Ausgehend vom „terrestrischen Manifest“ von Bruno Latour zeigt der evangelische Theologe Simon de Vries einen sehr persönlichen Weg der „Rettung der Erde“: eine vorsichtige Annäherung an die Erde selbst.
„Rettet unsere Erde“ steht auf dem Transparent, das meine zwölfjährige Tochter bei der ersten Demonstration ihres Lebens an einem Freitagmittag im März in die Höhe hält. Gemeinsam mit 1500 anderen Schülerinnen und Schülern zieht sie durch unsere Kleinstadt und erlebt, dass das Engagement einiger Initiatorinnen, die nur wenig älter sind als sie, etwas bewirken kann. Was aber können wir noch bewirken im Hinblick auf unsere Erde angesichts des Klimawandels und wofür ist es schon zu spät?
So fragen zurzeit viele.
„Rettet unsere Erde!“
Sowohl in dieser Frage als auch auf dem Transparent meiner Tochter ist die Erde das Objekt unseres Handelns – ob als rohstoffreiche Ressource, als Opfer menschlicher Ausbeutung oder schlichtweg als Rahmen und Raum menschlichen Lebens und Wirkens. „Rettet unsere Erde!“ – so weit, so vertraut diese Forderung. Handeln oder Nicht-Handeln. Zusehen, wie der Planet vor die Hunde geht oder etwas tun.
Was aber, wenn die Erde selbst nun nicht mehr länger zusieht, was wir tun, sondern eigenständig etwas tut? Was, wenn sie sich nicht länger zum Objekt menschlichen Handelns machen lässt, sondern selbst als politische Akteurin auf der Weltbühne (alles andere wäre dann wohl auch unangemessen klein) auftritt?
Drei Phänomene in einem Entwurf: Globalisierung, Explosion der weltweiten Ungleichheiten, Klimawandel
So der überraschende Clou in Bruno Latours Essay „Das terrestrische Manifest“. Das schmale Buch ist nicht weniger als der Versuch, drei oft beschriebene Phänomene in einem Entwurf zusammenzudenken: Den Prozess der Globalisierung, die Explosion der weltweiten Ungleichheiten und den Klimawandel bzw. die Leugnung desselben – ein durchaus ambitioniertes Vorhaben.
Die Globalisierung hat auf ihrer Minus-Seite viele Verlierer*innen hervorgebracht. Kleinen Eliten ist es gelungen, provinzielles Denken gerade nicht aufzuheben, sondern eine Provinz (die eigene kleine Welt) nur durch eine andere (die von Wallstreet, Peking oder Brüssel) zu ersetzen. Dagegen erhebt sich zurecht Widerstand. Dieser Widerstand findet im Unterschied zum Globalen wiederum das Lokale attraktiv. Er kommt dann aber wie von selbst schnell in Verruf, archaisch oder nostalgisch, in jedem Fall aber reaktionär zu sein. Der Sohn eines Winzers, Bruno Latour, dagegen differenziert hier: Ein eigener positiver Bezug zu Grund und Boden, die Verbundenheit mit der Heimaterde und die Wahrung von eigenen Traditionen ist noch nicht automatisch zu verwechseln mit einem rückwärtsgewandten Hinterwäldlertum. In seinem Essay entwirft er eine Landkarte, die sowohl positive Aspekte der Globalisierung als auch des Lokalen aufnimmt – eine Bezogenheit auf die Welt einerseits und feste Boden-Haftung andererseits.
Vielleicht eröffnet die Rehabilitierung eines wertschätzenden Blicks auf den Boden, der die problematische Vergangenheit der „Blut und Boden“-Terminologie nicht ausblendet, auch Möglichkeiten des Dialogs gesellschaftlicher Gruppen, die gegenwärtig eher auseinanderdriften zu scheinen. Für Latour haben sich Lagerzuschreibungen wie „links“ und „rechts“ sowieso schon längst erledigt.
Für Latour ist die Erde eine eigenständige Akteurin, die nun mit Gewalt auf das ihr angetane Unrecht zurückschlägt.
Die Ambivalenz von Bindung (an den Boden) und Entbindung (durch die Welt) erinnert mich an die ebenfalls ambivalente Rede vom Verhältnis des Menschen zur Welt beim johanneischen Jesus: „In der Welt, aber nicht von der Welt“, heißt es dort. Und so wie in biblischer Sprache der Welt (dann zumeist in unheilvoller Weise) Wirkmacht auf den Menschen zugesprochen wird, so versteht nun auch Latour die Erde als eine eigenständige Akteurin, die nun mit Gewalt auf das ihr angetane Unrecht zurückschlägt. Und wenn nun vom „geosozialen Zeitalter“ die Rede ist, dann bezeichnet dies nicht mehr nur den Rahmen oder Ort des politischen Geschehens, sondern benennt einen neuen eigenständigen Wirkfaktor.
Schon vor mehr als einem Jahrzehnt meinte der Philosoph Peter Sloterdijk in einer Laudatio, einen „primären Burgundismus“ im Werk Latours feststellen zu können. Die Vermutung jedenfalls, dass das elterliche Weingut in Burgund zumindest insofern eine prägende Rolle gespielt haben muss, ist nicht ganz abwegig. Lassen sich doch hier die Wechselwirkungen von klimatischem Geschehen, Boden und menschlichem Handeln sehr deutlich wahrnehmen. In Latours Werk sind sie integriert und finden dann auch in der von ihm mitbegründeten Akteur-Netzwerk-Theorie ihren Ausdruck.
Welt als gemeinsame Heimat aller Menschen verstehen
„Rettet unsere Erde“? Doch, dieses Transparent halte ich gerne gemeinsam mit meiner Tochter in die Höhe. Aber nach der Lektüre des „Terrestrischen Manifests“ in einem für mich erweiterten Verständnis – und zwar in dem Wissen, dass wir eingeschlossen sind in ein kollektives komplexes Geschehen, in dem es uns, aber eben auch die Erde selbst und viele weitere Akteure gibt. Aus einer objektivierenden Distanz, die vorgibt, gar nicht in das Geschehen verwickelt zu sein, wird dies allerdings nicht gelingen. Stattdessen braucht es eine vorsichtige Annäherung an die Erde selbst, die uns als Menschen dazu befähigt, zugleich klug und behutsam die Welt als gemeinsame Heimat aller Menschen zu verstehen.
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Autor: Simon de Vries ist ev.-luth. Theologe und Pastor in Nordhorn
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