Mit Blick auf die „Zeichen der Zeit“ und kirchliche Appelle wirft Wolfgang Bartsch die Frage auf, ob das kirchliche Zinsverbot neu aufleben könnte.
Die globalen Entwicklungen der letzten fünfzig Jahre ließen die Erkenntnis zunehmen, dass ständiges Wachsen der Wirtschaft auf unserem endlichen Planeten in eine existenzielle Sackgasse führt. Dies ist keine rein wirtschaftswissenschaftliche Angelegenheit, sondern berührt eine Vielzahl von politischen und ethischen Fragestellungen. Nicht zuletzt deshalb können wir als Christinnen und Christen in dieser Debatte nicht abseits stehen.
Strukturen der Sünde aufbrechen?
Denn wenn wesentliche Treiber des Wachstumsparadigmas in (übersteigerten) Kapitalverzinsungserwartungen liegen, stellt sich mir die Frage: Wären nicht „Strukturen der Sünde“[1] wie sie Papst Johannes Paul II. u.a. in der Vergötzung des Geldes erkannte, aufzubrechen? Könnte dies dem „Prinzip der Unentgeltlichkeit im normalen wirtschaftlichen Leben“[2], das Papst Benedikt XVI. propagierte, mehr Raum geben?
Oder anders ausgedrückt: Wie können wir befördern, dass einander die politische Rahmensetzung, ein menschen- und umweltverträgliches Wirtschaftsverständnis sowie individuelles Rückfahren des Ressourcenverbrauchs so ergänzen, dass sie gemeinsam zu einem zweckmäßigen Ergebnis führen?
Katholische Kirche als Anwältin der Armen
An dieser Stelle lohnt vielleicht ein Blick zurück: Bis in die Neuzeit hat die katholische Kirche das Zinsverbot hochgehalten, ehe es schrittweise aufgeweicht wurde (die letzten Reste im Kirchenrecht wurden erst in den 1980er-Jahren bereinigt).
Im Kern ging es diesem biblisch fundierten Verbot um (Austausch) Gerechtigkeit und Schutz der Armen. Zugleich wurde mit der antiken Lehre von der „Unfruchtbarkeit des Geldes“ argumentiert, dass sich Geld aus sich heraus nicht automatisch vermehren könne und somit naturrechtlich nicht dürfe.
Jeder Gewinn ist wucherisch?
Papst Benedikt XIV. brachte es 1745 in seiner Enzyklika „Vix pervenit“ nochmals auf den Punkt: „Die Sünde, die Zinsnehmen heißt und im Darlehensvertrag ihren eigentlichen Sitz und Ursprung hat, beruht darin, dass jemand aus dem Darlehen selbst für sich mehr zurückverlangt, als der andere von ihm empfangen hat und zu diesem Zweck aufgrund des Darlehens selbst irgendeinen Gewinn über die Stammsumme hinaus als geschuldet beansprucht. Denn der Darlehensvertrag verlangt seiner Natur nach lediglich die Rückgabe der Summe, die ausgeliehen wurde. Jeder Gewinn, der die geliehene Summe übersteigt, ist deshalb unerlaubt und wucherisch.“
In der theologischen Diskussion wurde der Frage nachgegangen, ob das Zinsverbot lediglich in vorindustriellen Gesellschaften zum Schutz der Notleidenden bei existenziellen Konsumdarlehen angebracht gewesen wäre. Dann hätte es sich schon allein deshalb überlebt, weil Zins und Kredit in modernen Wirtschaftskontexten weitere Funktionen (wie zum Beispiel die effiziente Steuerung von Investitionen) erfüllen. Das würde einen ökonomischen Umstand darstellen, der den Horizont vormoderner Theologinnen und Theologen überstiegen hätte.
Mittelalterliche Theologie mit praktischem Realitätsbezug
Liest man jedoch Thomas von Aquin zur Zinsfrage zeigt sich zweierlei: zum einen das ökonomische Verständnis in der Begründung des Zinsverbots mit Austauschgerechtigkeit bei vertretbaren Gütern wie Geld[3]. Zum anderen sehen wir den praktischen Realitätsbezug mittelalterlicher Theologie. Denn es wurde eine Anzahl von Rechtstiteln als erlaubt angesehen, die zum Darlehensvertrag hinzutreten konnten und so berechtigte Entgelte über die Rückerstattung der eigentlichen Darlehenssumme hinaus ermöglichten. Freilich können diese Instrumente auch als Zugeständnis an den Frühkapitalismus gesehen werden. Jedenfalls war in ihnen bereits die Umgehung des Zinsverbots grundgelegt, die letztlich über die Jahrhunderte zu seiner Erosion führte.
Neubelebung von Zinskritik
Nach diesem sehr knappen historischen Abriss kommen wir nun zur Frage zurück, worin heute konkrete „Zeichen der Zeit“ liegen, die zur möglichen Neubelebung kirchlicher Zinskritik führen könnten.
