Literarische Bezüge auf die „Ewige Stadt“. Teil 2 einer Auseinandersetzung mit der Ausstellung „Wunder Roms im Blick des Nordens“, von Erich Garhammer.
Pfingsten in Rom: Sibylle Lewitscharoff
Auch für Sibylle Lewitscharoff gibt es mehrere wichtige Romerlebnisse. Sie war Stipendiatin der Villa Massimo 2013/14. Sibylle Lewitscharoff, 1954 in Stuttgart als Tochter eines bulgarischen Vaters und einer deutschen Mutter geboren, studierte Religionswissenschaften in Berlin, wo sie, nach längeren Aufenthalten in Buenos Aires und Paris, heute lebt. 2013 wurde sie mit dem Georg-Büchner-Preis ausgezeichnet. Der Band „Vom Guten, Wahren und Schönen“ versammelt die 2011 in Frankfurt und in Zürich gehaltenen Poetikvorlesungen.
Stipendiatin der Villa Massimo
2016 erschien ihr Dante- und Romroman „Das Pfingstwunder“. Wer Sibylle Lewitscharoff ein wenig näher kennt, ist nicht überrascht- nicht überrascht über das Dass, über das Wie durchaus. Denn sie hat sich immer schon mit großen Stoffen und Personen beschäftigt, man denke nur an den Philosophen Blumenberg. Das Gespräch mit der Tradition ist ihr bleibend wichtig: „Ich bin überzeugt davon, wer den Wunsch hegt seriös zu schreiben und sich nicht mit Leidenschaft, ja mit Haut und Haaren der Tradition ausliefert, der steht als ein ziemlich armes Würstchen da, dem Affentheater des Zeitgeschmacks völlig ausgeliefert“, so formuliert sie in ihren Poetikvorlesungen (Lewitscharoff 2012, 182).
„Das Pfingstwunder“
Und weiter: „Die, die noch am Leben sind, bergen kein wirkliches Rätsel. Ihre Talente, ihre Lebensweisen können von unseren verschieden sein, aber sie schauen mit ähnlichen Augen in die gleiche Welt und hören mit ähnlichen Ohren dieselbe Kakophonie.“ (Ebd. 123) Deshalb nicht der neueste Schrei in der Literatur, sondern Wiederholung! Wiederholung! Wiederholung. Oder wer das Wort zerlegt hat es besser: wieder-holen, wieder-herauf-holen. Denn „es gibt nur den einen großen Stoff von Liebe, Verrat und Tod, der sich durch die Zeiten wälzt, in wechselnden Kostümen, von wechselnden Machinationen in Gang gesetzt. Und noch immer strömt dieser Stoff in seiner ganzen Fülle aus der heidnischen Antike, dem Alten und neuen Testament und aus den Werken Shakespeares“ (Ebd. 125) – und nun muss man hinzufügen auch aus dem Werk Dantes.
Echokammern der Tradition
Wer solche Echokammern der Tradition besitzt, lebt reicher. Wer die Texte auswendig kann, betreibt darüber hinaus Banalisierungsprophylaxe. Was dem Gedächtnis anvertraut wird und dadurch der Erinnerung zugänglich ist, ist identitätsstiftend. Es bereitet ästhetisches Vergnügen und bietet Schutz vor der Entertainmentfalle. Also-wie schon gesagt, dass sich Sibylle Lewitscharoff mit Dante beschäftigt, war fast erwartbar, das Dass ist keine Überraschung. Aber das Wie: wie schafft sie es in einem Roman diesen Stoff zu bändigen?
„Traumort von erlesener Schönheit“
Zwei Ereignisse sind für ihren neuen Roman nicht unwichtig. Zum einen das Stipendium der Villa Massimo in Rom im Jahre 2013/14. Die Stipendiaten besuchten während des Aufenthalts auch den Sitz der Malteser auf dem aventinischen Hügel: „Ein Traumort von erlesener Schönheit. Einfach so kann man da nicht hineinspazieren, durch einen walnussgroßen Einguck an der Pforte allenfalls einen Blick auf das Paradies erhaschen. Gelangt man jedoch ins Innere des Bezirks, fühlt man sich gehoben. Ein zauberhafter Garten öffnet sich mit den formgehaltenen Büschen, Orangen- und Zitronenbäumchen, mit Palmen und Blumenbeeten. Gerade so, als hätte der verwunschene Ort Modell gestanden für die zahlreichen bezaubernden Bilder, die Maria im Hortus Conclusus zeigen…
Im zweiten Stock des Gebäudes gibt es einen interessanten Saal zu besichtigen. An zwei Längsseiten von tief, fast bis zum Boden eingeschnittenen Fenstern und jeweils einer Terrasse gesäumt, blickt man von der einen Seite auf den etwas tiefer gelegenen Vatikan, von der anderen Seite auf diverse Hügel Roms.“ (Herderkorrespondenz 47) Sie wurde in diesen Saal zu einer Lesung eingeladen. Der Ort für die Handlung des Danteromans war gefunden.
Vita communis unter Gelehrten aus aller Welt – in Berlin
2014/15 war Lewitscharoff Fellow am Wissenschaftskolleg in Berlin. Internationale Experten aus unterschiedlichen Disziplinen waren dort zu Gast. Nur das gemeinsame Mittagessen war Pflicht für den gegenseitigen Austausch sowie jeweils ein Abendvortrag mit Gespräch. Eine Art vita communis unter Gelehrten aus aller Welt, die nicht nur wissenschaftliche Gespräche führen, sondern auch Alltag miteinander teilen. Ein Ort der Alltagsenthobenheit, aber auch für den intellektuellen Austausch. Was lag also näher, als für die Divina Commedia fiktional einen Dantekongress einzuberufen und ihn mit den besten Gelehrten und Danteforschern aus aller Welt zu bestücken. Die Teilnehmendenliste liest sich geradezu wie die Völkerliste aus dem Pfingstbericht der Apostelgeschichte.
