In der von Krieg und Ideologien versehrten Landschaft des Oderbruch entdeckt René Pachmann in der Notkirche Buschdorf eine besondere Hörinstallation. Sie erzählt von Dunkelheit und Zweifel in Anlehnung an das Schicksal des evangelischen Pfarrers Brüsewitz, der in der DDR seine Verzweiflung und Kritik durch eine Selbstverbrennung ausdrückte.
Die sonore Stimme von Sylvester Groth ist schon auf der Wiese neben der kleinen Kirche zu hören. Wobei, als Kirche erkennbar ist das Gebäude erst beim zweiten Hinsehen durch das kleine Kreuz auf dem Dach. Sonst könnte es eine beliebige rote Holzbaracke sein.
Beim Eintreten fällt auf, dass sich die äußere Schlichtheit innen fortsetzt: Bewegliche Holzbänke, als einziger Schmuck ein Deckchen auf dem Altar, neben der wuchtigen Kanzel ein kleiner Kohleofen. Und während das Auge schnell einen Überblick gewinnt in dem Raum, wird das Ohr weiter von der bedächtig artikulierenden Stimme des Schauspielers Groth in Bann gezogen. Und von den Worten, die er liest.
Es handelt sich bei dem zu hörenden Text um den kurzen Roman „Die Selbstverbrennung“ von Hartmut Lange.[1]
In diesem Büchlein aus dem Jahr 1982 herrscht eine melancholische bis trostlose Stimmung in einem DDR.Dorf am damaligen Grenzfluss Elbe. Dieser Stimmung kann man sich beim Hören in diesem Dörfchen Buschdorf im Oderbruch, nahe der deutsch-polnischen Grenze, schwer entziehen.
Darum ist es vor allem diese Stimmung, die sich von der Klanginstallation mit dem Titel „Notkirche Buschdorf“ einprägt. Um sich dem Text zur Gänze zu widmen, wird wohl kaum jemand die vollen sechs Stunden, die die Lesung dauert, am Stück in dem Kirchlein bleiben.
So bleibt das Gehörte Fragment.
Natürlich kann man wiederkommen, auch lässt sich von Kapitel zu Kapitel springen. Aber das Ganze wird nicht auf einmal sichtbar.
Und das ist durchaus Absicht. Katja Lehnert, eine der Verantwortlichen der Installation, betont im Gespräch, was Kunst und die Präsentation von Kunst ausmachen müsse: „Viel mehr Zumutung!“
Eine Verzweiflungstat gegen das DDR-Regime
Dabei ist bereits das Thema von Langes Buch eine Herausforderung:
In einem Dörfchen an der Elbe macht die Nachricht von der Selbstverbrennung des evangelischen Pfarrers Oskar Brüsewitz 1976 in Zeitz
die Runde. Auch wenn sein Name nie fällt und die meisten Erwähnungen seiner Verzweiflungstat gegen das DDR-Regime nur Andeutung bleiben, prägt der verzweifelte Suizid dieses Geistlichen doch die Geschichte und die in ihr handelnden Personen. Es treten auf: der selbst von schweren Zweifeln geplagte Pfarrer Koldehoff, seine im Gegensatz zu ihm blindlings glaubende Ehefrau Elfriede, ihre kranke Tochter Annemarie, der in sie vernarrte Materialist Sempert und einige andere Figuren.
Sie alle handeln scheinbar unter starkem Druck und spüren die Not ihrer Zeit als persönliche Last. Der dunkle Schatten der NS-Zeit liegt vor allem auf dem Bruder Elfriedes, der im Pfarrhaus Aufnahme gefunden hat. Der Schatten der DDR-Grenze lauert im wieder und wieder verletzten Verbot, sich der Elbe zu nähern. Die Schatten von Krankheit, Misstrauen, Todessehnsucht, Hilflosigkeit und Wut kriechen in die Beziehungen und verdunkeln alles.
So weit, so deprimierend.
Und spätestens jetzt stellt sich die Frage, was die Initiatoren bewogen hat, diesen sperrigen Text einsprechen zu lassen, um ihn in diesem Spätsommer und Herbst im Oderbruch zu präsentieren.
Eine versehrte Gegend
Da ist zunächst der Genius dieses Ortes.
Im Oderbruch sind am Ende des Krieges nahezu alle Kirchen zerstört worden. Einige durch die deutsche Wehrmacht, die der heranrückenden Roten Armee alle Orientierungspunkte im flachen Land nehmen wollte, andere Kirchen wurden in den Kämpfen um die Seelower Höhen zerstört.
In Buschdorf befand sich ein auf Fotos dokumentierter prägnanter achteckiger Kirchbau, dessen Ruinen noch bis in die 1960er Jahre standen. Die Fundamente finden sich heute, nahezu komplett überwuchert neben dem jetzigen Kirchenraum.
Der wiederum ist ebenjene Holzbaracke – eine Notkirche, wie sie an vielen Orten in der DDR als Behelfsbau errichtet wurde. In Buschdorf geschah dies 1958, während nebenan noch die Reste der alten Kirche in den Himmel ragten.
