„Die Fremdheit in uns öffnet Wege zur Fremdheit der Anderen“, so Michael Nausner in seinem Beitrag. Diese Erkenntnis ermöglicht einen anderen Blick auf die Begegnung mit Migrantinnen und Migranten, nicht zuletzt auch auf dem Hintergrund der jüdisch-christlichen Tradition der Zusammengehörigkeit von Einheimischen und Fremden.
Im Januar 2017 ist Zygmunt Bauman gestorben, jener profilierte Soziologe, der mit Thesen über die flüssige Moderne und die Zusammenhänge zwischen Moderne und Holocaust von sich reden gemacht hat. Bis in sein 92. Lebensjahr hinein blieb er geistig aktiv. Bis zum Schluss blieb er am Puls der Zeit. Als jemand, der oftmals in seinem Leben aufgebrochen ist (von Polen nach Russland, wieder zurück nach Polen, dann nach Israel und schließlich nach England), weiß er ein Lied zu singen von der Migration. Als jemand, der zweimal aufgrund antisemitischer Anfeindungen fliehen musste, wusste Bauman, was es heißt, nicht dazugehören zu dürfen. Dem Thema Migration gilt auch seine letzte Essaysammlung, und sie liest sich wie ein zeitgemäßes Vermächtnis. Von einer „Migrationskrise“ wolle er nicht sprechen, vielmehr befinde sich die Menschheit in einer Krise, aus der es keinen anderen Ausweg gebe als die „Solidarität zwischen den Menschen“ (Die Angst vor den anderen, 24).
kein anderer Ausweg aus der Krise als die „Solidarität zwischen den Menschen“
Energisch protestiert er gegen die „Versicherheitlichung“, die den öffentlichen Diskurs über die Migration prägt, als ob Migration vornehmlich eine Aufgabe für die Sicherheitsorgane wäre (28f), und er beschließt seine Reflexionen mit einem leidenschaftlichen Plädoyer für Begegnung und Gespräch. Nur so könne eine Horizontverschmelzung zwischen Einheimischen und Migrant*innen stattfinden. Das Gespräch, so Bauman, sei der Königsweg zu einem Einvernehmen und damit zu einer friedlichen und solidarischen Koexistenz, weil es keine Konkurrenten kenne (114). Heute, am Tag der Amtseinführung Donald Trumps als Präsident der Vereinigten Staaten, beginne ich meine Reflexionen zur Migration mit diesen Kernaussagen Baumans und sehe gerade angesichts dieses Amtswechsels ihre Dringlichkeit.
Zugehörigkeit als plural und mehrdeutig
Dringlich sind sie nicht zuletzt deswegen, weil im öffentlichen Diskurs kulturelle Zugehörigkeit immer selbstverständlicher als etwas Eindeutiges dargestellt wird, das gegen ein diffuses „Außen“ geschützt werden muss. Aber Zugehörigkeit ist nie ganz eindeutig, weiß der Phänomenologe Bernhard Waldenfels und spricht von einer Zugehörigkeit in der Unzugehörigkeit. „Niemand“, so Waldenfels, „ist seiner Kultur ganz und gar zugehörig“ (Grundmotive einer Phänomonologie des Fremden, 119). Was sich über kulturelle Zugehörigkeit sagen lässt, hängt zusammen mit einer grundlegenden existentiellen Fremdheit, die darin zum Ausdruck kommt, dass niemand […] „je völlig bei sich selbst und in seiner Welt zu Hause“ ist (126). Niemand kontrolliert seine eigene Identität je ganz und gar, was schon damit beginnt, dass uns unser Name von anderen gegeben wird (88). Das heißt aber auch, dass letztlich niemand kontrollieren kann, wozu er oder sie gehört. Das mag verstörend sein, birgt aber auch Möglichkeiten. Denn die Fremdheit inmitten meiner selbst öffnet Wege zur Fremdheit des Anderen (84).
Die Fremdheit in uns öffnet Wege zur Fremdheit der Anderen.
