Erich Garhammer würdigt den verstorbenen Kunst-und Kulturpreisträger der deutschen Katholiken im Jahre 2008, den Dramatiker, Schriftsteller und Regisseur Tankred Dorst.
«Über das Portal meines Theaters würde ich schreiben: Wir sind nicht die Ärzte, wir sind der Schmerz.» So hat der Dramatiker Tankred Dorst seine Ästhetik umschrieben. Am 1. Juni ist der Dramatiker und Büchnerpreisträger im Alter von 91 Jahren in Berlin gestorben.
Pfingstpredigt auf der Bühne
Die Spezialität von Dorst war das Verheutigen alter Stoffe. Er knüpft in seinen Stücken immer wieder an bekannte Dramen an, schreibt sie weiter, verändert sie, konfrontiert sie mit dem Heute. Er vertritt geradezu ein „Aggiornamento“ von literarischen Stoffen. „Ich erinnere mich, wie ich als Zwölfjähriger im Theater saß, in unserem Provinztheater in Coburg … Ich erinnere mich, dass ich im Dunkeln saß, schwitzend vor Aufregung, und mir, während das Drama ablief, ausdachte, wie die Handlung anders weitergehen könnte, für mich, für meine Vorstellung. Nicht komischer sollte sie sein (alles Komische verachtete ich), aber extremer, phantastischer, gefühlvoller – meinem Herzen näher. So fing ich damals an, meine eigenen kindischen Stücke zu schreiben für mein Theater im Kopf: nicht aus Bewunderung, sondern aus Rechthaberei und Eigensinn.“
Die Spezialität von Dorst war das Verheutigen alter Stoffe.
Diesen Text trug Dorst anlässlich der Marburger Literaturtage im Januar 1984 vor. Sie enthält sein poetologisches Prinzip: Er inszeniert seine Stücke in seinem Kopf neu, es entsteht „Theater im Kopf“, er fügt hinzu, ändert ab, schreibt weiter, aktualisiert – um so der nur fingierten Bühnenwirklichkeit zu entfliehen; der Normativität des Klassischen setzt er den Eigensinn entgegen, das Vorgegebene wird nicht destruktiv verabschiedet, sondern konstruktiv weitergedacht.
Normativität des Klassischen und konstruktives Weiterdenken
Der Eigensinn wird bei ihm zum produktiven Potential, es ist die Fähigkeit, die Literatur mit den eigenen Sinnen immer neu zu erfassen, ihr einen neuen Sinn zu unterlegen. Dorst beansprucht dafür die Unbefangenheit des Kindes. Literatur muss für ihn zu Herzen gehen, wie er auch in seiner Büchnerpreisrede formuliert hat: „Würde es uns im Herzen bewegen, wenn ein bislang verschollen geglaubtes Theaterstück von Georg Büchner unversehens wieder auftauchte? … Könnte so ein unverhoffter Fund wie das Manuskript von Büchner unser Leben verändern, bereichern, stärker, schöner machen? Die Frage beschäftigt mich.“ (In: Büchner-Preis-Reden 1984–1994, Stuttgart 1994, 151). Für Dorst muss kein neues Manuskript auftauchen – es ist die Aufgabe der dichterischen Phantasie, die Aktualität eines Autors selbsterfinderisch anzureichern. Darin gleicht seine Aufgabe nicht nur der des Regisseurs, sondern auch der des Predigers: auch er hat nämlich über einen Text zu sprechen, der abgeschlossen ist, der aber eine je neue Wirkungsgeschichte aufweist. Diese Wirkungsgeschichte reißt ab, wenn sie nicht mehr zu Herzen geht, nicht mehr angereichert, lebensgeschichtlich angeeignet wird.
Regisseur und Prediger
Das Zuherzengehen ist notwendige Voraussetzung für die Wirkung der Predigt, wie es deutlich an der Pfingstpredigt des Petrus in der Apostelgeschichte reflektiert wird. Das Pfingstereignis selber ist ja ambivalent. Die einen sind ratlos, die anderen voller Spott: „Sie sind vom süßen Wein betrunken.“ Petrus übernimmt in seiner Predigt die hermeneutische Aufgabe: jetzt geschieht, was durch den Propheten Joel gesagt worden ist. „Als sie das hörten, traf es sie mitten ins Herz“ (Apg 2,37). Und erst vor diesem Hintergrund fragen die Hörer nun: „Was sollen wir tun?“ Predigt ist also nicht Moral, sondern hermeneutische Erschließung eines Geschehens, so dass es ins Herz trifft.
Ein Tryptichon
Damit ist die Metapher der Pfeile bei Tankred Dorst angesprochen: er knüpft in „Die Geschichte der Pfeile“ (1996) an den Jesuitendichter Jakob Bidermann und dessen Theaterstück mit dem Titel „Philemon Martyr“ an. „Die Geschichte der Pfeile“ macht deutlich, wie sich Menschen auch heute noch treffen oder nicht mehr treffen lassen. Dorst nennt sein Stück „Die Geschichte der Pfeile“ im Untertitel „Ein Triptychon“.
Tankred Dorst lässt im ersten Bild – überschrieben „Philemon Martyr“ – den Händler Apollinius vor dem römischen Statthalter Arrian auftreten: Zunächst wird er von den Soldaten ins Gesicht geschlagen und bespuckt: Ein „Ecce–homo“ –Bild auf der Bühne, der Glaubende erleidet dasselbe Schicksal wie Jesus. Doch nun erkennt der Statthalter Arrian in Apollonius den genialen und von ihm bewunderten Schauspieler Philemon: Er ist begeistert, dass dieser den Apollonius so gut spielen kann, zum Verwechseln ähnlich. Doch Philemon ist nicht mehr Schauspieler, er hat zum Glauben gefunden, und so betet er während des Verhörs vor dem Statthalter den Psalm 119:
„Ich habe erwählt den Weg der Wahrheit,
deine Weisungen habe ich vor mich gestellt..“
(T. Dorst, Die Geschichte der Pfeile. Ein Triptychon. In: Spectaculum, 62, 125-166, hier 133).
