Die Diskussion zur Zukunft der Kirchen hat auch die Regionalwissenschaften erreicht. Von Gabi Tröger-Weiß.
Kern der Regionalwissenschaft ist die Frage nach der Entwicklung von Regionen und Kommunen in verschiedenen Strukturbereichen wie Demographie, Wirtschaft, Infrastruktur, Siedlungsentwicklung und in unterschiedlichen räumlichen Zuschnitten (Landkreise, Regionen, Regierungsbezirke u.a.). Ein Schwerpunkt liegt dabei auf Regionen und Kommunen in ländlichen Räumen, da diese Räume im Vergleich zu Großstädten und Metropolregionen deutlich mehr Unterstützung benötigen.
Die Ausgangssituation
Während in Großstädten starke kreative Milieus vorhanden sind, die wirtschaftliche Dynamiken auslösen, sind ländliche Regionen häufig von jahrzehntelanger Abwanderung junger, gut ausgebildeter Bevölkerungsgruppen und damit auch von Alterungstendenzen geprägt, die als Basis für innovative Entwicklungen häufig fehlen. Eine zentrale Erkenntnis der wissenschaftlichen Diskussion in den vergangenen Jahren war, dass die regionale und kommunale Entwicklung sowie der Strukturwandel gerade in ländlichen Räumen stark von einzelnen Persönlichkeiten, deren Wirken in Organisationen und Netzwerken abhängt. Sie tragen wesentlich zur Dynamik der Entwicklung auf regionaler und kommunaler Ebene bei. Die staatlichen Regional- und Strukturförderung zielt dagegen vor allem auf Ausbau von Infrastrukturen (z.B. Mobilität, Bildung) und der Wirtschaft ab.
Fragestellungen
Die Bedeutung der Kirchen wird mit Blick auf deren Beitrag zur Entwicklung von Regionen und Kommunen aus regionalwissenschaftlicher Sicht bislang eher wenig diskutiert. Die Diskussion über die individuellen oder auch systemischen Fehlleistungen der Kirchen überlagert die Bedeutung und das umfassende Leistungsspektrum der Kirchen. Aus regionalwissenschaftlicher Sicht ergeben sich folgende Fragen: Wie wollen wir in Zukunft leben? Haben die Leistungen der Kirchen Systemrelevanz? Welche Erwartungen und Bedürfnisse haben die Bevölkerung und damit verschiedene soziale Gruppen? Bedarf es einer stärkeren ökonomischen Orientierung der Kirchen (Denken in Kosten und Nutzenkalkülen, beispielsweise bei Leistungen der Daseinsvorsorge oder bei kirchlichen Immobilien, Marketing und Öffentlichkeitsarbeit u.a.)? Wie viel Veränderung und Transformation können zugemutet werden? Wie kann ein Konsens zwischen „Traditionalisten“ und „Visionären“ gefunden werden?
Das bisherige Selbstverständnis der Kirchen bedarf einer Schwerpunktverlagerung und Akzentuierung
Die Kirchen sind Teil der demokratischen, pluralen und zunehmend säkularisierten Gesellschaft und in ihr „Anbieter“ von christlichen Formaten (Vermittlung der christlichen Botschaft über Gottesdienste, Seelsorge, Kasualien, so das klassische Verständnis von Kirchen). Sie sind Dienstleister im Bereich der Daseinsvorsorge, ein tragender Teil des Sozialstaates mit marktwirtschaftlicher Ausrichtung (Diakonie, Caritas), zudem Global Player im sozialen Bereich (Misereor, Brot für die Welt) sowie globaler Mediator und (kritische) Stimme bei demographischen, militärischen, ökologischen, pandemischen und ökonomischen Transformationsprozessen und Krisen.
Um künftig wieder verstärkt in das gesellschaftliche Bewusstsein und in die gesellschaftliche sowie öffentliche Wahrnehmung zu gelangen, erscheint es wichtig, die kirchlichen Kernkompetenzen neu zu denken. Zum einen geht es dabei um die Vermittlung der christlichen Botschaft im Lichte des gesellschaftlichen Wandels. Themen wie Lebens- und Sinnfragen, Einsamkeit oder auch Unterstützung der Schwachen und der Starken bedürfen zeitnaher Handlungsansätze. Dies bedeutet auch, dass Kirchen Formate prüfen sollten, wie sie beispielsweise die laufende Marktforschung zu Wünschen und Bedarfen der Menschen nahelegen: z.B. „Kirche on demand“ wie spirituelle Angebote in Zügen oder Bahnhöfen. Es geht darum, die eigenen Angebote zu den Menschen zu bringen und nicht umgekehrt.
Systemrelevanz erhalten die Kirchen zum anderen durch einen zentralen und bislang in der öffentlichen Wahrnehmung unterrepräsentierten Bereich: das breite Leistungsspektrum der Kirchen im Bereich der Daseinsvorsorge und gemeinwohl-dienlichen Leistungen. Die Daseinsvorsorge für die Bevölkerung trägt zur Schaffung und Sicherung gleichwertiger Lebensverhältnisse bei, die sowohl im Grundgesetz als auch im Bundesraumordnungsgesetz verankert ist. Die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse hat hohe Relevanz für ländliche Räume und teilweise auch für Großstädte und Metropolregionen. Gleichwertige Lebensverhältnisse sind ein aktuelles Handlungsfeld von Staat, Kommunen und Kirchen und konkretisieren sich insbesondere über den physischen und funktionalen Zugang zu Einrichtungen und Dienstleistungen der Daseinsvorsorge.