Die Fremdheit in uns öffnet Wege zur Fremdheit der Anderen. Das ist eine Einsicht, die zunehmend im kulturellen Selbstverständnis der westlichen Welt verdrängt zu werden scheint. Kulturelle Identität wird in der öffentlichen Darstellung verstanden als vollständig, eindeutig, exklusiv und abgegrenzt; kurzum als etwas, das man klar definieren und so kontrollieren kann. Sehr deutlich wird ein solches Verständnis kultureller Identität im Zusammenhang mit den Debatten um die Migration. Das Thema Migration beherrscht in der westlichen Welt – und nicht nur in ihr – die Titelseiten der Tageszeitungen und Internetauftritte wie kaum ein anderes Thema. Hinter vielen der großen und medienwirksamen Berichte der vergangenen Wochen und Monate lässt sich nach meiner Beobachtung ein verkürztes Verständnis von Zugehörigkeit identifizieren. Der Preis für solche strikten Grenzziehungen zwischen totaler Zugehörigkeit einerseits und völliger Fremdheit, ja sogar Feindschaft, andererseits ist ein hoher. Denn eine so polarisierende Vorstellung schürt nicht nur die Ressentiments auf der anderen Seite der Grenze, sondern lässt auch die eigene Identität verkümmern, wenn wir Waldenfels‘ These von der notwendigen Fremdheit der eigenen Identität gelten lassen.
Am Anfang steht eine Mischung.
Am Anfang, so Waldenfels, steht „nicht nur die Differenz, sondern auch eine Mischung […], die jedes familiäre, nationale, rassische oder kulturelle Reinheitsideal als bloßes Phantasma entlarvt“ (118). Postkoloniale Denker*innen verschiedener Couleur sprechen hier davon, dass Kultur von Anfang an und unweigerlich gemischt, ja hybride ist (vgl. Homi Bhabha, Die Verortung der Kultur). Die Stadt Wien, in der ich geboren bin, ist ein offensichtliches Beispiel für die Tatsache, aber auch den Wert kultureller Hybridität. Nichts von dem, was in Wien an Bedeutungsvollem entstanden ist, lässt sich monokulturell eingrenzen. Die Einsicht in die grundlegende Hybridität kulturellen Werdens ist eine wichtige Voraussetzung, um ein verantwortliches Ethos im interkulturellen Kontext zu entwickeln und um faire Modelle im Miteinander der Kulturen zu entwerfen.
Die gewaltsame Konstruktion der Anderen.
Der „Vater“ postkolonialer Theorie Edward W. Said zeigt in seinem Buch Orientalismus, wie der Westen – der Okzident – das paradigmatische Andere – den Orient – nicht etwa durch aufmerksame Begegnung oder kommunikativen Austausch kennenlernt und beschreibt, sondern von jeher sein Bild vom Orient als das Andere par excellence produziert hat. Und die Wissensproduktion, die im Falle des Orientalismus vor sich geht, ist eine, die das Machtgefälle zwischen Okzident und Orient pflegt und aufrechterhält.
Saids bleibender Beitrag zum öffentlichen Diskurs im Westen ist seine Analyse der Machtdynamik, die in den sogenannten „Schilderungen“ des Orients zum Ausdruck kommt. Ich glaube, in der Hinsicht gibt es für Kirche, Wissenschaft und Politik auch heute noch viel zu tun. Wie schnell wissen wir nicht Bescheid über das Wesen der Anderen! Die Versuchung der klaren Einteilung in ‚wir‘ und ‚die Anderen‘ ist groß, und damit zusammenhängend auch die Versuchung, zu meinen, die Identität der Anderen zu kennen, ohne ihnen begegnet zu sein.
‚Wir‘ und/gegen die ‚Anderen‘ ?
Die englisch-burmesische Migrationsforscherin Bridget Anderson hat ihrer Studie über die Migrationspolitik Großbritanniens diesen Namen gegeben ‚Us‘ and ‚them‘. The dangerous politics of immigration control (deutsch: ‚Wir‘ und ’sie‘. Die gefährliche Politik der Migrationskontrolle). Dort beschreibt sie Polarisierungstendenzen, die nicht nur in Großbritannien, sondern auch anderswo zu beobachten sind. Dabei geht es nicht nur um die konstruierte Gegensatzstellung zwischen Staatsbürger*innen und Migrant*innen (2), sondern auch zwischen gescheiterten Staatsbürger*innen (failed citizens) und Migrant*innen (non-citizens), oder auch zwischen Migrant*innen und der „weißen Arbeiterklasse“ (8). (Das erinnert an Donald Trumps Strategie im Präsidentschaftswahlkampf in den USA im Herbst 2016.) Anderson erinnert daran, dass Mobilität nicht eine Ausnahme ist in der Menschheitsgeschichte, sondern von jeher ein integraler Bestandteil menschlichen Zusammenlebens (12) und dass der moderne Territorialstaat mit seinem strengen Grenzregime eine verhältnismäßig junge Erfindung ist. Außerdem ist die Entstehung des Territorialstaats nicht zu trennen von der Entstehung von Imperialismus und Kolonialismus. Anderson bringt es auf den Punkt, wenn sie schreibt, dass es angesichts des Schicksals der meisten Migrant*innen im Gemeinwesen europäischer Staaten deutlich werde, dass „Staatsbürgerschaft nicht für Universalismus, sondern für ein Abschließen“ stehe (98). Auf Dauer aber dürfen für verschiedene Bevölkerungsgruppen nicht unterschiedliche rechtliche Kriterien gelten. Dennoch scheint es heute in Europa wieder völlig akzeptabel zu sein, im Interesse staatlicher Souveränität – wie es heißt – grundlegende menschliche Ideale eines gerechten Zusammenlebens zu ignorieren. Es braucht deshalb die Pflege von Denkweisen, die das Miteinander von Kulturen im Sinne eines gleichberechtigen Kommunikationsgeschehens verstehen und beschreiben.
