Heinz Strunk hat einen Kriminalroman geschrieben, der Leserinnen und Leser in eine fremde Welt entführt. Hauptschauplatz ist die 24h geöffnete Absturzkneipe „Zum goldenen Handschuh“ auf dem Hamburger Kiez. Dort traf Stammgast und Serienmörder Fritz Honka in den 1970er Jahren auf seine Opfer. Gerrit Spallek empfiehlt einen Roman, der die Sinne schärft und nach der Endgültigkeit augenscheinlicher Fertigkeit fragen lässt.
Wer ist meine Nächste? Wer ist mein Nächster? Im ausgerufenen Jahr der Barmherzigkeit erfreut sich die bekannteste biblische Gleichniserzählung einer nochmals gesteigerten Beliebtheit. Wer eine christliche Sozialisation genossen hat, kann spontan auf eine Vielzahl an Erinnerungen zurückgreifen, wo der barmherzige Samariter zum Thema gemacht wurde. Vielleicht ganz oben auf der Liste assoziativer Erinnerungsfragmente: die Bilder von Kees de Kort – auf der Leinwand eines Projektors oder im Format eines Pixibuches. Die assoziierten Erinnerungen lassen sich auch mit einem Geruch verbinden. Sie duften irgendwie nostalgisch nach Familiengottesdienst und Kinderkirche. Der Schriftsteller und Satiriker Heinz Strunk hat einen Roman verfasst, der die Frage nach den Nächsten fortan zugleich nach Schmiersuff, Urin und Verwesung stinken lässt. Das macht seinen diesjährig erschienenen Roman zu einer Literaturempfehlung für alle, die an der Schärfung ihres theologischen Geruchssinns interessiert sind.
Zur Schärfung des theologischen Geruchssinns
Es gibt Versuche, pauschal und universal auf die Frage nach der Identität unserer Nächsten zu antworten: „Wir können uns nicht aussuchen, wer unsere Nächsten sind. Das Gebot der Nächstenliebe kennt keine Ausnahmen.“ So richtig der zweite Satz ist, so zu kurz greift der erste. Denn wir können uns sehr wohl aussuchen, wer unsere Nächsten sind. Wir machen das sogar tagtäglich. Wer meine Nächsten sind und wem ich Nächste oder Nächster bin, ist nicht bereits von Natur aus gegeben. Vielmehr ist das „Nächster-Sein“ ein Ergebnis einer Praktik, genauer: einer sozialen Konstruktion. Gustavo Gutiérrez bringt es auf den Punkt: „Man kann in gewissem Sinn sagen, wir ‚hätten‘ keine Nächsten, sondern wir ‚machten‘ sie“[1].
Die Konsequenz dieser Beobachtung ist ein Misstrauen gegenüber den eigenen Konstruktionen der Nächsten. Verbunden ist ein Aufbrechen, um abseits der gewohnten Wege in eine Welt einzutreten, die eine ganz andere ist – obwohl sie in unmittelbarer Nachbarschaft liegen kann. In eben solche führt Heinz Strunk seine Leserinnen und Leser. Hauptschauplatz des gleichnamigen Kriminalromans ist die 24h geöffnete Absturzkneipe „Zum goldenen Handschuh“. Sie ist ein Notnagel für einen letzten Absacker mancher Kneipenhopper, wenn die übrigen Spelunken bereits geschlossen haben. Für die Stammgäste wiederum gilt nicht nur für diesen Abend: nix geht mehr – rien ne va plus.
Menschen, die fertig zu sein scheinen
Für die Situation dieser Menschen ist es bezeichnend, dass die an political correctness orientierte Sprache bisher keinen angemessenen Begriff gefunden hat, um sie ins Gespräch zu bringen. Das verwundert umso mehr, bedenkt man, dass sie eine signifikante Konstante globaler Städte darstellen. Ausgerechnet ein Slangbegriff scheint mir ihnen noch am gerechtesten werden zu können. Wer mit offenen Augen durch zeitgenössische Städte geht, begegnet in Eckkneipen, vor Kiosken, Tankstellen oder Bahnhöfen einer Vielzahl von Menschen, die augenscheinlich fertig zu sein scheinen. Sie gehören zu den am wenigsten beachteten Stadtbewohnern unserer Zeit.
Strunks Roman „Zum goldenen Handschuh“ spielt im Milieu dieser Fertigen. Die Stärke seines Werkes ist dabei, dass er sie selbst – wenngleich im Modus fiktiver Narration – zu Wort kommen lässt. Hilfestellung leistet die erzählerische Rahmenhandlung einer historisch realen Absurdität. Ausgangspunkt und Protagonist des Romans ist der Serienmörder Fritz Honka, der sich in den 1970er Jahren dort herumtreibt, wo die durchschnittlichen Leserinnen und Leser zeitgenössischer Belletristik keine zehn Pferde hinbekommen können. Was der Pferdestärke nicht möglich ist, schafft Heinz Strunk über das Medium der Literatur: Willkommen in der Welt des „goldenen Handschuhs“! Fritz Honka, der stolz darauf ist, dass er sich als Stammgast den Spitznamen „Fiete“ verdienen konnte, findet in dieser Kneipe seine Opfer. Er versklavte und ermordete diejenigen, die niemand vermisste: Obdachlose und ausgediente Prostituierte. Sie gingen – sofern man überhaupt von Freiheit sprechen kann – aus freien Stücken in seine Wohnung mit. Für sie ging es immerhin irgendwo hin… Erst ein zufälliger Hausbrand brachte die Tragödie ans Tageslicht. Der bestialische Verwesungsgeruch der in der Abseite verscharrten Leichenteile führte nicht dazu, dass die übrigen Mietparteien hellhörig wurden.
