Auf der Suche nach Interpretamenten zur Krisendeutung bringt Martina Kumlehn den protestantischen Theologen Friedrich D. E. Schleiermacher ins Spiel. Ein Interview.
Folgt man dem Soziologen Armin Nassehi leben wir in einer – angesichts gegenwärtiger Krisenerscheinungen – „überforderten Gesellschaft“.[1] Mag dies ein Phänomen der Postmoderne sein, so lohnt sich auf der Suche nach Interpretamenten zur Krisendeutung auch der Blick in die Religionsgeschichte der Aufklärungszeit. Martina Kumlehn, Professorin für Religionspädagogik an der Theologischen Fakultät der Universität Rostock, bringt im Interview mit Tilman A. Fischer den protestantischen Theologen Friedrich D. E. Schleiermacher als modernen Krisendeuter ins Spiel. Über „Schleiermacher im Spiegel des modernen Krisenbewusstseins“ hielt Kumlehn am 30. November die diesjährige Schleiermacher-Lecture des Instituts zur Erforschung moderner Religionskulturen an der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin.
Frau Kumlehn, warum lohnt es sich angesichts unserer krisengeschüttelten Gegenwart Schleiermacher zu lesen? Haben wir angesichts der Herausforderungen der Postmoderne nicht Besseres zu tun, als Texte des 19. Jahrhunderts zu lesen?
Auch im 18. und 19. Jahrhundert gab es politische Umwälzungen, Krieg und Seuchen. Gewiss: Im Sog der Spätmoderne überlagern sich durch die technologischen Entwicklungen, die globalen Verflechtungen, die Digitalisierung und die ökologischen Risiken hyperkomplexe Krisenszenarien. Aber neben den neuen Herausforderungen sind es doch paradoxerweise gerade die Erfahrungen der Pandemie, der Naturkatastrophen und des Kriegs, die das Gefühl der Entsicherung, der Fragilität und Verletzlichkeit trotz aller Sicherungsmaßnahmen und Fortschrittsverheißungen der Moderne wieder massiv verstärken und Verlustängste schüren. Von daher lohnt sich auch ein historisch kundiger Blick in die Vergangenheit, um die Erfahrungs- und Deutungshorizonte in Analogie und Differenz in ein kritisches Verhältnis zu setzen.
das Gefühl der Entsicherung, der Fragilität und Verletzlichkeit trotz aller Sicherungsmaßnahmen und Fortschrittsverheißungen der Moderne
Welches Interpretament bietet uns Schleiermacher, das unser Verständnis von Krisen zu schärfen vermag?
Ein zentraler Text hierfür sind seine 1799 – zwischen der Revolution in Frankreich und der Hoffnung auf Reformen in Preußen – erschienenen „Reden über die Religion an die Gebildeten unter ihren Verächtern“. Hier stellt er sich den Umbrüchen zwischen Aufklärung und Romantik, zwischen Philosophie und Theologie sowie zwischen monarchischer und republikanischer politischer Ordnung in Europa. Schleiermacher erkennt: Es ist eine Zeit, die „offenbar die Grenze ist zwischen zwei verschiedenen Ordnungen der Dinge“ – zwischen einer vergehenden und einer kommenden semantischen, kulturellen, politischen und religiösen Ordnung.[2] Damit macht er deutlich: Es ist eine Zeit der bedrohlichen Entsicherung, zugleich aber auch eine solche, die Dinge kreativ in Bewegung setzen kann. Es entstehen neue Perspektiven auf die Welt. Diese eröffnen Möglichkeitsräume der Umdeutung von Selbst, Welt und Gott und können dadurch auch Potentiale der Umgestaltung des Lebens und seiner gesellschaftlichen und religiösen Verhältnisse freisetzen…
Zeit zwischen einer vergehenden und einer kommenden semantischen, kulturellen, politischen und religiösen Ordnung
… wie sie letztlich für die Aufklärung, der Schleiermacher als Aufklärungstheologe zuzuordnen ist, typisch sind?
