Leonard Stöcklein forscht zum bundesdeutschen Umgang mit dem nationalsozialistischen Völkermord an den Sinti und Roma und zur Rolle der Kirchen nach 1945. In seinem Dissertationsprojekt untersucht er die konfliktreichen Entstehungsgeschichten der Gedenkorte der Sinti und Roma im bundesdeutschen Raum seit Anfang der 1980er Jahre.
Erst im Februar 2023 forderte Kardinal Reinhard Marx im Zuge eines Besuchs beim Zentralrat Deutscher Sinti und Roma in Heidelberg eine grundlegende wissenschaftliche Aufarbeitung über Schuld und Verantwortung der katholischen Kirche für den Völkermord an deutschen Sinti und Roma im Nationalsozialismus. Die katholische Kirche hatte Sinti und Roma, ungeachtet ihres mehrheitlich katholischen Glaubens, reichsweit nicht unter Schutz gestellt – mehr noch: Bei der lokalen und regionalen Verfolgung durch die Nationalsozialist:innen waren Pfarrer und Gemeinden vielerorts zu Helfershelfer:innen der nationalsozialistischen Kriminalpolizei geworden.1
Auch Ordensschwestern kirchlicher Kinderheime hatten Kinder, die von ihren Eltern getrennt worden waren, aufgenommen, nur um sie häufig wenig später wie im Nardinihaus Pirmasens oder der St. Josefspflege Mulfingen einer „rassehygienischen Untersuchung“ zuzuführen, zwangssterilisieren oder nach Auschwitz in die Vernichtung deportieren zu lassen – im Fall Pirmasens wehrte sich die Heimleitung noch Anfang der 1990er Jahre massiv gegen eine Aufarbeitung der eigenen Verstrickung in die Verbrechen. Jenseits des Deutschen Reiches war die katholische Kirche, beispielsweise unter dem faschistischen Ustascha-Regime in Kroatien eng in die planmäßige Vorbereitung und Durchführung der Ermordung der Roma verstrickt gewesen.2
Das moralische Versagen der Kirche während des Nationalsozialismus.
Im April 1943 bat Oskar Rose, Vater des heutigen Zentralratsvorsitzenden Romani Rose, unter falschem Namen um eine Audienz beim damaligen Münchner Erzbischof Michael von Faulhaber, um diesen auf die bereits stattfindenden sowie geplanten Deportationen tausender Sinti und Roma in das Konzentrationslager Auschwitz aufmerksam zu machen. Er hoffte, diesen im besten Fall dazu bewegen zu können, gegen die Vernichtungspraxis öffentlich Stellung zu beziehen. Diese Hoffnung rührte auch daher, dass Kardinal von Galen wenige Jahre zuvor zumindest teilweise erfolgreich die Mordaktionen an Patient:innen von Heilanstalten durch öffentliche Kritik gestoppt hatte. Die Notiz in Faulhabers Tagebuch legt eindeutig das moralische Versagen der Kirche während des Nationalsozialismus dar: „Bei Sekretär ein Zigeuner, namens Adler, katholisch – Die 14.000 Zigeuner im Reichsgebiet sollen in ein Lager gesammelt und sterilisiert werden, die Kirche soll einschreiten. Will durchaus zu mir. – Nein, kann keine Hilfe in Aussicht stellen.“3
Den Deportationen, die Rose mutig stoppen wollte, war am 16. Dezember 1942 – kurz vor Weihnachten – der sogenannte „Auschwitz-Erlass“ Heinrich Himmlers vorausgegangen, dem reichs- und europaweit Deportationen in die Konzentrationslager folgten. Seit 1994 wird dieses für die Sinti und Roma so einschneidenden Befehls offiziell alljährlich im Bundesrat gedacht, nachdem der überlebende Sinto Ewald Hanstein dies über Jahre mit Unterstützung des Bremer Bürgermeisters Klaus Wedemeier eingefordert hatte. Ein kirchliches Gedenken jedoch, etwa durch Gebete oder das Entzünden von Kerzen in der Christmette oder Gottesdiensten um den 16. Dezember, findet heute wohl nur in den wenigsten Kirchen statt.