Polyphonie der Kulturen
Dies geschieht in der 1998 in Wien gegründeten philosophischen Zeitschrift polylog, die eine Quelle von Texten zu postkolonialer Theorie im weitesten Sinne darstellt (www.polylog.net). Die Zeitschrift setzt sich zum Ziel, die vielen philosophierenden Stimmen im Kontext ihrer jeweiligen Kulturen vernehmbar und in einer gemeinsamen und gleichberechtigten Auseinandersetzung füreinander fruchtbar zu machen. Geltungsansprüche, so die programmatische Erklärung, müssen „sich erst interkulturell bewähren“, weshalb ein „Abgehen von einer individuellen, monokulturellen, häufig ethnozentrischen Philosophieproduktion verlangt“ wird. Stattdessen wird eine „dialogische, prozesshafte und grundsätzlich offene Polyphonie der Kulturen und Disziplinen“ angestrebt (http://prof.polylog.org/obj-de.htm). Die Metapher der Polyphonie halte ich in unserem globalisierten Zeitalter für besonders sinnvoll, denn sie macht deutlich, dass Zugehörigkeit nicht hermetisch verstanden werden kann. In einem Chor von Kulturen und Disziplinen mitzuschwingen zeugt von einer Zugehörigkeit, die sich einerseits selbst nicht verleugnet, sich andererseits aber auch dessen bewusst ist, dass der Klang der eigenen Identität ohne die Resonanz anderer Identitäten nicht zu voller Blüte gelangen kann. Meine eigene (kulturelle) Stimme bekommt erst in der Resonanz und gegebenenfalls auch Dissonanz mit anderen (kulturellen) Stimmen ihre charakteristische Färbung. Die musikalische Metapher beleuchtet die Tatsache, dass für ein wirkliches Verstehen alle Stimmen gehört werden müssen, gerade auch die Stimmen, denen traditionellerweise kein Gehör geschenkt worden ist. Wenn dauerhaft Stimmen verdrängt werden, dann ist die planetarische Polyphonie beeinträchtigt. Mit dem Begriff „planetarisch“ will ich nur kurz andeuten, dass die Verteidigung der Vielfalt der Stimmen, die postkoloniale Theorie auf der Ebene der Kultur praktiziert, nicht getrennt werden darf von der Wahrnehmung der Stimmen der Tierwelt und der ökologischen Welt insgesamt.
Zugehörigkeit Migrierender theologisch betrachtet
Eine solche globale, ja planetarische Perspektive müsste auch jede Theologie prägen, die für unser heutiges Zeitalter relevant sein will. Das gilt im Besonderen für den theologischen Blick auf Migration, die einerseits meist von globalen Zusammenhängen zeugt und andererseits zum Ureigensten christlicher Existenz gehört. So ist Migration etwa aus dem erzählerischen Erbe der christlich-jüdischen Tradition nicht wegzudenken. Wenn ich mich dem biblischen Material mit der Frage nähere, wer migriert, dann beginnt es spätestens mit dem Aufbruch Abrams ins Ungewisse allein aus Glauben. Er steht als Migrant paradigmatisch für alle späteren Generationen jüdisch-christlichen Glaubens. Es folgen in den hebräischen Schriften schier zahllose Erzählungen von Flucht und Migration aufgrund von Unterdrückung, Hungersnot und Krieg, und in ihnen allen wird die gnädige Gegenwart Gottes bezeugt. Das Zeugnis des Lebens Jesu Christi und der entstehenden Kirche schließlich ist auf eine analoge Weise geprägt von einer Mobilität, von Flucht und Wanderungen verschiedener Art. Meistens waren es nicht die sesshaften Menschen vor Ort, die die Autorität bezüglich der Zugehörigkeit zur christlichen Gemeinschaft hatten. Vielmehr wurden die Sesshaften von Wanderpredigern wie Jesus und später Paulus in ihren festgefahrenen Kategorien der Zugehörigkeit herausgefordert. Der konkrete Kontext der Migration könnte so gesehen als natürlicher Rahmen für eine christliche Spiritualität verstanden werden, die das Leben der christlichen Gemeinschaft als ein Leben als Gast auf Erden versteht. Christliches Leben ist geprägt von einer grundlegenden und bleibenden doppelten Loyalität (vgl. Phil 3,20).