Nicht umsonst spricht Marie-Luise Flick von der „Krise als Nährboden der Aufklärung“.[3] Die Kritik wird von dieser Epoche an als Kunst des Unterscheidens, Prüfens, Entgegnens in eigenen Kulturen der Öffentlichkeit gepflegt. Es geht um eine permanente Revision des Gegebenen. Die Haltung des kritischen Reflektierens wird damit zu einem „Motor und Modus der Moderne“, wie Sarah Schmidt es formuliert.[4] Die Kritik ist zugleich auch der Resonanzraum für die bewusste Wahrnehmung der krisenhaften Infragestellung überkommener Ordnungen. Kurz gesagt, die Moderne wird, so Gerhard Schulze, zu einer „Kultur der Krisen“, die den „Normalitätsbruch normalisiert“.[5]
„Krise als Nährboden der Aufklärung“
Dies klingt angesichts heutiger Debatten und gesellschaftlicher wie kultureller Umbrüche durchaus vertraut. Gilt die Diagnose also bis in die Jetztzeit der Postmoderne?
Durchaus für das grundierende Krisenbewusstsein mit Blick auf semantische Ordnungen und Wissenskulturen. Damals wie heute sind hiervon jedoch tiefgreifende Krisen wie Epidemien, Kriege oder jetzt der Klimawandel zu unterscheiden, die nicht nur einzelne Traditionen, sondern alle Ebenen unserer Existenz berühren, erhebliche Dauer entfalten und damit unsere Wahrnehmungs- und Deutungsmuster, Raum- und Zeitkonzepte, gesellschaftlichen Strukturen und Institutionen, Machtverhältnisse, Beziehungsstrukturen, Lebensmodelle und -stile gleichermaßen verändern können.
Welche Deutungsangebote kann Schleiermacher uns Heutigen im Blick auf diese Arten von Krisen machen?
Interessante Anschlussstellen finden sich in seinen Predigten der Jahre 1806 bis 1808. Nach der Niederlage Preußens in Jena und Auerstedt 1806 wurde auch Halle, wo Schleiermacher ab 1804 als Professor und Universitätsprediger wirkte, von französischen Truppen eingenommen und die Universität wurde geschlossen, so dass Schleiermacher finanziell in Schwierigkeiten geriet. Er wird sonst auch von den Geschehnissen im Inneren so ergriffen, dass er zu apokalyptischen Bildern in der Deutung greift und den Krieg als kosmische Erschütterung sieht, die Regeneration und Neuanfang aus sich heraussetzen soll.
Schleiermacher 1806: Krieg als kosmische Erschütterung, die Regeneration und Neuanfang aus sich heraussetzen soll
Lassen Sie uns an dieser Stelle vielleicht Schleiermacher selbst zu Wort kommen!
Gerne! Seine Predigt vom 28. Dezember 1806 beschreibt Phänomene, die uns aus den Kontexten sowohl der Corona-Pandemie als auch – zumindest medial vermittelt – des Ukraine-Krieges mit seinen Auswirkungen auf Gesamteuropa nicht unvertraut sind:
„Tausende von Familien schweben in ängstlicher Besorgniß und das Schicksal der theuersten Häupter; viele sind auf mannigfaltige Weise in ihrem inneren zerstört, nicht wenige ihres Versorgers beraubt, […]; der ruhige Wohlstand, man könnte sagen fast aller unserer Mitbürger ist auf längere Zeit hinaus gestört, die Quellen des Erwerbes versiegen auf allen Seiten je länger je mehr, die Entbehrungen nehmen zu; und so wenig das Ende der gegenwärtigen Zerrüttungen abzusehen ist, so sicher ist einem Jeden die Aussicht daß Besiz und Genuß je länger je mehr ins kärgliche und dürftige zusammenschrumpfen werden, daß die Sorge immer mehr Uebergewicht erlangen wird über die Freude.“[6]
das Wahrgenommene wird in der Predigt 1806 nicht nur politisiert, sondern im religiösen Deutungshorizont transformiert
Wie deutet Schleiermacher diese Situation?