die zupackende Kraft fiktiver Narration
Die historische Vorlage vom norddeutschen Serienkiller ist von Strunk gut recherchiert. Das Werk ist ein ungewöhnlicher Kriminalroman, der nie richtig spannend, dafür gehörig schockierend und nicht selten ekelerregend wird. Es ist jedoch nicht der historische Gehalt, der dieses Werk zu einem theologischen Lesetipp macht, sondern die zupackende Kraft der fiktiven Narration. Mit den Mitteln der Kunst gelingt es dem Autor, seine Leserinnen und Leser in eine völlig fremde Lebenswelt zu entführen. Plötzlich finden sie sich in Gedankengängen wieder, über deren mögliche Existenz sie bisher vielleicht gar nicht nachgedacht hatten.
Auch Strunk kann den Menschen nicht aus der Seele sprechen. Als Schriftsteller ist ihm jedoch möglich, was Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern strengstens untersagt ist: anderen Menschen seine Worte in den Mund zu legen. Das bedeutet nicht, dass diese Worte frei von Projektionen wären. Als narrative Kunstwerke können sie genau genommen gar nichts anderes sein, als Erzeugnisse kreativer Projektionsprozesse. In Strunks Roman geht es aber auch gar nicht darum, Wissen über augenscheinlich fertige Menschen zu generieren oder Repräsentationen und Vorurteile zu zementieren. Stattdessen werden wirkmächtige Fiktionen in den Raum gestellt, welche die Sicht der Dinge von Leserinnen und Leser verändern können.
empathische Imagination
Wer sich in die zu einem Großteil wirklich schwer zu ertragenden Gespräche und Gedanken der unterschiedlichen Romanfiguren hineinliest, bekommt die Ahnung, dass diese Menschen eben nicht so fertig sind, wie sie scheinen – nicht mit der Welt und auch noch nicht mit sich selbst. Absturzkneipen mögen vielleicht nicht der Ort sein, wo Stammgäste aktiv um die Anerkennung ihrer Würde ringen.[2] Der Roman von Heinz Strunk vermittelt jedoch ein Bild davon, dass es sich um Orte handeln könnte, wo dieses Ringen und damit verbundene Hoffnungen – so fragmentarisch sie auch sein mögen – zwar aufgeschoben, nicht jedoch aufgegeben werden.
Durch Strunks Fiktion bekommt die empathische Imagination gewissermaßen Starthilfe. Der Blick weitet sich und die Brille der Indifferenz, die für einen tagtäglichen Gang durch die Komplexität der Stadt unumgänglich ist, wird neu justiert. Die Lektüre des Romans kann dazu beitragen, sowohl die sozialen Konstruktionen des Nächsten zu entlarven als auch die Grundvoraussetzung zu ermöglichen, selber zur Nächsten/zum Nächsten zu werden: „dass man schweigen kann, um ein Wort hören zu können, das um Gehör ringt.“[3]
Gute Theologie riecht nach Volk und Straße
Leserinnen und Leser des Romans seien gewarnt. Sie könnten sich den schönen Geruch versauen, der hochsteigt, wenn Sie über das Gleichnis vom barmherzigen Samariter nachsinnen. Papst Franziskus hat jedoch deutlich gemacht, dass sich die Qualität einer Theologie auch an ihrem Geruch entscheidet.[4] Gute Theologie riecht nach Volk und Straße, so der Papst. Das schließt den Geruch von Absturzkneipen, Bahnhofsvorplätzen und Tankstellen mit ein. Der Roman „Zum goldenen Handschuh“ ist allen nicht allzu Zartbesaiteten zu empfehlen, die eine Schärfung ihres theologischen Geruchssinns nicht fürchten.
[1] Gutiérrez, Gustavo, Nachfolge Jesu und Option für die Armen. Beiträge zur Theologie der Befreiung im Zeitalter der Globalisierung. Herausgegeben von Mariano Delgado (Studien zur christlichen Religions- und Kulturgeschichte 10), Fribourg, Stuttgart 2009
[2] Vgl. Sander, Hans-Joachim, Die Zeichen der Zeit und der Stadtbewohner Gott. Zur urbanen Topologie des christlichen Glaubens, in: Gmainer-Pranzl, Franz/Jacobsen, Eneida (Hg.), Deslocamentos – Verschiebungen theologischer Erkenntnis: Ein ökumenisches und interkulturelles Projekt. (Salzburger theologische Studien Interkulturell 16), Innsbruck, Wien 2016, 123–136, hier: 130
[3] G. Gutiérrez, 41
[4] Vgl. ttp://de.radiovaticana.va/news/2015/03/10/papst_an_theologen_grenzen_seien_euer_ort_des_nachdenken/1128361
Gerrit Spallek ist Theologe an der Universität Hamburg und Mitglied des Redaktionsteams von feinschwarz.net.
Buch:
Heinz Strunk, Der goldene Handschuh, Hamburg (rowohlt) 2016, 256 Seiten, ISBN: 978-3498064365
Beitragsbild:
http://www.rowohlt.de/hardcover/heinz-strunk-der-goldene-handschuh.html