nach Gerechtigkeit strebenden Köpfe sich sehnen – was allen zugute käme.
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Dr. Wolfgang Reißmann ist Medien- und Kommunikationswissenschaftler an der FU Berlin und beobachtet sich gerne selbst.
Bild: Stephanie Hofschlaeger – pixelio.de