Thomas Rathmann sieht in Kitas und Schulen die Zukunft der Kirche und mit den Schulschließungen der Bistümer eine jahrhundertealte Tradition in Gefahr. Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein war die europäische Bildungstradition mit christlicher Bildung beinahe gleichzusetzen.
Mit dem Bild von Gelehrten als Zwergen, die auf den Schultern von Riesen sitzen, um mehr und Entfernteres als diese sehen zu können, eben nicht dank eigener scharfer Sehkraft oder Körpergröße, sondern weil die Größe der Riesen sie emporhebt, wies Bernhard von Chartres auf die Bedeutung der Leistungen früherer Generationen für die aktuelle (Wissenschafts-)Kultur hin.1 Mit ihrem Schritt, Schulen zu schließen, verstoßen manche Bischöfe die Schulen von ihrem Platz auf den Schultern des Riesen, der auch ihnen die Möglichkeit gegeben hat, weiter sehen zu können. Es ist somit ein doppelter Offenbarungseid, den die Bistumsleitungen mit Schulschließungen leisten.
In Berlin hat sich Erzbischof Koch anders entschieden und proklamiert, dass das „Bistum für Bildung stehe“. Was heißt das? Es gibt in der deutschen Sprache kaum schillerndere Worte als „Bildung“. Die Begriffsgeschichte ist lang, und die Reihe derer, die über Bildung nachgedacht haben, ist ehrfurchtgebietend. Sie beginnt im deutschen Sprachraum bei Meister Eckhart im 14. Jahrhundert, und in seine Geschichte eingeschrieben haben sich u.a. Wieland und Herder, Goethe, Schiller und Pestalozzi im 18. Jahrhundert, Fichte und Wilhelm von Humboldt im 19. Jahrhundert, Klafki und Koller und die Autor:innen der sog. Pisa-Studie bis heute. Unzählige Komposita zeugen von der Wirkmächtigkeit des Begriffs: das Bildungsbürgertum, der Bildungsroman („Wilhelm Meister“) wie der Bildungskanon2, die Bildungssoziologie wie die Bildungsökonomie, über die besonders die OECD nachdenkt, sowie zahlreiche andere mehr. Auch die Bildungsministerien seien nicht unerwähnt, wo sie vor allem verwaltet wird.3
Religiös-weltanschauliche Fragen von Kindern und Jugendlichen verschwinden nicht, weil es keine Orte dafür gibt.
Das Erzbistum Berlin hält damit zum einen an der langen Bildungstradition fest, es schlägt zum anderen das Angebot nicht aus, das das Grundgesetz nach dem zivilisatorischen Zusammenbruch 1945 den Trägern von Bildung jenseits des Staates gemacht hat. Es hält also an der Bildungspartnerschaft mit den Ländern Berlin und Brandenburg fest und untermauert den Anspruch, der säkularen Bildungslandschaft eine Idee von theologischer Bildung an die Seite zu stellen, die notwendiger denn je erscheint, verschwinden doch religiös-weltanschauliche Fragen von Kindern und Jugendlichen nicht deshalb, weil es keinen Ort gibt, an dem sie gestellt werden können.
Maßgeblich für die Maximen und Leitbilder katholischer Schulen sind seit jeher die Verlautbarungen der deutschen Bischofskonferenz. Zudem stehen noch die konziliaren Lehrschreiben aus den 1960er Jahren in Geltung. Als das Zweite Vaticanum in seiner Erklärung Gravissimum educationis die Identität der katholischen Schulen daran knüpfte, das Evangelium Jesu Christi als Proprium des christlichen Glaubens zu bezeugen und in einen fruchtbaren Dialog mit der Kultur der Zeit einzubringen, da stellte die Kirche eine Autorität dar, die noch kaum umstritten war.
Das Umfeld, in dem katholische Schulen heute sehr erfolgreich arbeiten, ist inzwischen in mehrerlei Hinsicht paradox. Wo früher kirchliche Erziehungsprinzipien, das Familienmodell und die Sexualmoral zumindest nach außen hin in Geltung standen, sieht das 60 Jahre später anders aus. Die katholische Kirche steht in der Kritik wie kaum jeweils zuvor. Der Umgang mit Missbrauchsfällen, die Verweigerungshaltung vieler Bischöfe beim synodalen Weg, nicht zuletzt das Schweigen vieler Geistlichen während der Corona-Krise haben dazu geführt, dass die pastoralen und liturgischen Angebote der Kirche mancherorts beinahe in der gesellschaftlichen Bedeutungslosigkeit versunken sind. Nicht selten muss man sich als Schulleiter einer katholischen Schule dafür rechtfertigen, im Dienst der Kirche zu stehen, und fühlt sich zuweilen fremd im Eigenen, wie Birgit Hoyer in ihrem Beitrag für feinschwarz am schreibt.
