In vielen Sprachen sind die Worte „Übersetzung“ und „Verrat“ verwandt miteinander. Die neue Einheitsübersetzung ist Anlass, darüber erneut nachzudenken. Die schroffe Sprache der Urtexte hat schon im 16. Jahrhundert Wirkung gezeigt – welcher Stachel steckt heute darin? (Eva-Maria Faber)
„Wenn man einen einzigen entscheidenden Grund dafür nennen sollte, warum es zwar im lateinischen Westen, nicht aber im Griechisch sprechenden Osten eine Reformation gegeben hat, dann liegt er in der Erfahrung eines ganz neuen Tonfalls in den Texten des Neuen Testaments“[1].
Reformation und die Erfahrung eines ungewohnten Tonfalls der Bibel
An diese Einschätzung des Reformationshistorikers Diarmaid MacCulloch musste ich denken, als mir zum ersten Mal die neue Fassung von Mk 1,17 in der Einheitsübersetzung auffiel: „Kommt her, mir nach!“ Angesichts der traditionsgefüllten Rede von Nachfolge war es vermutlich gar nicht so einfach, sich von der bisherigen Lesart („Kommt her, folgt mir nach“) zu verabschieden. Sie ergänzte in Mk 1,17 das „Nachfolgen“ von Mk 2,14, wo es im griechischen Text tatsächlich steht (vgl. auch Mt 4,19 mit Mt 9,9).
Der Gewinn: Es kommt wenigstens etwas von der Unruhe und Schroffheit dieses Textes hervor, in dem Jesus eben nicht gewählt spricht, sondern Menschen etwas zuruft. Sie selbst müssen herausfinden, was das bedeuten soll. Sie hatten noch keine lange Tradition von Nachfolgeerzählungen und Nachfolgeappellen hinter sich, keine Ausgabe der „Imitatio Christi“ auf dem Nachttisch.
Der Tonfall Jesu: schroff, nicht gewählt
Noch radikaler wäre es gewesen, ganz wörtlich zu übertragen: „Auf, hinter mich!“ Zudem wäre zu beachten, dass das in Mk 1,18 folgende „sogleich“ (εὐθὺς), das gern als Ausdruck der umgehenden Nachfolge angesehen wird, in Mk 1,9–45 zehnmal steht. Nicht spontane Nachfolge wird hier signalisiert, sondern in allen Hinsichten eine Unruhe des Beginns.
Der Umbruch von der lateinischen Vulgata[2] zum griechischen Urtext ist nach Diarmaid MacCulloch eine Wurzel der Reformation. Es war ein Ereignis, „als die Gelehrten zum ersten Mal unvermittelt im kantigen griechischen Strassenjargon des erst nach der Auferstehung Christi bekehrten Paulus von Tarsus die Ungeduld vernahmen, die aus ihm hervorbrach, als er mit der Frage rang, wie Jesus Gott verkörpert. Sein Ringen klang im Original viel grobschlächtiger als auf Lateinisch!“ Was genau geschieht da?
Nährboden der Reformation: Abkehr von der kulturellen Zähmung der Bibel
MacCulloch deutet es als Vorstoß zu einer größeren Unmittelbarkeit zum biblischen Text, der aufstörender ist, als es die kirchlich gebräuchliche Übersetzung erkennen ließ: „Dieser Schock führte zu neuen Gruppierungen innerhalb der Kirche und ließ vermuten, dass sie als Deutungsinstanz der Schrift längst nicht so unfehlbar und verbindlich war, wie sie von sich behauptete“. Der Konflikt um die kirchliche Autorität in der Reformation hätte demnach einen Nährboden in der Abkehr von der kulturellen Zähmung der Bibel.
Anders formuliert: Es geschieht Umwälzendes, wenn die Schrift nicht mehr auf dem Weg einer Übersetzung, sondern im Urtext wahrgenommen wird – in jenem Original, das noch mehr von der „Verstörung“ menschlicher Erfahrungen widerspiegelt. Damit kommt eine Rückfrage in Gang, die weniger „auf einen von Anfang an möglichst unveränderten Traditionsstoff“ zielt denn „auf den Niederschlag des Totalumbruchs der Existenz“[3], wie es Hansjürgen Verweyen für das Neue Testament ausdrückt. Dies aber hinterfragt und stört Lehr- und Autoritätssysteme. Es meldet sich Skepsis gegen die Weise, wie in der Entwicklung von christlichen Lebensformen und kirchlichen Strukturen gerundet und ergänzt wurde, was ursprünglich nicht schon rund und vollständig war.
Existenzielle Totalumbrüche stören Autoritätssysteme.
