Die Frauenbewegung des 20. Jahrhunderts trägt verschiedene Gesichter. Was Simone de Beauvoir und die frühe evangelische Frauenbewegung der Schweiz verbindet und unterscheidet, und wie über das Frauenbild diskutiert wurde, reflektiert Evelyne Zinsstag.
In den 1950er-Jahren mussten Frauen in der Schweiz zwischen Berufstätigkeit und Ehe wählen. Eine „richtige Frau“ fügte sich nach der Heirat ihrer „natürlichen Bestimmung“ als Hausfrau – und wer darauf verzichtete und die Berufswelt vorzog, blieb zeitlebens ein „Fräulein“. Dieser doppelte Ausschluss der „Frau“ aus der Öffentlichkeit trug den Keim zur Vorbereitung der sogenannten Zweiten Welle der Frauenbewegung in sich: So zwang er berufstätige, unverheiratete Frauen zu lernen, ihr Frausein jenseits von Kind und Mann zu definieren. Sie entdeckten die Frau als eigenständiges Individuum – eine unverzichtbare Voraussetzung für die radikale Patriarchatskritik, die in den 1970er-Jahren einsetzte. Diese Entdeckung steht auch am Anfang der evangelischen Frauenbewegung in der Schweiz.
doppelter Ausschluss der „Frau“ aus der Öffentlichkeit
Den Beginn der evangelischen Frauenbewegung in der Schweiz an einem bestimmten Datum festzumachen, ist schwierig.
Evangelische Frauen waren seit jeher beteiligt an der (freiwilligen) Arbeit in der Gemeinde und engagierten sich in kirchlichen und säkularen Frauenvereinen, die sich im Laufe des 19. Jahrhunderts bildeten. Ab 1900 schlossen sich viele dem Bund Schweizerischer Frauenvereine (BSF) an, der auf Bundesebene in politischen Anliegen der Frau Einfluss nahm. Für die religiös-sozialistische Bewegung entwarf Clara Ragaz bereits 1920 in Ein sozialistisches Programm für die Schweiz ihre Vision für die Stellung der Frau in der gleichberechtigten sozialistischen Gesellschaft.[1]
Umsturz der Schöpfungsordnung
Die nicht-sozialistischen evangelischen Frauen hatten jedoch lange Zeit Mühe, sich als Feministinnen oder Frauenrechtlerinnen zu bezeichnen. Diese Begriffe implizier(t)en einen Umsturz der Schöpfungsordnung, die sie als Christinnen nicht vertreten konnten, war die Schöpfungsordnung doch von Gott gegeben. So distanzierten sich auch die Theologinnen, die seit Anfang des 20. Jahrhunderts nach und nach Zutritt in die theologischen Fakultäten der Schweiz erhielten, ausdrücklich von der Bezeichnung als Feministinnen. Nicht der Umsturz der Schöpfungsordnung war ihr Ziel – sondern die Ausübung ihrer Berufung zum Dienst am Evangelium.
Ein Bedarf an evangelischer Positionierung innerhalb der Frauenbewegung wurde erst am Dritten Nationalen Kongress für Fraueninteressen (1946 in Zürich) festgestellt. Die Veranstaltung Das Christentum im Wirken der Frau stiess bei den Teilnehmerinnen auf so grosses Interesse, dass sie mehrmals wiederholt werden musste und als Anstoss für die Gründung des Evangelische Frauenbunds (EFS, heute Evangelische Frauen Schweiz) wirkte. Angesichts der viel früheren Gründungen des Katholischen Frauenbunds (SKF, 1912) und des Verbands Christkatholischer Frauen (VCFS, 1916) mag verwundern, weshalb die evangelischen Frauen in der Schweiz sich erst so spät organisierten. Ein Grund könnte darin liegen, dass der 1900 gegründete, Bund Schweizerischer Frauenvereine (BSF, heute Alliance F), zwar säkular ausgerichtet, aber durch seine Gründerinnen protestantisch dominiert war.
In der Nachkriegszeit erschienen auch die ersten evangelischen Publikationen, die sich mit feministischer Literatur auseinandersetzten. 1949 veröffentlichte Charlotte von Kirschbaum mit Die wirkliche Frau eine erste Betrachtung von Wesen und Aufgabe der Frau aus evangelisch-theologischer Sicht.
Diese Publikation enthält eine Auseinandersetzung Charlotte von Kirschbaums mit dem ersten Band von Simone de Beauvoirs umfangreichem feministischen Manifest Le deuxième Sèxe, das im gleichen Jahr erschienen war.
Sie setzt dem existentialistischen Freiheitsbegriff einen biblischen entgegen: „In der Bibel steht aber, dass der Mensch seine Freiheit nicht erwerben muss (wie bei den Existentialisten), sondern dass er als Befreiter leben darf, weil er schon einer ist. Er geht nicht diesem Ziel entgegen, er kommt von diesem Ziel her.“[2] Aus dieser Perspektive sei die christliche Frau bereits frei, sich dienend den Aufgaben zu widmen, die ihr in der Gesellschaft gestellt würden. Von Kirschbaum zog dabei durchaus auch Aufgaben in Betracht, die der Frau damals noch nicht zugestanden wurden. Ihre relativ konservative Auslegung der Schöpfungstheologie stiess jedoch auf wenig Resonanz.