Ein besonderer Stellewert kommt dabei der Daseinsvorsorge in ihrer gesamten Breite in ländlichen Räumen zu, wobei gerade hier die kirchlichen Angebote aufgrund ihrer regionalen Diversifizierung eine große Bedeutung haben. Einrichtungen und Dienstleistungen der Daseinsvorsorge sind „die“ Bleibefaktoren für die Bevölkerung (Arzt, Laden, Kita, Schule) in ländlichen Räumen. Hier sind auch und gerade die Kirchen gefordert. Auch in diesem Bereich bedarf es des Aufgreifens und der Nutzung neuer Formate: z.B. Co-working-spaces in Verbindung mit christlichen Angeboten, Tagungskirchen, interreligiöse Zentren und vieles mehr.
Trendforschung trägt zum Bedeutungsgewinn und zur gesellschaftlichen Akzeptanz der Kirchen bei
Die Zukunft der Kirchen wird – aus der Sicht der Regionalentwicklung – auch vom Erkennen und der Inwertsetzung neuer Trends bestimmt sein. Die Trends Globalisierung, globaler Süden, Transformation/Strukturwandel in vielen Bereichen (Wirtschaft, Energie, Mobilität, Ökonomie), Digitalisierung, Demographie (Migration, Baby-Boomer-Generation), Wandel der Arbeitswelt und des Arbeitsmarktes und Multilokalitäten der Arbeitnehmer/innen mit Konsequenzen auf das Wohnverhalten (Coworking – Coliving – Workation), neue Bedeutung militärischer Einrichtungen, gesellschaftlicher Wandel (Multikulturalität, sharing economy, work-life-balance-Konzepte, Anspruch auf Beteiligung und Mitentscheidung, neues Medienverhalten, neues Konsumverhalten, verändertes Bindungsverhalten gegenüber Organisationen u.a.) sind nur einige Beispiele, die es wert wären, im kirchlichen Diskurs stärker Eingang zu finden, da diese Trends die Lebenswirklichkeit und vor allem auch das Verhalten der Menschen maßgeblich prägen.
Tue Gutes und rede davon – Marketing und professionelle Öffentlichkeitsarbeit sind das Gebot der Stunde
Grundüberlegung hierfür ist, dass die Kirchen wieder Sichtbarkeit erhalten, was (auch) durch klare Positionen im gesellschaftlichen Diskurs möglich wird. Die Zukunft der Kirchen wird maßgeblich von neuen Wegen der Kommunikation, des Marketings und der Öffentlichkeitsarbeit abhängen. Folgende Fragen sind hierfür relevant: Welche Kernkompetenzen und Angebote für verschiedene Zielgruppen hat die Kirche? Wie können die Leistungen und Angebote der Kirche wieder in den Fokus der gesellschaftlichen Wahrnehmung kommen? Wie können die Kirchen mit der hohen Dynamik des Wandels und der Trends in nahezu allen Bereichen umgehen?
Wichtig dabei ist Alleinstellungsmerkmale darzustellen, insbesondere im Bereich der Daseinsvorsorge. Ferner sind – wie dies teilweise bereits seitens der Caritas, der Diakonie sowie für Misereor oder Brot für die Welt geschieht – deutschlandweite Marketing- und Image-Kampagnen zu realisieren, was nicht nur erheblicher finanzieller Mittel, sondern auch des Einsatzes von professionellen Marketingagenturen bedarf. Social medias spielen dabei ebenso eine Rolle wie beispielsweise Werbeformate im öffentlich-rechtlichen Rundfunk- und Fernsehanstalten zur Primetime
„Du stellst meine Füße auf weiten Raum“ (Psalm 31 der Bibel) als Zukunftsperspektive
Die Zukunft der Kirchen hängt weder von der Zahl ihrer Gebäude (in den beiden großen Kirchen wird derzeit eine intensive Diskussion über die Aufgabe oder Umnutzung von Gebäuden und Räumen geführt), noch von der Zahl der Mitglieder ab. Evaluationen, Kosten-Nutzen-Denken und Statistiken sind nicht das Maß aller Dinge. Die reine quantitative Zahl etwa der Gottesdienstbesucher und – innen sollte nicht der alleinige Maßstab für die Entscheidung sein, eine dörfliche Kirche aufzugeben und auf größere Einheiten zu konzentrieren. Es muss in unserer Gesellschaft auch Bereiche geben, die nicht einem reinen Kosten-Nutzen-Denken unterliegen.
Kirchen sollten mit lebensnahen und aktuellen Themen sowie aufgrund ihres Leistungsspektrums mit Hilfe umfassender Öffentlichkeitsarbeit und Marketing wieder in der Mitte der Gesellschaft ankommen. Dazu braucht es eine Orientierung an gesellschaftlichen Entwicklungen und Themen, an den Lebenswirklichkeiten und Alltagsthemen aller Generationen, Marktwirtschaft im Sinne von Angebots-Nachfrage-Denken, Zielgruppen-Orientierung sowie professionelle Öffentlichkeitsarbeit und Marketing.
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Univ.-Prof. Dr. Gabi Troeger-Weiß ist Inhaberin des Lehrstuhls für Regionalentwicklung und Raumordnung, Rheinland-Pfälzisch Technische Universität Kaiserslautern-Landau.