Nun ist das „Abrunden“ und „Ergänzen“ verständlich. Es ist schwierig, bei der Übersetzung und Übertragung in andere Sprachgewohnheiten gewisse Effekte einfach zu imitieren. Auch die Lutherbibel glättete Mk 1,17 zu „Folget mir nach“; die Zürcherbibel las „Volgend mir nach“. Allgemeiner formuliert: Menschen können nicht anders leben, als indem sie das, was ihnen widerfährt, in einen Interpretationsrahmen bringen und in kohärente Vorstellungen übertragen. Doch es braucht Mut, dem Sog in gefälligere und abgesicherte Abrundungen und geschlossene Systeme nicht einfach zu erliegen.
Notwendige Interpretationsarbeit und Widerstand gegen den Sog zum Gefälligen
Mit dem Reformationsthema liegt auf der Hand, wie sehr diese Einsicht sich institutionskritisch auswirkt. Dem Lehr- und Rechtssystem der Kirche – hier gemeint: die römisch-katholische Kirche – täte es gut, sich durch ein „hinter mich“ (vgl. Mt 16,23) aufschrecken zu lassen. Vorrangig ist nicht ein angeblich unveränderlicher Traditionsstoff, sondern der Anruf, der hier und heute Menschen existentiell ergreifen will. Ebensowenig stiftet das Evangelium eine Lebensordnung, die es erlaubt, Christsein (Nachfolge) im abgesicherten Modus zu verwirklichen. Es gibt, um ein aktuelles Beispiel zu nehmen, kein Rechtssystem, das alle Lebenssituationen angemessen berücksichtigt.
Priorität bekommt nicht ein angeblich unveränderlicher Traditionsstoff, sondern der Anruf, der hier und heute Menschen existentiell ergreifen will.
Die „Ungereimtheiten“ der Bibel geben zu denken: ungenannte Subjekte wie in Gen 32,23-33, die unruhige Wiederholung des atemlosen „sogleich“ im Markusevangelium, die unvollständigen Sätze des Paulus. Sie sind nicht ein Freibrief für Nachlässigkeit und Gedankenlosigkeit. Wohl aber bilden sie raue Oberflächen, an denen man sich abarbeiten kann; Atmosphären, die in sich hineinziehen. Sie lassen uneindeutige Leerstellen, von denen es nicht gut ist, wenn sie vereindeutigt und gefüllt werden. Dies gilt wie für die grossen kirchlichen Zusammenhänge auch für die Pastoral. Nicht die eine innovative Idee für ein künftiges Pastoralsystem braucht es. Es ist besser, wenn unvollständige Bruchstücke in der Hand kreative Spielräume suchen lassen.
Raue Oberflächen, an denen man sich abarbeiten kann
Die Sprachfloskeln der Kirchensprache sind nach außen zu glatt und rund – es gibt an dieser glatten Oberfläche kein „Hineinkommen“, abgesehen von dem Verdacht, dass sie nicht selten innen hohl verwendet werden. Doch auch der nur freche Jargon ist zu wenig rau; in seiner Keckheit ist er zu kurzlebig, um ausreichend Innenleben zu haben. Der Sprache müssten vielmehr durch das, wonach sie beharrlich und doch vergeblich gesucht hat und was ihr nun fehlt, Höhlen gewachsen sein, damit man sich darin bergen und darin selbst auf der Suche sein kann.
Der Sprache müssten Höhlen gewachsen sein, damit man sich darin bergen und darin selbst auf der Suche sein kann.
In der Sprache muss manchmal etwas bestürzend aufklaffen wie in dem ursprünglichen Markusschluss mit dem Schrecken und Entsetzen, dem Schweigen und dem Fliehen. Er involviert die Lesenden, weil es dabei doch einfach nicht bleiben kann. Wären nur manche Predigten so – die meisten dauern fünf Sätze zu lang! Sie müssen aufhören, bevor sie fertig sind. Abgeschlossenes ist in sich verschlossen; es braucht Abgebrochenes, das in Unruhe versetzt.
[1] Diarmaid MacCulloch: Die Reformation. 1490–1700. München: dtv, 2010, 125.
[2] Die Vulgata übersetzt im genannten Beispiel allerdings textgetreuer als die bisherige Einheitsübersetzung und unterscheidet „venite post me“ (Mk 1,17) von „sequere me“ (Mk 2,14). Auch so steht jedoch in Mk 1,17 (wie in der jetzigen Einheitsübersetzung) ein Verb, wo im Urtext nur ein Zuruf steht.
[3] Hansjürgen Verweyen: Gottes letztes Wort. Grundriss der Fundamentaltheologie. Regensburg: Pustet, 42002, 309.
—
Eva-Maria Faber ist Professorin für Dogmatik und Fundamentaltheologie an der Theologischen Hochschule in Chur.
Bild: Ben White, unsplash.com