Franz von Assisi gilt als erster Mensch, der die Wundmale Christi empfangen hat. Stigmata waren und sind für viele Menschen ein unzugängliches Phänomen und in der Gegenwartssprache steht der Begriff Stigma für Ausgrenzung und Abwertung. Thomas Sojer entwickelt dagegen ausgehend von einem Autograph, wie eine Spiritualität der Wundmale heute aussehen kann.
Heute, vor genau 800 Jahren, am Dienstag, den 17. September 1224, empfängt Franz von Assisi auf dem Berg La Verna in den Wäldern des Casentino die Wundmale Christi. Dieses Ereignis prägt die franziskanische Erinnerungskultur. Das blutige Fest wird jährlich gefeiert. Franziskus ist der erste Mensch mit übernatürlich empfangenen Stigmata. Die franziskanischen Ordensgemeinschaften betonen dieses Alleinstellungsmerkmal selbstbewusst. Am Tor des Klosters auf La Verna steht bis heute in lateinischer Inschrift: „Es gibt auf der ganzen Welt keinen Berg, der heiliger wäre.“ Körpermarkierungen haben topographische Auswirkungen.
Körpermarkierungen haben topographische Auswirkungen.
Die Stigmata von Franziskus erscheinen nach seinem Tod im Jahr 1226 im Wappen des Ordens. Darin überkreuzen sich die stigmatisierten Hände von Franziskus und Christus. Die päpstliche Bestätigung der Echtheit erfolgt umgehend. Franziskus wird zügig heiliggesprochen und mit dem Titel „alter Christus“ verehrt. Als zentrale Gestalt des 13. Jahrhunderts erregt er Bewunderung und Neid, letzteres besonders bei den Dominikanern. Diese sehen in der Stigmatisation eine Verschiebung der geistlichen Bedeutung der Stigmata. Die Wundmale waren bislang im Ritus der Handsalbung an die Priesterweihe gebunden gewesen. Dass nun Franziskus, ein Laie, in der Liturgie als zweiter Christus angerufen wird, stößt bei den Predigerbrüdern auf Widerstand. Die Dominikaner reagieren etwa 150 Jahre später mit der Verehrung von Katharina von Siena als erste weibliche Stigmatikerin, wenn auch mit unsichtbaren Wundmalen. Die Franziskaner empfinden dies dann ihrerseits als Provokation.
Bis heute streitet man sich in der Franziskusforschung darüber, ob und wie die Wundmale Christi auf den Körper von Giovanni Bernadone (Franziskus‘ Geburtsname) gelangten. Ein handfestes Erinnerungsstück existiert jedoch: die Chartula Fr. Leoni data, das einzige erhaltene Autograph von Franziskus. Dieses gilt in der Forschung als authentisch. Bruder Leo von Assisi, der Beichtvater und Vertraute von Franziskus, ist der Empfänger des persönlichen Schreibens.
Jahrzehnte nach dem Tod von Franziskus fügt Leo drei Rubriken in roter Farbe hinzu. Darin schildert er, wie die Vision eines Seraphs mit der Stigmatisation verbunden war und wie Franziskus das Pergament für ihn persönlich verfasst hat, nachdem er Zeuge der Verwundung des Poverello geworden war. Franziskus soll seinen Gefährten und Freund eindringlich gebeten haben, das Schriftstück immer bei sich zu bewahren. Wie eine zweite Haut sollte er es zeitlebens tragen.
Dieses Ereignis entfesselte die ikonografische Fantasie. Dramatische Szenen von gekreuzigten Engeln und blutroten Strahlen erscheinen auf Altären und Fresken in Europa und den Kolonien. Franziskus wird schlagartig zum Modell des miterlösenden Sühneopfers. Die Franziskusforschung der Nachkriegszeit hebt jedoch hervor, dass die überlieferten Schriften von Franziskus keine Mystik des Kreuzes und des Leidens forcieren (vgl. z.B. den Gesichtsausdruck Christi am Kreuz von San Damiano).
Die Urschrift des Franziskus enthält keine Hinweise auf Leiden oder Sühne.
Bruder Leo, der inzwischen zurückgezogen im Schwesternkloster von Klara von Assisi lebt, richtet seine Rubriken auf der textuellen Reliquie an einen Franziskanerorden, der sich in seinen Augen von den Idealen des Franziskus entfremdet hat. Der Streit um die Armut, der Franziskus schon zu Lebzeiten zum Rückzug gezwungen hatte, prägt weiterhin den Orden. Gleichzeitig wird das übernatürliche Leiden des verstorbenen und heiliggesprochenen Gründers zum Halt einer taumelnden Gemeinschaft.
