Mit ihrem Beitrag zu den „Yardville Babies“ arbeitet Barbara Staudigl ein Stück der Geschichte ihrer Tante auf, die als Ordensfrau ein Haus für schwangere Teenie-Mütter leitete.
Die Weihnachtstage führten mich in die alte Heimat und zu jenem schwäbischen Dorf, in dem meine Großmutter und ihre vier Schwestern Anfang des 20. Jahrhunderts auf die Welt kamen. Meine Großtante – für uns blieb sie trotz ihres Ordensnamens immer Tante Kreszenz – trat mit 19 Jahren bei den Franziskanerinnen in Oberzell ein. Acht Jahre später ging sie in die USA in die Nähe von New Jersey. Meine gesamte Kindheit hindurch war ich sehr stolz darauf, eine Tante in Amerika zu haben. Als ich 18 war, erfuhr ich von ihrer Tätigkeit dort und machte ihr enorme Vorwürfe bei ihrem nächsten Heimaturlaub.
Tante Kreszenz war Fürsorgeschwester für junge Mütter und ihre Kinder. Mit Unterstützung des damaligen Bischofs von Trenton wurde in den 1940er Jahren in Yardville in New Jersey das „St. Elizabeth Home for Unwed Mothers“ gegründet, das meine Tante viele Jahre leitete. In diesem Haus lebten Franziskanerinnen zusammen mit schwangeren Teenie-Müttern bis zur Geburt ihrer Kinder. Die meisten Babies wurden über die Adoptionsvermittlung Catholic Charities Trenton zur Adoption frei gegeben.
Ein Dienst an der bürgerlichen und kirchlichen Doppelmoral.
Ich war 18 und empört. Meine ganze Solidarität gehörte den leiblichen Müttern, denen die Kinder weggenommen wurden. Ich habe meine damals 75-jährige Großtante angeklagt, weil sie der bürgerlichen und kirchlichen Doppelmoral diente, weil sie half, ein System zu stabilisieren, das im Leugnen von Realität und im Aufrechterhaltung eines verlogenen Scheins bestand. Was würde es mit jungen Frauen machen, ihre Babies neun Monate auszutragen und sie dann weggeben zu müssen? Was würde es mit ihnen machen, Mutter zu sein, aber Mutterschaft nicht leben zu dürfen?
Ich fand es unvorstellbar grausam, dass eine junge Frau keine Bindung zu ihrem Baby aufbauen darf, weil die Gesellschaft es nicht duldet, dass sie unverheiratet schwanger geworden ist. Dabei war mir das Gedankengut durchaus vertraut. Auch ich war so erzogen worden, dass es das Schlimmste wäre, unverheiratet schwanger zu werden. Aber das griff in den 80er Jahren meiner Jugend nicht mehr. Wir wussten, dass es Schlimmeres gab als ungewollte Schwangerschaften. Und wir waren eine Generation, die protestierte. Auch gegen die Doppelbödigkeit einer bürgerlichen oder kirchlichen Moral.
Erst viele Jahre später begann ich mit Unterstützung der Franziskanerinnen in Oberzell, mich wirklich mit der Arbeit meiner Tante auseinanderzusetzen. Im Internet findet man Foren, in denen leibliche Mütter – Birth Moms – ihre Kinder suchen und adoptierte Kinder ihre leiblichen Eltern. Es sind aufrührende Texte dabei – und anklagende.
„We are mothers who lost babies to adoption. (…) We were forced to give birth without celebration and told to go away, forget, and endure our loss without open grief or support. But we did not stop being mothers when our babies were taken away. I am my lost daughter’s mother – physically, genetically, heart and soul – from the moment of conception until eternity, and no piece of paper or claim of custody will ever change that.“1
Ich hielt meinen Sohn dreimal in den Armen.