Die Logik steten Wachstums in der globalisierten Wirtschaftsordnung bedingt sozio-ökonomische und -ökologische Verwerfungen. Diese führen zu krisenhaften Phänomenen unserer Zeit: von Finanz-, Wirtschafts- und Staatsschuldenkrise über Nord-Süd-Konflikt mit Migrationskrisen bis zur Umwelt- und Klimakrise. Zeitgleich werden auch in ökonomischen Fachkreisen zunehmend Konzepte alternativer Ökonomie diskutiert, darunter Postwachstums-Ansätze bzw. eine sogenannte „Steady State Economy“, in der hohe Wachstumsraten und Zinsen keine wesentliche Rolle spielen würden.
Umkehr in persönlichen Lebensweisen
Zugleich nehmen wir unter dem Pontifikat von Papst Franziskus eine deutlich kapitalismuskritische Bekräftigung der katholischen Soziallehre und Erweiterung um ökologische Themen wahr. Der Papst spricht bei vielen Anlässen vom Götzen Geld und einer Wirtschaft, die ausschließt und Tod bringt. Mehrfach wird eine Umkehr und Änderung des Lebens- und Wirtschaftsstils im Geist des Hl. Franz von Assisi gefordert[4].
Mir erscheint dieser Appell der Kirche nach Umkehr unserer individuellen Lebensweisen berechtigt. Dieser widerständische Aufruf „privatisiert“ nicht einfach die Verantwortung für den Wandel gesellschaftlicher Subsysteme wie der Wirtschaft, sondern legt dafür einen entscheidenden (spirituellen) Grundstein: die Fokusverschiebung vom säkularen Anspruchs-, Machbarkeits- und Wachstumsdogma hin zu einer gemeinwohlorientierten Lebensführung in Verantwortung für die Mitwelt.
Nicht nur einen Teil des Heiligen Franziskus
Allerdings stellt sich für mich die Frage, ob nur an die weithin bekannten Tugenden der Naturverbundenheit, Einfachheit, Armenfürsorge und Friedfertigkeit des Franz von Assisi gedacht wird? Oder mutet uns der Papst diesen Heiligen auch mit seiner radikalen Geld- und Zinsablehnung als Vorbild zu?
Wenn dem so wäre, müsste sich die Kirche wohl um eine Neubelebung des klassischen Zinsverbots annehmen. Nur wie könnte eine Übersetzung ins 21. Jahrhundert aussehen? Was würde es für ein – aus dem christlichen Glauben motiviertes – Leben als (römisch-katholische/r) Christin bzw. Christ heute bedeuten?
Vielfältige Stimmen solidarischer Ökonomie
Genau darüber würde sich eine ausgiebige innerkirchliche Diskussion lohnen. Dabei sollten bewusst Stimmen aus anderen Konfessionen, Religionen und Kreisen solidarischer Ökonomie miteinbezogen werden. Am Ende steht womöglich kein unreflektiertes Wiederaufleben des seinerzeitigen Zinsverbots. Der Akzent in einer verheutigten kirchlichen Zinskritik könnte dagegen im Eintreten für zweierlei liegen: für eine Neubewertung der Rolle des Geldes und einer stärkeren Unentgeltlichkeit von Austauschbeziehungen in unserer Gesellschaft sowie für die Einbeziehung sozialer und ökologischer Folgekosten in die Bildung der Preise. Nicht zuletzt darin lägen konkrete Impulse zur Transformation unserer Wirtschaft in ein zukunftsfähigeres Postwachstumsparadigma. Ganz im Sinne des Gleichnisses von den anvertrauten Talenten (Lk 19, 11-27), in dem nicht zinsträchtige Vermehrung materieller Güter gefordert, sondern wachsende geistige Weiterentwicklung eingemahnt wird.
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Autor: Wolfgang Bartsch, Sozial- und Wirtschaftswissenschaftler, ehrenamtlich kirchlich und interreligiös in der Erzdiözese Wien engagiert, zuletzt mit einem Vortrag „Lasst uns anders wirtschaften! Ein spiritueller Weg zu einer alternativen Lebensweise.“
Bildquelle: Kamiel Choi – https://pixabay.com/de/photos/degrowth-nachhaltigkeit-wachstum-594870/
[1] Enzyklika „Sollicitudo rei socialis“ (1987), Nr. 37
[2] Enzyklika „Caritas in veritate“ (2009), Nr. 36
[3] Vertretbare Güter sind solche, deren Gebrauch ihrem Verbrauch gleichkommt (wie z.B. Wein, den man trinkt; oder eben Geld). Deshalb könne man – so die Scholastiker – nicht doppelt Entgelt verlangen, also für den Gebrauch Zins, obwohl man am Ende den vollen Gegenwert des Geborgten zurückerstattet erhält. Anders liegt es hingegen bei Gebrauchsgütern wie einer Wohnung, für die ein Vermieter Mietzins verlangen dürfe, weil dort Gebrauch und Verbrauch auseinanderfallen. Zudem erkennt Thomas von Aquin auch das Argument, Zins entschädige den Gläubiger für den Zeitraum der Entbehrung der Geldsumme, nicht an, weil das ein Geschäftemachen mit der – nur Gott vorbehaltenen – Zeit und ein Verstoß gegen das dritte Gebot wäre.
[4] vgl. Enzyklika „Laudato si‘“ (2015), Nr. 216ff | Brief von Papst Franziskus zu „The Economy of Francesco“ (2019) | Schlussdokument der Amazonien-Synode (2019), Nr. 17