Wer heute durch das Oderbruch fährt, kommt durch eine versehrte Gegend. Katja Lehnert nennt sie unmissverständlich eine von totalitären Regimen und ihrer Gewalt geprägte Landschaft. Ebenso versehrt wie die Personen in Hartmut Langes Geschichte.
Die Hörinstallation in Buschdorf führt beides zusammen – versehrte Menschen und versehrte Landschaft. Wunden und Narben werden zu Gehör gebracht.
Ein Raum –
äußerlich bekannt,
innerlich ein Fremdkörper
Weiterhin lagern sich ineinander und übereinander die verschiedenen Zeit- und Bedeutungsebenen von Literatur, Architektur, Landschaft und dazu kommt die Situation der Kirche.
Zwischen den Resten der alten Kirche und der daneben stehenden Notkirche befindet sich ein freistehendes Gerüst mit der Glocke. Darauf steht: „Ja, selig sind, die das Wort Gottes hören und bewahren.“
Diese Seligpreisung haben die Verantwortlichen der Installation als Aufforderung für ihr Projekt begriffen und wollten die Kirche auf neue Weise zum Ort des Hörens erlebbar machen.
Denn Christenmenschen jeder Konfession müssen sich ihren je eigenen Reim machen auf das Wort Gottes.
Der Pfarrer Oskar Brüsewitz hat dies in seiner Opposition zur DDR und mit seinem tragischen Ende ebenso getan wie die Figuren in Hartmut Langes literarischer Formung und Ausdeutung dieser Geschichte. Die Menschen, die seit den späten 1950er Jahren die Notkirche besuchten, hörten dort das Wort Gottes, wenn die Glocke sie zusammenrief.
Und heute, heute schwindet die Zahl der Gläubigen rasant. Wer heute im Oderbruch in eine Kirche tritt, betritt einen Raum, der für den Großteil der Einwohnerinnen und Einwohner dieser Gegend ein äußerlich bekannter Ort und innerlich dennoch ein Fremdkörper ist. Denn die Zahl derer, die sich einer Kirche zugehörig fühlen, ist hier verschwindend gering.
Literatur und Glaube
fragmentarisch erlebbar
Verirrt sich jemand zufällig in einen Gottesdienst und hört dort die Worte der Lieder und Gebete, der Predigt und der biblischen Texte – dann wird sie sich aus diesen Fragmenten des Christlichen einen Reim auf das Gehörte machen.
Damit spielt die Hörinstallation: So wie der Glaube beim kurzen Besuch in einer Kirche fragmentarisch erlebbar wird, so wird es hier die Literatur. Vielleicht bleibt sie nach dem Besuch der Notkirche ein rein ästhetischer Eindruck, vielleicht bewegt sie etwas in der Wahrnehmung eines Menschen oder ändert gar ein Leben, vielleicht ist sie sofort vergessen.
In einer krisenhaften Zeit für die Kirche ist hier Offenheit zu erleben. Nicht nur eine offene Kirche, sondern die Zumutung dunkler Zweifel von Christenmenschen in bedrängter Zeit. Auch vor Seelsorger*innen macht diese Krise nicht halt. Aber wie „Die Selbstverbrennung“ klar macht, sind auch vernunftorientierte Materialisten, moralisch schuldlos Gebliebene oder tief Gläubige nicht gefeit vor der Dunkelheit.
Ohne Tröstung
Langes Büchlein endet konsequenterweise ohne klare Wegweisung oder gar Tröstung. Die beiden gebrochenen Protagonisten, der zweifelnde Pfarrer und der verliebte Materialist, werden auf zwei verschiedenen Weisen aus der Geschichte hinausgeführt. Die Figur des Pfarrers scheut die Radikalität des realen Pfarrers Brüsewitz und flieht vor der Grenze. Der andere Mann versucht die Flucht über die Grenze in den Westen, der Ausgang bleibt ungewiss.
Wer dieses Ende der Hörinstallation in der Notkirche erlebt, verlässt die Kirche danach mit diesen beiden offenen Möglichkeiten.
Für manche berührt das die biblische Verkündigung. Für Andere streift es die Blasphemie oder bleibt ein nichtssagendes Fragment.
Für die Notkirche in Buschdorf bedeutet die Hörinstallation neue Bewegung an diesem alten Ort. Bis zum Reformationstag 2024 wird die Stimme von Sylvester Groth noch mit „Die Selbstverbrennung“ zu hören sein, die Kirche ist tagsüber bis zur Dämmerung geöffnet.
In der Verbindung der Notkirche mit der Hörinstallation zu dem dramatischen Schicksal und Lebensweg aus der DDR-Geschichte verbinden sich Ort und Geschichte auf beeindruckende Weise zu einem neuen Ganzen.
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René Pachmann ist Theologe und seit 2021 Hochschulseelsorger an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder).
Foto: © Heide Fest
Informationen zum Projekt:
[1] Hartmut Lange, Die Selbstverbrennung. Diogenes Verlag Zürich 1984.
Bilder: René Pachmann