Keine Aufarbeitung über die eigene Verstrickung innerhalb des nationalsozialistischen Vernichtungsapparats.
Diese Dynamik steht symptomatisch für den Prozess der Anerkennung des Völkermordes. 1980 besetzten Überlebende und Nachfahren des Völkermordes die Gedenkstätte Dachau und gingen in einen mehrtägigen Hungerstreik. Sie forderten die Herausgabe der sogenannten Landfahrerakten, Akten der nationalsozialistischen Kriminalpolizei, mit denen die bayerische Polizei bis in die 1970er Jahre weitergearbeitet hatte, sowie die offizielle Anerkennung des Völkermordes aus „rassischen Gründen“. In dieser verfahrenen Situation setzte der damalige Erzbischof von München und Freising, Kardinal Ratzinger, gemeinsam mit Johannes Hanselmann, Landesbischof der evangelischen Kirche Bayern, ein Zeichen und forderte von der Landes- sowie Bundesregierung in einem offiziellen Schreiben eine Klärung offener Fragen hinsichtlich der fortgesetzten Diskriminierung der Sinti.4 Es war dies jedoch lediglich ein kurzer Hoffnungsschimmer innerhalb des anhaltenden Beschweigens und Missachtens seitens beider Kirchen, denn diese positive Tat wurde mitnichten zum Beginn einer grundlegenden Aufarbeitung über die eigene Verstrickung innerhalb des nationalsozialistischen Vernichtungsapparats.
Über Jahrzehnte hinweg bewahrten die Kirchen nach 1945 den Blick auf die Verfolgung der Sinti und Roma als eine aus kriminalpräventiven Gründen erfolgte Maßnahme. Die kirchlichen „Zigeunermissionen“ verstanden sich als Sozialhilfen, die bis in die 1980er Jahre nicht aus einer historischen Verantwortung für den rassistisch motivierten Völkermord agierten.5 Die Bürgerrechtsbewegung übte seit Mitte der 1970er Jahre Druck auf die Bistümer und kirchlichen Würdenträger, insbesondere auf die katholische Kirche, aus, sich zu ihrer historischen Verantwortung zu bekennen. 1988, anlässlich des 45. Jahrestages der Auschwitz-Deportationen im März 1943, hielt auf Drängen des Zentralrats ein katholisches Pontifikat zum ersten Mal einen Gedenkgottesdienst für das Verfolgungsschicksal der Minderheit ab. Nach einer Rede von Romani Rose bezeichnete Bischof Anton Schlembach im Dom zu Speyer den Völkermord zwar als ein „himmelschreiendes Unrecht, das immer noch nicht allen bewusst, nicht überall bekannt sei“6, über die Mithilfe der Kirchen bei der Erfassung und Deportation der Menschen äußerte er sich jedoch nicht. Es blieb bei Lippenbekenntnissen ohne eigenes Schuldeingeständnis.
Notwendiges Bekenntnis zur Verantwortung, den Täter:innen allzu selbstwillig die Kirchenbücher geöffnet zu haben.
Die Vernichtung hunderttausender Menschen lässt sich nicht wieder gut machen, weder durch Gedenken noch durch finanzielle Entschädigung. Auch für eine Anerkennung der Überlebenden des Völkermordes ist es im Jahr 2023 zu spät. Nichtsdestoweniger liegt es in der Verantwortung der Kirche, die Verbrechen wenigstens symbolisch anzuerkennen und sich zu der historischen Verantwortung kirchlicher Würdenträger zu bekennen, die den Täter:innen allzu selbstwillig die Kirchenbücher öffneten, so dass diese wenig Mühe hatten, ihre Opfer für „rassehygienische Untersuchungen“ ausfindig zu machen oder direkt in den Tod zu schicken.
In einem ersten Schritt gälte es hierbei, die Spuren der Vergangenheit flächendeckend aufzuarbeiten, wobei diese Kraftanstrengung – die Recherche in den Kirchenarchiven, das Befragen von Angehörigen und das Einholen wissenschaftlicher Expertise – wohl maßgeblich von den Gemeinden geleistet werden müsste. An den allermeisten Orten ist die Verstrickung in die Geschichte des Völkermordes bis heute unbekannt, Ausnahmen sind die nachahmenswerte Regel.