Während die Aufmerksamkeit des Ordens auf Blut und Wunden gerichtet ist, erinnert Leo mit seinem Weiterschreiben auf dem heiligen Pergamentstück an einen entscheidenden Kontrast. Die Urschrift des Franziskus enthält keine Hinweise auf Leiden oder Sühne. Der lateinische Text auf der Vorderseite besteht aus einem Hymnus, in dem Gott neunundzwanzig Mal als Du angerufen wird, und jeder Sprechakt wird mit einer anderen positiven Eigenschaft verbunden. Auf der Rückseite steht der Aaronitische Segen, der mit einem großen Tau-Kreuz schließt, das aus dem Mund eines liegenden Kopfes herauskommt und mitten durch den Namen von Leo geführt wird. Das Tau, für die ägyptischen Wüstenväter ein Symbol der Erlösung und phonosemantisch an das Taw am Ende des hebräischen Alphabets angelehnt[i], wird von Franziskus als persönliches Markenzeichen gewählt.
der pulsierende Rythmus des Hymnus
Ich lese den Text nicht unbefangen. Mir fällt es schwer, den Franziskus, der mir mit seinen Texten, Gebeten und Liedern vertraut geworden ist, mit dem Stigmatiker Franziskus, dem zweiten Christus, zu vereinen. Umso mehr betrachte ich Leos rote Rubriken als Akzentverschiebung in einer Zeit, in der das Heilige oft blutrünstig und Erlösung als Schuldtilgung verhandelt wurde. Wenn ich den Hymnus spreche, fällt mir auf, dass jeder Vers, der mit dem Du beginnt, im Lateinischen mit dem Tau in inchoativer Weise eröffnet: „Tu es amor, caritas, … Tu es sapientia, Tu es humilitas, Tu es patientia, Tu es pulchritudo…“.
Ein Rhythmus entsteht, der in mir beim Sprechen pulsiert: „Tu es…, tu es…, tu es…“ – eine poetische Stilfigur, die auch in Rilkes Stundenbuch den Worten ihren Atem verleiht: „Du aber bist und bist und bist, umzittert von der Zeit.“ Beim Sprechen des Hymnus, den Franziskus verfasst hat, verknüpfen sich in der Anrede an Gott mein Puls, mein Atem und das augenblickliche Sichtbarwerden des Tau-Kreuzes in jeder neuen Lobpreisung, ein textiler Herzschrittmacher, der das Leben verwebt zwischen Du und Du.
Verbindung zwischen dem großen Tau-Kreuz, dem Du an Gott und dem Du an Leo
Wir „wissen“ von Umberto Eco und seinem William von Baskerville, dass die Franziskaner der ersten Stunde Semiotiker waren, die ihren Fachkolleg:innen im 20. Jahrhundert um nichts nachstanden. Ich sehe eine Verbindung zwischen dem großen Tau-Kreuz, dem Du (Tu) an Gott und dem Du an Leo, der im Aaronitischen Segen und mit der zusätzlichen Formel „Dominus benedicat, frater Leo, te“ ebenfalls direkt mit dem Du angesprochen wird. Das Du wird zum Geschenk zwischen Freunden, oder wie Rose Ausländer es ausdrückt: „Wir wohnen Wort an Wort. Sag mir dein liebstes, Freund, meines heißt: DU“.
Was könnte das alles bedeuten? Ich schlage folgende vorsichtige Lesart vor: Die direkte Anrede an Gott im Du bleibt offen und unbestimmt und verlässt in der Verflochtenheit mit Demut, Sanftmut und Geduld die triumphalen Gewässer. Damit zeigt Gottesrede sich in irdenen Gefäßen. Die Worte von Franziskus stehen in Nachbarschaft zu Paul Celans „Gelobt seist du, Niemand. Dir zulieb wollen wir blühn. Dir entgegen.“ im Gedicht „Psalm“.
Franziskus verwebt im semiotischen Sprachgewand des Du-Sagens Gott, Mensch und Natur.
Einige Zeit nach La Verna wird Franziskus den berühmten Sonnengesang abfassen, der in demselben Pathos aus fragiler Verbundenheit auf die Welt blickt. Anton Rotzetter OFMCap erkennt in den 33 Lebensjahrzeilen des Sonnengesangs ein kodiertes Christusmonogramm, das sichtbar wird, wenn man eine Linie zwischen jeweils zwei semantisch einander zugeordneten Begriffen zieht. Das italienische „per“, das der gesamten Schöpfung in ihren Einzelaspekten zugeordnet wird, bedeutet in medientheoretisch raffinierter Weise sowohl „für“ als auch „durch“: „Gelobt seist du, mein Herr, für Schwester Mond/ durch Schwester Mond.“ Franziskus‘ Sicht auf die Welt offenbart einen dynamischen Prozess der Zeichenbildung: Gott ist nicht der ferne Schöpfer in der Vergangenheit, sondern die Quelle, Origo einer Zeigegeste, die wiederum Gottes lebendige Gegenwart und Fürsorge in der Welt neu aufdeckt. Franziskus verwebt im semiotischen Sprachgewand des Du-Sagens Gott, Mensch und Natur. Dabei erweist er sich als ein Meister in der Gestaltung textiler und textueller Ausdrucksformen. Ein wahrer Bernadone!