„I held my son three times. Allowed to give him a crib name, I named him Jamie. I left two days after his birth, taking his tiny birth card along with my broken heart and returning to my hometown.“2
Aber da ist auch die andere Seite: Kinder, die in der Gesellschaft der 1940er bis 1970er Jahre als ledige Kinder stigmatisiert worden wären, kamen durch Adoption häufig zu liebevollen Eltern, die selbst keine Kinder bekommen konnten oder bereit waren, einem weiteren Kind Liebe und Erziehung zu schenken.
„I was born there in January 1963. My biological parents, whom I eventually located and met, were 18 years-old college students. (…) Like most adopted children, my adoptive parents, a physician and a nurse, were extraordinarily kind, generous, educated, caring people, as are my adopted siblings. I am truly fortunate to have been adopted by them and I thank God every day.“3 „I was adopted through Catholic Charities when I was 2 weeks old (born October 1964) so my adoptive parents have and always will be my parents. But I am grateful to be here due to the selflessness of my birth mother.“4
This is a story of love in the midst of grief, pain and loss.
Zwei Seiten einer Medaille: traumatisierte jugendliche Mütter, denen die Gesellschaft, die eigene Familie, die Kirche es nicht erlaubte und ermöglichte, ihr Muttersein zu leben; und Kinder, die mit Hilfe der Kirche in Familien adoptiert wurden, die sich ein Kind/ Kinder wünschten, die bereit waren, ihnen Liebe und Erziehung zu schenken. Kann man in einem falschen System Gutes tun?
Im Jahr 2019 schrieb der Franziskaner Bernard Keele einen wunderbaren Artikel über die Yardville-Babies mit jenem differenzierten Blick, den ich meiner Tante nicht schenken konnte und der auch die Schwestern in den Blick nimmt, die jahrzehntelang den Schmerz und die Trauer der jungen Mütter ertragen mussten und glaubten, das Richtige zu tun.
„This is Kris´story.
This ist Antonia´s story.
This ist Laetitia´s story.5
This is a mother´s story.
This is my story. This is your story.
This is a story of care in the midst of confusion.
This is a story of love in the midst of grief, pain and loss.“6
Einfache Sätze, in denen er die Spannbreite des Handelns der Franziskanerinnen und auch meiner Tante zwischen dem Wunsch, zu helfen und den systemischen Zwängen, dass diese Hilfe junge Mütter traumatisierte, darstellt. Einfache Sätze, die deutlich machen, dass die Ambivalenz uns alle betrifft. This is my story. This is your story.
Ambivalenz zwischen eigenem individuellen Tun und dem Verhaftetsein in einem System.
Als ich von den Yardville Babies erfuhr, war ich 18 und empört. Jetzt bin ich 56 und auch mein Leben ist geprägt von der Ambivalenz zwischen eigenem individuellen Tun und dem Verhaftetsein in einem System. Ich arbeite in einem System, das Frauen auf Grund ihres Geschlechts diskriminiert und von Ämtern ausschließt, das über Menschen auf Grund ihrer sexuellen Orientierung urteilt. Darf ich in diesem System arbeiten, meine Arbeit gar als konstruktiv empfinden oder müsste ich nicht, meiner eigenen Logik in der Auseinandersetzung mit meiner Tante folgend, ein System verlassen, das noch immer von Diskriminierung und Doppelmoral geprägt ist?
Ich denke an Adornos berühmten Satz in seinem Essay „Asyl für Obdachlose“ im Buch „Minima Moralia“ ein: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen.“7 Ein berühmter Satz, sowohl in dieser als auch der ursprünglichen, weniger populären Fassung: „Es lässt sich privat nicht mehr richtig leben.“ In seinem Essay aus den 1940er Jahren im Exil in USA geht es um die Frage von gerechtfertigtem Wohnraum, aber letztlich um die Frage, wie sich der und die Einzelne in einer moralisch fragwürdigen Gesellschaftsordnung moralisch verhalten kann. Der Untertitel von Adornos Buch lautet „Reflexionen aus dem beschädigten Leben.“ Ein Untertitel, der bis heute zutiefst gültig ist und uns immer wieder neu einholt: bei der Energiekrise, die uns die moralische Bewertung abverlangt, von wem wir Gas beziehen und wie wir uns als Endverbraucherinnen und –verbraucher dazu verhalten; beim drohenden Klimakollaps und der Frage, wie wir uns in mobilen Gesellschaften als Einzelne zu Auto- und Flugzeugmobilität verhalten u.v.m.