Nur vereinzelt kümmerten sich Gemeindevorsteher um die symbolische Anerkennung durch historische Forschungen und die Errichtung von Gedenkzeichen. Neben kirchlichen Gedenkinitiativen in Berlin-Marzahn, Mulfingen, Geesthacht und Brandenburg (Havel) stach das Engagement des Kirchenvorstandes Norbert Hasse und des Pfarrers Peter Beier in Zehdenick (Brandenburg) hervor: Nachdem sie 2006 erste Namen der in Auschwitz ermordeten katholischen Sint:izze und Rom:nja in einem Zeitungsartikel des ehemaligen Leiters der Gedenkstätte KZ Sachsenhausen gelesen hatten, recherchierten sie in den Kirchenbüchern und umliegenden Archiven weiter und wurden fündig. Als Ergebnis gestalteten sie eine Gedenktafel, die seit 2010 in der Kirche hängt.
Antiziganismus prägt den römisch-katholischen Kirchendiskurs in Deutschland.
Die Sintezza Dotschy Reinhardt, die auch Kardinal Marx im Februar in Heidelberg in Empfang nahm, war bei der Enthüllung der Gedenktafel anwesend und machte einmal mehr auf das begangene Unrecht während des Nationalsozialismus, das vielerorts immer noch nicht bekannt sei, aufmerksam. Die Anstrengung der Gemeindemitglieder in Zehdenick zeigt, wie es gehen kann.
Darüber hinaus braucht es weitere wissenschaftliche Forschungen. Am Lehrstuhl für Dogmatik der katholisch-theologischen Fakultät der Ruhr-Universität-Bochum promoviert Valerie Mitwali. Sie stellt die These auf, dass Antiziganismus den römisch-katholischen Kirchendiskurs in der Bundesrepublik Deutschland präge. Dieser Diskurs wird durch die Errichtung einzelner Gedenkorte nicht durchbrochen, doch können diese wichtige Ausgangspunkte für tiefgreifendere Auseinandersetzungen der Kirche über ihre eigene Rolle innerhalb des gesellschaftlichen Antiziganismus sein.
___
Leonard Stöcklein, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl Didaktik der Geschichte der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg.
- Vgl. Lotto-Kusche, Sebastian: Der Völkermord an den Sinti und Roma und die Bundesrepublik. Der lange Weg zur Anerkennung 1949-1990, Berlin/Boston 2022, S.85-89. ↩
- Vgl. Heinemann, Behar/Mack, Jonathan/Raatzsch, André/Kehl, Jara/Karakul, Rahun/Gress, Daniela (Hg.): 45 Jahre Bürgerrechtsarbeit deutscher Sinti und Roma. Katalog zur Ausstellung des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, Heidelberg 2017, S. 60f. ↩
- www.zentralrat.sintiundroma.de/kardinal-marx-im-dokumentationszentrum/ (zuletzt aufgerufen am: 18.06.2023). ↩
- Daniela Gress: Protest und Erinnerung. Der Hungerstreik in Dachau 1980 und die Entstehung der Bürgerrechtsbewegung deutscher Sinti und Roma, in: Fings, Karola/ Steinbacher, Sybille (Hgg.): Sinti und Roma. Der nationalsozialistische Völkermord in historischer und gesellschaftspolitischer Perspektive. Dachauer Symposien zu Zeitgeschichte Bd. 19, Göttingen 2021, S. 190 – 219. ↩
- Vgl. Lotto-Kusche, Sebastian: Der Völkermord an den Sinti und Roma und die Bundesrepublik. Der lange Weg zur Anerkennung 1949-1990, Berlin/Boston 2022, S.85-89. ↩
- Kurz, Felix: „Späte Trauer um Sinti“, in: TAZ, 14.03.1988; Vgl. „Gedenkgottesdienst für Sinti und Roma“, in: TAZ, 12.03.1988. ↩