Migration ist aus dem erzählerischen Erbe der jüdisch-christlichen Tradition nicht wegzudenken.
Migration und damit zusammenhängend eine gewisse Heimatlosigkeit ist also ein derart durchgängiges Thema in der Bibel und der Geschichte des Christentums, dass man sich mit Recht fragen könnte, ob aus christlicher Perspektive der erkennende Blick der Migrierenden nicht oftmals ein schärferer sein müsste als derjenige der sesshaften christlichen Gemeinschaften. Der Kontext entscheidender Einsichten über das Wesen Gottes selbst ist so überwältigend häufig der der Vertreibung, der Flucht, des Wanderns, des Exils und der Diaspora, dass es eigentlich für alle Zeiten eindeutig sein müsste, dass christlicher Gemeinschaft ein entscheidender Verstehenshorizont fehlt, wenn sie sich nicht kontinuierlich und entschieden der Lebenswirklichkeit von Migrant*innen öffnet.
eigene Wurzeln in der Migration wahrnehmen
Wenn ich also nach einem theologischen Verständnis der Migration und des Fremden frage, dann merke ich, dass ich zu einer verantwortungsvollen Sichtweise nur kommen kann, wenn ich meine eigenen Wurzeln in der Migration bzw. auch die Fremdheit in mir wahrnehme und anerkenne. Die Fremdheit in mir kann auf unterschiedliche Weise verstanden werden, existentiell, kulturell, geschichtlich etc. Dass eine solche Sichtweise, eine solche Bejahung der eigenen Fremdheit tief verwurzelt ist in der jüdisch-christlichen Tradition, kommt in den Regeln zur Heiligung des alltäglichen Lebens zum Ausdruck, die ermahnen, Fremde wie Einheimische zu betrachten und die zu lieben sind, weil sie an die eigene Fremdheit in Ägypten erinnern (vgl. Lev 19,34). Eine erstaunliche Programmerklärung, die auf die intime Zusammengehörigkeit Einheimischer und Fremder verweist. Ganz im Sinne Waldenfels‘ wird diese Zusammengehörigkeit erst deutlich, wenn das Fremde in mir, die eigenen Wurzeln in der Fremde, wahrgenommen und anerkannt wird.
wie Zugehörigkeit immer wieder neu gelebt werden kann
Letztlich kommen ja Migrant*innen weder kulturell noch ökonomisch noch sozial aus einer von uns getrennten Welt, auch wenn in den Medien die Darstellungsweise einer „von außen“ kommenden Gefahr überwiegt. Vielmehr sind Afrika und Europa intim verstrickt miteinander. Jahrhunderte von Kolonisierung und viele Jahrzehnte neokolonialer Ausbeutung verunmöglichen es, die ankommenden Flüchtlinge als Bittsteller von außen abzutun. Koloniale Verhältnisse leben auf verschiedenen Ebenen weiter. In den dank der Migration möglich gewordenen Begegnungen, gibt es nun die Chance, diese Machtverhältnisse neu zu verhandeln. Ich sehe in dieser Vorstellung von einer Verhandlung im Grenzraum eine säkulare Beschreibung des Kontextes, in dem das christliche Gebot der Nächsten-, ja der Feindesliebe gelebt wird. Hier wird nicht vorausgesetzt, wer letztlich drinnen oder draußen ist, sondern im Grenzraum verhandelt, wie Zugehörigkeit immer wieder neu gelebt werden kann.
Ein christliches Verständnis von Zugehörigkeit setzt per definitionem nicht voraus, wer dazugehört und wer nicht, sondern lässt Zugehörigkeit in der Verhandlung im Grenzraum entstehen, weil christliche Identität entscheidend erst dort sich erweist, wo Fremden begegnet wird.
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Michael Nausner, PhD, ist Professor für Systematische Theologie und Prorektor für Forschung an der Theologischen Hochschule Reutlingen.
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