Das Spannungsverhältnis zwischen einem individuell zu verantwortenden Lebensentwurf und den Zwängen eines umgebenden Systems ist Teil der Ambiguität des modernen Lebens. Und war es auch, als meine Tante von den 40er bis zu den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts in Yardville jugendliche schwangere Mütter bis zur Geburt und bis zur Adoption der Babies begleitete.
Ich würde meine Tante gerne um Vergebung dafür bitten, dass ich sie mit jugendlicher Vehemenz und Arroganz angeklagt habe, auch wenn mein Mitgefühl bis heute den Müttern gehört, deren Trauer ich in Foren und Blogs der Birthmothers begegnet bin.
—
Barbara Staudigl, Prof. Dr., ist Stiftungsdirektorin der Trägerstiftung der Katholischen Stiftungshochschule (KSH), einer Fachakademie und Fachoberschule in München. Sie war viele Jahre als Lehrerin, Pädagogikprofessorin und Schulleiterin tätig.
Bild: privat
Bild: Eric E Castro, St. Elizabeth`s Home for Unwed Mothers, flickr.com
- „Wir sind Mütter, die ihre Kinder durch Adoption verloren haben (…) Wir wurden gezwungen zu gebären, ohne die Geburt zu feiern. Uns wurde gesagt, wir sollen weggehen, vergessen und unseren Verlust ohne offensichtlichen Kummer oder Unterstützung ertragen. Aber wir haben nicht aufgehört, Mütter zu sein, als unsere Babies weggenommen wurden. Ich bin die Mutter meiner verlorenen Tochter – körperlich, genetisch, mit Herz und Seele – vom Augenblick der Empfängnis bis in alle Ewigkeit. Und kein Stück Papier und kein Sorgerechtsanspruch kann jemals etwas daran ändern.“ Zitat aus dem Film Four Birthmothers – four mothers. ↩
- „Ich hielt meinen Sohn drei Mal in den Armen. Mir wurde erlaubt, ihm einen Krippennamen zu geben, ich nannte ihn Jamie. Zwei Tage nach seiner Geburt kehrte ich mit seiner kleinen Geburtskarte und meinem gebrochenen Herzen in meine Heimatstadt zurück.“ ↩
- „Ich wurde im Januar 1963 geboren. Meine biologischen Eltern, die ich letztendlich ausfindig macht und traf, waren 18-jährige College-Studierende. (…) Wie die meisten Adoptivkinder kam ich zu Adoptiveltern, ein Arzt und eine Krankenschwester, die außerordentlich gütige, großzügige, gebildete und fürsorgliche Menschen waren – ebenso wie meine Geschwister. Ich bin wirklich glücklich, von ihnen adoptiert worden zu sein und danke Gott jeden Tag dafür.“ ↩
- „Ich wurde durch Catholic Charities zur Adoption vermittelt, als ich zwei Wochen alt war (geboren im Oktober 1964). Meine Adoptiveltern waren immer meine Eltern und werden es immer sein. Ich bin dankbar, hier zu sein auf Grund der Selbstlosigkeit meiner leiblichen Mutter.“ ↩
- Laetita ist eine Franziskanerin, Anmerkung d. Verf. ↩
- „Dies ist Kris‘ Geschichte. Dies ist Antonias Geschichte. Dies ist Laetitias Geschichte. Dies ist die Geschichte einer Mutter. Dies ist meine Geschichte. Dies ist eure Geschichte. Dies ist eine Geschichte der Fürsorge mitten im Durcheinander. Dies ist eine Geschichte von Liebe mitten im Kummer, Schmerz und Verlust.“ In: Keele, Bernard: Catholic Charities, Franciscan Sisters, and the „Yardville Babies“. ↩
- Adorno, Theodor: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben (1951), Frankfurt/ Main 2021, 43. ↩