… dass die Schule katholisch sei, störe gar nicht.
Aber, und dies scheint paradox: Die Bildungsangebote der Kirche werden wahrgenommen wie eh und je, seien es die Kindertagesstätten, die Grundschulen oder die weiterführenden Schulen. D.h. viele Menschen spalten den Träger von den Bildungseinrichtungen gedanklich ab. Fragt man die Eltern während der Aufnahmegespräche, warum sie eine katholische Schule aufsuchen, antworten die Katholik:innen, das sei doch selbstverständlich, andere aber sagen unverblümt, die Schule habe einen guten Ruf und dass sie katholisch sei, störe gar nicht. Wie auch immer, es sind inzwischen die Schulen, die die Menschen in der Diaspora mit der Kirche in Berührung bringen. Das mag für Kitas und Schulen schmeichelhaft sein, ist aber im Grunde problematisch, denn wenn die Kirche als Trägerin der Schulen im Bewusstsein der Eltern kaum noch eine Rolle spielt, könnte ziemlich bald die Frage nach der Legitimation auftauchen. Die Schulen müssen sich also bemühen weiterzuschauen, und das tun sie!
Alle Bistumsschulen sind staatlich anerkannt und erfüllen einen staatlichen Bildungsauftrag, sind also zunächst Schulen wie andere auch. Was macht das sogenannte Proprium der katholischen Schulen aus? Was definitiv viele Eltern zu den katholischen Schulen zieht, ist eine gewisse Exklusivitätserwartung. Viele möchten ihren Kindern die Zumutungen sprachlicher oder kultureller Heterogenität ersparen, die in Berlin bekanntlich besonders groß ist. Da es die aber inzwischen auch an den Bistumsschulen gibt – sei es in Neukölln, in Schöneberg, in Moabit oder Fürstenwalde – möchte man seine Kinder in einem Umfeld wissen, das so etwas wie Geborgenheit vermittelt, verbunden mit der Hoffnung, und mitunter gar Erwartung, dass die Lehrerinnen und Lehrer das eigene Kind ganz besonders im Blick haben – theologisch gesprochen wäre das die pädagogische Umsetzung des Individualitätsgedankens: Jedes Kind, jeder Mensch ist mit seinen individuellen Stärken und Schwächen ein Ebenbild Gottes und deshalb steht es im Zentrum der Bemühungen jeder Lehrkraft.
Eltern wünschen Bildung, nicht nur gute Ausbildung.
Die Eltern wünschen sich, dass ihre Kinder nicht nur gut ausgebildet werden, sondern dass sie Bildung erfahren. Und Bildung sei hier so verstanden, dass sie keine vorgegebene Form ist, die zu erfüllen wäre, sondern ein prozessualer Zustand, der sich durch Reflexivität ständig und aktiv verändert. Bildung ist sowohl der Vorgang des Hervorbringens wie auch das Ergebnis des Hervorgebrachten.4 Zwei katholische Bildungsforscher definieren den Begriff so: „Im Widerspruch zu einem Erziehungsverständnis, das die Heranwachsenden als ‚Objekte‘ erzieherischen Handelns“ sieht, „betont ‚Bildung‘ die Selbsttätigkeit der Heranwachsenden. Er bzw. sie bildet sich selber. Bildung ist ein selbstbezügliches Handeln“.5, und sie zitieren hier das Sekretariat der Deutschen Bischöfe.
Idealerweise ist es das, was das „Mehr“ der pädagogischen Arbeit katholischer Schulen im Unterschied zu anderen Schulen ausmacht. „In Anlehnung an die Tradition der Aufklärung wird Bildung als selbstbestimmter Vorgang der Person, als Menschwerdung des Menschen und als reflektiertes Selbst- und Weltverhältnis in der lebenslangen Entwicklung einer ganzheitlichen und zweckfreien Subjektivität verstanden“, so beschreiben es die beiden eben genannten Autoren.6 Am Ende der Schulzeit sollten die Absolventinnen und Absolventen unserer Schulen sich in die Lage versetzt haben, den Versuchen einer Funktionalisierung für wissenschaftliche, wirtschaftliche oder politische Zwecke widerstehen zu können und gelernt haben, eine eigene Haltung auszubilden zu den Themen und Fragestellungen, für die sie als mündige Bürgerinnen und Bürger in naher Zukunft Verantwortung übernehmen: Zur Bewahrung der Schöpfung (Sozial-ökologische Transformation), zu Krieg und Frieden, zur Übernahme von Verantwortung in Institutionen und Gesellschaft, zur Selbstbestimmtheit im Umgang mit Medien und dem steigenden Einfluss von Technologien und Algorithmen (Digitaler Kulturwandel), zu Integration und sozialer Vielfalt.