Vor dem Hintergrund der starken Betonung von Leiden als Sühnehandlung durch die Kirche tritt das Tau-Kreuz in eine völlig andere Konstellation, die aus der intimen, persönlichen Verbindung zum Du besteht. Dieses Du zeigt sich in Formen wie Liebe, Demut, Geduld, Schönheit, Ruhe, Sanftmut und Frieden. Der Franziskus, den uns Leo in den Rubriken schildert, beschönigt damit das Leiden nicht und klammert es nicht aus. Für ihn wird seine Verwundung zum Anlass, eine tiefe Verbundenheit zum göttlichen Du und zu Leo auszudrücken.
Er tut dies jedoch in einer indirekten, zeichenhaft s-tau-rologischen Form (vgl. die Bedeutung des Tau im Staurogramm). So wandelt sich das Stigma zu einem Zeichen universaler Verwundbarkeit. Damit befreit Franziskus das Kreuz aus dem Kontext der Sühne. Oder wie es Celan seinerseits über die Verschränkungen (Chiasmen) des Lebens ausdrückt: „Paris 28.5.1960/Im Chiasmus ist mehr vom das Kreuz näher als im Thema ‚Kreuz‘.“
Für ihn wird seine Verwundung zum Anlass, eine tiefe Verbundenheit zum göttlichen Du und zu Leo auszudrücken.
Im Puls des Tau-förmigen Du zeigt sich jene universale Verwundbarkeit und Verbundenheit als fundamentale Ebene allen Lebens, wie sie Judith Butler in der Essaysammlung „Gefährdetes Leben“ beschreibt. Butler argumentiert, dass die Anerkennung unserer gemeinsamen Verwundbarkeit eine ethische Verpflichtung schafft, die eigene Verwundbarkeit und die anderer zu respektieren und zu schützen. Diese Anerkennung bildet die Grundlage für eine Ethik, die sich gegen Gewalt und Herrschaft richtet und stattdessen Fürsorge, Mitgefühl und Verantwortung in den Vordergrund stellt. Anstatt Verwundbarkeit als Schwäche zu betrachten, fordert Butler, sie als verbindendes Element zu sehen, das zu solidarischem Handeln und zur Schaffung von sozialen und politischen Strukturen führt, die das Leben und die Würde aller Menschen gleichermaßen schützen und fördern.
Der 17. September 1224 ist ein Schlüsselerlebnis: Erlösung liegt nicht in der Sühne, sondern im gegenseitigen Zuspruch, wie Joseph Beuys es formulierte: „Zeige deine Wunde“– vor einem Du die Blöße sichtbar machen, ohne weiter oder wieder verletzt zu werden. Dieser Zuspruch gelingt nur von Du zu Du und, wie der sterbende Franziskus wusste, nur auf diese Weise überwinden wir den Tod. Oder wie es mit Psalm 25 im Hebräischen so sehnsuchtsvoll geschrieben steht: כְּחַסְדְּךָ֥ זְכָר־לִי־ אַ֑תָּה – „in deiner Güte erinnere mich: DU“. Das ist Auferstehung.
Thomas Sojer leitet die Bücherei in Hohenems, Vorarlberg. Zusammen mit Jörg Seiler betreibt er die Forschungsstelle Sprachkunst und Religion an der Universität Erfurt, die schwerpunktmäßig mit aktuell entstehender Lyrik im deutschsprachigen Raum arbeitet.
[i] Das hebräische Taw hat mit dem griechischen Tau einen gemeinsamen phönizischen Vorfahren im Taw, das wie ein Kreuz gezeichnet wird. In der Bibel wird Taw ähnlich wie das griechische Wort Stigma (Markierung, Mal) verwendet (vgl. Ez 9,4 und Hiob 31,35). Das Taw ist auch zentral in der symbolischen Deutung des hebräischen Du: Das weibliche „Du“ את (Aleph Taw) besteht aus dem ersten und dem letzten Buchstaben des hebräischen Alphabets, Aleph und Taw, die als Merismus alles Geschaffene und mit Namen Benannte symbolisieren. Das männliche „Du“ אתה (Aleph Taw He) wird um den Buchstaben He erweitert. He wird als Abkürzung für „Haschem“ verwendet, was so viel wie „der Name“ bedeutet und eine gängige Art ist, Gott zu sagen, ohne das Tetragramm direkt auszusprechen.
Bildnachweise:
Beitragbild: Die Stigmatisation des Hl. Franz von Assisi, Fresko in St. Katharinen/Lübeck (https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Franziskus_st-katharinen.jpg?uselang=de#Lizenz)
Manuskript: https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/4/47/Manuscrito_de_s_francisco.jpg