Arrian ist entsetzt: „Hör auf, Freund, es wird langweilig! Es war früher nicht deine Absicht, uns zu langweilen.“ Für den Statthalter ist das Gebet eine langweilige Angelegenheit, es bringt ihn förmlich zum Gähnen. Für Philemon dagegen ist Beten die Konsequenz seines gefundenen Glaubens: Er fühlt sich wie neu geboren, als wäre er zum ersten Mal auf der Welt. Er will den Dingen einen neuen Namen geben: „Zum Baum sage ich Baum. Zum Fluß sage ich Fluß. Zur Wüste sage ich Wüste.“
Arrian kann darüber nur lachen und fragen, was denn daran neu sei. Philemon dagegen sieht die Welt mit neuen Augen: Auch wenn er die Dinge mit den alten Namen bezeichnet, ist für ihn alles neu geworden. Er ist er selber geworden. Tankred Dorst schildert diese Selbstwerdung so, dass sie mit dem Gebet zusammenhängt. Selbstverwirklichung heißt Glauben und Selbstwerdung bedeutet Betenkönnen. Dieser Überzeugung bleibt Philemon bis zum Schluss treu, dafür stirbt er.
Das zweite Bild des Triptychons ist überschrieben: das grüne Zimmer. Das grüne Zimmer meint den Raum, in dem sich die Schauspieler aufhalten, die gerade während eines Stücks keinen Auftritt haben. Das mittlere Bild – beim Triptychon eigentlich die zentrale Botschaft – wird in dem Stück von Tankred Dorst zur inhaltsleeren Farce: Schauspieler albern herum, reden über ihre Eitelkeiten und über die Bewunderung durch das Publikum. Sie merken nicht, dass der tote Philemon im Zimmer liegt. Engel kommen herbei und tragen den Leichnam weg.
Die albernden Schauspieler nehmen das zwar wahr, können es aber nicht richtig deuten. Ein Schauspieler: „Ich höre da etwas, den Ton einer Flöte von weit her.“ Ein anderer: „Ich höre nichts, vielleicht ist es eine Musikprobe irgendwo, nichts, auf- und abschwellen, sehr hoch, ist das nur in meinem Ohr?“ Er schüttelt sein Ohr: „Merkwürdig.“ Darauf langes Schweigen. Es gibt keinen Ernstfall für die Schauspieler, alles ist für sie nur Probe, Spiel: „Es gibt sie nicht die Stunde der Bewährung,“so einer der Schauspieler; „es wird von niemandem verlangt, für seine Überzeugungen einzustehen, wenigstens heutzutage,“ so ein anderer. Die Wirklichkeit ist zum Gerede verkommen, zum Buhlen um Auftritte, zum Warten auf einen Anruf, dass das nächste Engagement klappt.
Das letzte Bild ist überschrieben „Memorial“. Ein Herr betritt die Bühne mit einem Zettel in der Hand: er berichtet, dass der Diener des Philosophen P. – gemeint ist der Philosoph Pascal – in dessen Rock eingenäht einen Zettel gefunden habe. Die Anhänger des Philosophen sind enttäuscht: Für sie handelt es sich um die sinnlose Aneinanderreihung von Wörtern, um religiöse Zitate, eines ansonsten scharfsinnigen Philosophen. Nur einige wenige gab es, die darauf bestanden, dass das Schriftstück ein Zeugnis darstellt: den Versuch, das Erlebnis einer Erleuchtung zu beschreiben. Damit endet das Stück.
Thema des Glaubens
Es ist bemerkenswert, dass T. Dorst sich mit seinem Stück auf das Thema des Glaubens einlässt. Zugegeben, nicht naiv, sondern die Fragen und Denkweisen von Menschen heute aufgreifend: gibt es in dem Gerede der Gegenwart noch eine glaubwürdige Rede von Gott? Gibt es noch Zeugen? Wo finden wir heute ein solch glaubwürdiges Zeugnis? Nach Dorst gibt es die Wirklichkeit des Glaubens auch heute noch. Allerdings nicht mehr triumphal, nicht mehr mit Massenbekehrungen verknüpft wie im Jesuitendrama, sondern durch die Beglaubigung in der eigenen Existenz. Der Glaube wird als etwas Innerliches dargestellt. Im Schauspieler „Philemon“, der betet, im Philosophen Pascal, der einen Zettel in seinen Rocksaum einnähen lässt, auf dem die Sätze stehen: „Feuer, Feuer, Feuer, nicht der Gott der Philosophen, sondern der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs.“ Für viele sind das unverständliche Sätze, „Nonsens pur“. Für einige wenige aber Dokument des Glaubens und ein glaubwürdiges Zeugnis.
Literatur:
Gerhard Kaiser, Christus im Spiegel der Dichtung, Exemplarische Interpretationen vom Barock bis zur Gegenwart, Freiburg 1997 (darin eine schöne Deutung des Stücks von Tankred Dorst).
Erich Garhammer, Zweifel im Dienst der Hoffnung. Poesie und Theologie, Würzburg 2011 (darin zu Tankred Dorst 208-218).
—
Prof. Dr. Erich Garhammer. Lehrstuhlinhaber für Pastoraltheologie an der Universität Würzburg seit 2000, vorher von 1991 bis 2000 in Paderborn. Schriftleiter der Zeitschrift „Lebendige Seelsorge“ und Herausgeber der Reihe „Studien zur Theologie und Praxis der Seelsorge“.