Ein Ort, an dem Schüler:innen lernen, dass einfache Antworten auf vielfältige Fragen nicht weiterhelfen.
Im Vergleich zu öffentlichen Schulen, die diesen Anspruch ebenfalls an sich stellen, gibt es einen entscheidenden Unterschied, der die Existenz der katholischen Schulen überhaupt erst begründet und der besteht darin, dass an christlichen Schulen die Gottesfrage wachgehalten wird. Im Verlaufe eines Schüler:innenlebens wird die Frage immer wieder neu gestellt, n i c h t aber für jede/jeden verbindlich beantwortet oder gar dekretiert. Es geht vor allem um die Auseinandersetzung mit der Gottesfrage, um die Suche nach Antworten, „ethisch gesprochen, um die Suche nach der Universalität von Werten und Normen und, erkenntnistheoretisch betrachtet, nach der für uns nur bruchstückhaft erkennbaren Wahrheit“.[Ebd. S. 56.] In Zeiten, in denen Gewissheiten sich mehr und mehr auflösen, muss katholische Schule für Schülerinnen und Schüler ein Ort sein, an dem sie lernen, dass einfache Antworten auf vielfältige Fragen nicht weiterhelfen. Die Auseinandersetzung mit der Gottesfrage übt eine Haltung, eine Perspektiven übergreifende Sicht ein, die universell ist.
Wo geschieht das alles, wo lassen sich solche Prozesse initiieren? Im Unterricht! Hier können die Bistumsschulen aus dem Gleichschritt mit nichtkonfessionellen Schulen ausscheren, indem sie den einzelnen Unterrichtsfächern Frageperspektiven anpassen, die Ergebnisse möglich werden lassen, welche über die Erwartungshorizonte hinausgehen: Es sind dies existenzielle und transzendierende Fragestellungen, die im Religions- oder Philosophieunterricht thematisiert werden können, genauso aber auch im Literaturunterricht; Fragen nach dem Verhältnis von Wissen und Glauben, die in den Naturwissenschaften ihren Platz genauso finden wie im Religionsunterricht. Ventiliert werden sollten unbedingt Perspektivwechsel, Empathie und Dialog, erfordert doch die steigende soziale und kulturelle Heterogenität eine ganz besondere Differenzsensibilität und Kommunikationsfähigkeit.
Zwerge sehen weiter.
Zum Schluss sei voller Optimismus der Aphorismus Bernhards von Chartres noch einmal ins Spiel gebracht: Ja, die Verantwortlichen in den Schulen sehen heute weiter als der Riese, auf dessen Schultern sie stehen, weil sie verstanden haben, dass die Berufung auf Tradition und Dogma allein nicht mehr ausreicht, sondern dass der Schatz der Lehr- und Lerntradition mit einer zeitgemäßen Spiritualität angereichert werden muss, mit der Offenheit gegenüber den Fragen von Jugendlichen und Lehrenden und dem Wissen darum, dass das eigene Wissen nicht in Stein gemeißelt ist.
Das Verhältnis von Zwerg und Riese scheint sich umgekehrt zu haben: früher trug uns der Riese, um uns zu führen, heute sollte er einsehen, dass es Zeit wird, sich auch einmal führen zu lassen, weil wir dort oben auf seinen Schultern Antworten auf Fragen suchen und finden, die der Riese selbst erst wieder zu stellen lernen muss.
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Prof. Dr. Thomas Rathmann, Germanist, von 2010 bis 2023 Schulleiter der Katholischen Marienschule Potsdam.
- Vgl. Johannes von Salisbury in Metalogicon 3,4,47-50, 1159. ↩
- Vgl. Manfred Fuhrmann: Der europäische Bildungskanon des bürgerlichen Zeitalters. Frankfurt am Main/Leipzig 1999. Oder: Dietrich Schwanitz, Alles, was man wissen muß, Frankfurt am Main 1999. ↩
- Vgl. zur Begriffsgeschichte von Bildung: Reinhart Koselleck, Zur anthropologischen und semantischen Struktur der Bildung. In: Ders., Begriffsgeschichten. Frankfurt/M. 2006, S. 105-154. S. 105. ↩
- Vgl. Reinhart Koselleck, Zur anthropologischen und semantischen Struktur der Bildung. In: Ders., Begriffsgeschichten. Frankfurt/M. 2006, S. 105-154. ↩
- Paul Platzbecker /Matthias Korten, Bildung ein Profil geben. Systemische Überlegungen zur curricularen Eigenprägung an katholischen Schulen. In: engagement, 40,1 (2022), S. 51-71, 53. ↩
- Ebd. S.53. ↩