Marga Bührig zu Simone de Beauvoir: „hier fällt die Frau einmal nicht mit ihrer ‚natürlichen Bestimmung‘, d.h. mit Ehe und Mutterschaft zusammen.“
So ging Marga Bührig, die Theologin und spätere Leiterin der evangelischen Heimstätte Boldern, nicht auf ihre Überlegungen ein, als sie 1954 in Die evangelische Schweizerfrau, dem Mitteilungsblatt des Evangelischen Frauenbunds, ihre eigenen Gedanken zu Simone de Beauvoir publizierte. Doch auch sie brachte in ihrer Kritik de Beauvoirs die Schöpfungstheologie ins Spiel:
Das Ziel [von de Beauvoir] ist die völlige Gleichstellung von Mann und Frau. […] Es ist ein ‚unweibliches‘ Bild der Frau, das uns da anschaut, und ein unheimliches, und es ist keine Ausgeburt der Phantasie, sondern durchaus Wirklichkeit im Osten und im Westen [d.h. in den USA und in der Sowjetunion], wenn auch mit verschiedener Motivierung. Eins scheint mir daran für uns wesentlich: hier fällt die Frau einmal nicht mit ihrer ‚natürlichen Bestimmung‘, d.h. mit Ehe und Mutterschaft zusammen. Sie wird nicht einfach aus ihrer Natur erklärt, und es werden keine Gesetze aus dieser abgeleitet. Das ist sehr viel. Die Art, wie dann freilich diese Natur übersprungen wird, wird uns nicht überzeugen. Wer weiss, dass diese Natur Gottes Schöpfung ist, […] kann das nicht tun. Er bleibt gebunden an Gottes Gebote. […] Insofern ist die Freiheit, die S. de Beauvoir meint, eine Illusion, d.h. die wirkliche Freiheit ist auf ihrem Wege nicht zu erreichen.[3]
Bührig kann den Gedanken der Schöpfungsordnung, die auch die Differenz der Geschlechter und damit verschiedene Aufgaben für Frau und Mann umfasst, nicht preisgeben. Dennoch greift sie Simone de Beauvoirs Impuls auf, Wesen und Aufgabe der Frau nicht allein aufgrund ihrer „natürlichen Bestimmung“ zu definieren. Für unverheiratete Frauen in der Berufswelt war eine solche Neuausrichtung des Frauenbildes notwendig. Sie half ihnen, sich als Frauen jenseits von Ehemann und Kindern, einfach als Individuen zu definieren, denen alle möglichen sozialen Rollen offenstehen. Und durch das Festhalten an ihrem Frau-sein machten sie sich bereits in den 1950er-Jahren daran, sich in der Berufswelt nicht einfach am männlich geprägten Usus zu orientieren, sondern ein eigenes Selbstverständnis dafür zu finden, was es bedeutet, als Frau berufstätig zu sein.
Neuausrichtung des Frauenbildes
Die Texte von Theologinnen wie Marga Bührig, Dorothee Hoch, Ruth Epting oder Else Kähler, die oftmals auch von kirchlicher Seite dazu verpflichtet waren, ledig zu bleiben, wenn sie berufstätig sein wollten, lesen sich aus heutiger Sicht nicht als provokante Vorbotinnen der radikalen Frauenbewegung der 1970er-Jahre. Sie bieten vielmehr Aufschluss darüber, welche Arbeit am Selbstverständnis und Selbstvertrauen der Frauen nötig war, bevor sie nach Erlangung des Frauenstimmrechts auf Augenhöhe mit ihren männlichen Mitbürgern kritisch und fordernd aufs politische, gesellschaftliche und kirchliche Parkett treten konnten.
[1] Vgl. Ragaz, Clara (1920): Das Programm der Frauenbewegung, in: Gerber et al. (Hg.): Ein sozialistisches Programm, Olten: Verlag W. Trösch, 200–224.
[2] Von Kirschbaum, Charlotte (1949): Die wirkliche Frau, Zollikon – Zürich: Evangelischer Verlag, 96.
[3] Bührig Marga (1954): Das Bild der Frau in unserer Zeit in der Sicht von Simone de Beauvoir und Gertrud von Le Fort (Referat, gehalten an einer Bolderntagung für berufstätige Frauen), in zwei Teilen veröffentlicht in:
Die evangelische Schweizerfrau (1954/4), 6. Jahrgang, 6–9 und (1954/5), 6–10. Zu diesem Zitat vgl. ebd. (1954/4), 4f.
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Evelyne Zinsstag ist Vikarin im Kanton Freiburg und Vorstandsmitglied der IG Feministische Theologinnen. Zusammen mit Dolores Zoé Bertchinger schreibt sie an einem Buch über die schweizerische evangelische Frauenbewegung rund um die Schweizerische Ausstellung für Frauenarbeit (SAFFA) 1958.
Beitragsbild: Helene Souza / pixelio.de
Bildstrecke: Die Serie über Lebensstationen der Frau in den 1950er-Jahren stammt aus dem 3. Teil der “Linie” an der Schweizerischen Ausstellung für Frauen-Arbeit (SAFFA) 1958. Sie wurde im Mitteilungsblatt des evangelischen Frauenbunds “Die evangelische Schweizerfrau” 1958/10 veröffentlicht. Fotos von Ly Engesser, Zürich. © Evangelische Frauen Schweiz