Fiktiver Dantekongress – Anwesendenliste wie die Völkerliste aus dem Pfingstbericht
Die Teilnehmer verstehen sich außerordentlich gut und halten glänzende Referate über Dantes Commedia – deren Inhalt wir so nebenbei erfahren. Kein Wunder also, dass die ganze Gesellschaft am Schluss abhebt und gen Himmel entschwindet. Nur einer bleibt zurück, der Erzähler Gottlieb Elzheimer. Der vom Wunder ausgeschlossene Wunderberichterstatter ist jetzt fähig, den Kongress ganz neu zu erzählen, ja überhaupt erst – und das als Danteexperte – seinen Dante wirklich zu verstehen. Vielleicht sollte er alles aufschreiben, was er vom Kongress in Erinnerung hat. Vielleicht sollte er auch Dante ganz neu lesen und zwar so, dass er selber darin vorkommt. Vielleicht gibt es Fingerzeige und Spuren auf dem Kongress, die eine Erklärung bieten für das Unerklärliche.
Romenthusiasmus wird Poesie
So wird aus dem faktischen Kongress ein Elzheimer-Journal der Erinnerung. Darüber kann man freilich nicht in nüchternen Worten berichten, sondern nur pfingstlich: 36 Personen sind entschwunden, 33 Danteforscher und 3 Bedienstete: Die Äthiopierin ohne Namen, der für das Catering zuständige Georgio und der Hausmeister Guiseppe Tomasino. Der Text des Propheten Joel, der in der Vigil des Pfingstsonntags gelesen wird, sollte sich erfüllen, dass der Geist auch über Knechte und Mägde ausgegossen wird. Das Levitationsereignis, das Vorkommnis, jetzt auch als Wunder benennbar wird von der Sensation zur realistischen Möglichkeit. Die Schwebeform des Tagungsortes auf dem Aventin, ein Ort zum Abheben, ein hortus conclusus wirkt auf die Seele der Teilnehmenden ein. Dantes Divina Commedia, ein umwerfend guter Text, wird zum Sprungbrett für hochfliegende Spekulationen samt zugehöriger Menschen. Und das in Rom, auf dem Aventin, beim Beginn des Glockenläutens zum Pfingstfest 2013. Der Romenthusiasmus von Lewitscharoff ist Poesie geworden.
Link zur Ausstellung: Wunder-Roms
Literatur:
Erich Garhammer, „Wie nach einer zweiten Geburt“. Eine Brücke ins Schreiben von Hanns-Josef Ortheil, in: Ders. (Hg.), Literatur im Fluss. Brücken zwischen Poesie und Religion, Regensburg 2014, 42-50.
Erich Garhammer, Sehnsucht nach dem Glauben von einst. Die Psalmen als Sprachheimat von Arnold Stadler, ebd. 123-130.
Erich Garhammer, Pfingsten auf dem Aventin. Sibylle Lewitscharoffs neuer Dante-Roman, in HerKorr 71(2017) 41-43.
Marie Luise Kaschnitz, Engelsbrücke. Römische Betrachtungen, in: Gesammelte Werke Bd. 2, Frankfurt a. Main 1981, 7-269.
Sybille Lewitscharoff, Vom Guten, Wahren und Schönen, Frankfurter und Zürcher Poetikvorlesungen, Berlin 2012.
Dies., Die lesbare Stadt. Eine protestantische Schriftstellerin im Zentrum der katholischen Christenheit, in: Herderkorrespondenz Spezial 2016 „Nach der Glaubensspaltung. Zur Zukunft des Christentums“, 45-47.
Dies., Das Pfingstwunder. Roman, Berlin 2016.
Hanns-Josef Ortheil, Nachwort zu Émile Zola, Meine Reise nach Rom übersetzt von Helmut Moysich, Mainz 2014, 243-26.
Ders., Blauer Weg. Erweiterte Neuausgabe, München 2014.
Ders., Rom, Villa Massimo. Roman einer Institution, München 2015.
Arnold Stadler, Im Grunde war alles nach Hause geschrieben. Dankrede zur Verleihung des Marie-Luise Kaschnitz-Preises 1998, in: Pia Reinacher (Hg.), „Als wäre er ein anderer gewesen“. Zum Werk von Arnold Stadler, Frankfurt a. M. 2009, 119-125.
Arnold Stadler, Mein Hund, meine Sau, mein Leben, in: Ders., Einmal auf der Welt. Und dann so. Roman, Frankfurt a. Main 2009.
Christoph Stiegemann (Hg.), Wunder Roms im Blick des Nordens von der Antike bis zur Gegenwart. Ausstellungskatalog, Petersberg 2017.
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Prof. Dr. Erich Garhammer. Lehrstuhlinhaber für Pastoraltheologie an der Universität Würzburg seit 2000, vorher von 1991 bis 2000 in Paderborn. Schriftleiter der Zeitschrift „Lebendige Seelsorge“ und Herausgeber der Reihe „Studien zur Theologie und Praxis der Seelsorge“.
Bild: wikipedia / Deutsche Akademie Villa Massimo, Rom