Das Politische wird als Horizont der Deutung und als Anschluss an die Erfahrungswelt der Hörenden aufgerufen, aber es wird in der Predigt entsprechend Schleiermachers Theorie religiöser Rede nicht „politisiert“, sondern das Wahrgenommene wird im religiösen Deutungshorizont transformiert. Entsprechend wird der Krieg intensiv als Krise dargestellt, die auf der Grenze zwischen den Ordnungen angesiedelt ist. Der Krieg als Krise soll zur Selbsterkenntnis dienen, als Möglichkeit der Erziehung und Selbstbildung, um die Orientierung auf das bleibend Gute im Inneren und Äußeren auszurichten und die Verantwortung vor Gott in der Bewältigung der Krise wahrzunehmen.
Krieg als existenzielle Krise und Möglichkeit der kritischen Selbsterkenntnis
Also sind Krisen nach Schleiermacher als Züchtigung zu deuten – und Gott als Zuchtmeister?
Tatsächlich kann Schleiermacher sich an anderer Stelle auch dieses – uns heute befremdenden – Bildes, das ja auch hochambivalent und problematisch ist, bedienen. Jedoch steht die Züchtigung – im Sinne einer „erziehenden“ Gestalt der Selbst- und Gotteserkenntnis – dabei in Schleiermachers Deutungshorizont immer unter dem Primat der „göttlichen Liebe“. Reziprok hierzu ist Schleiermacher dann auch daran gelegen, den Geist der Liebe als Ausdruck des Gottesbewusstseins im Menschen, das in allem seinem Tun mitgesetzt gedacht wird, zu stärken und das korrespondierende religiöse Bewusstsein in der gottesdienstlichen Versammlung zirkulieren zu lassen.
den Geist der Liebe als Ausdruck des Gottesbewusstseins im Menschen, das in allem seinem Tun mitgesetzt gedacht wird
Inwieweit verfolgen seine Predigten damit letztlich auch ein ethisches Programm – vielleicht sogar im Sinne einer „öffentlichen Theologie“, wie sie heute vertreten wird?
Schleiermacher predigt „deskriptiv“, um, so Reiner Preul, „die Gedanken und Empfindungen des Christen, auch die ethischen Impulse und Zielsetzungen, die aus dem christlich bestimmten Bewusstsein entspringen, sowie das Bild des Erlösers als Urbild der Bestimmung des Menschen als Individuum und als Gattung“ vor Augen zu malen.[7] Der eigene Wille soll sich zunehmend mit dem Willen Gottes als Grundlage der Sittlichkeit und des Gewissens identifizieren und die Christen sollen das Gemeinwohl im Durchstehen der Krise nach den Regeln vernünftiger Sittlichkeit mitgestalten.
sich der Frage nach Sinn und Hoffnungsperspektiven mit religiöser Rede in der Öffentlichkeit stellen
Theologische Krisendeutungen sind immer ein Wagnis. Das galt zu Schleiermachers Zeiten und das gilt auch heute, wenn sich theologische Stimmen in den öffentlichen Diskurs einbringen. Angesichts ungeheuren Leids weltweit und hochkomplexer ökologischer und politischer Bedrohungsszenarien unterschiedlicher Art bricht allerdings auch die Frage nach Sinn und Hoffnungsperspektiven unvermindert auf, denen sich religiöse Rede in der Öffentlichkeit entsprechend stellen muss.
Prof. Dr. Martina Kumlehn hat seit 2007 den Lehrstuhl für Religionspädagogik an der Theologischen Fakultät der Universität Rostock inne. Sie ist Mitglied im DFG-Netzwerk „Dimensionen religionspädagogisch-hermeneutischer Forschung. Methodologische und forschungsmethodische Fundierungen“ und Sprecherin des DFG-Graduiertenkollegs „Deutungsmacht. Religion und belief systems in Deutungsmachtkonflikten“.
[1] Armin Nassehi, Unbehagen. Theorie der überforderten Gesellschaft, München 2021.
[2] Friedrich Schleiermacher, Reden über die Religion an die Gebildeten unter ihren Verächtern, KGA I/2, 325.
[3] Marie-Luisa Frick, Mutig denken. Aufklärung als offener Prozess, Stuttgart 2020.
[4] Sarah Schmidt, Kritik als Projekt der Moderne? Zur Reichweite und Aktualität der Schleiermacherschen Kritikkonzeption mit einem Blick auf Michel Foucault, in: Jörg Dierken et al. (Hgg.), Reformation und Moderne. Pluralität – Subjektivität – Kritik. Akten des Internationalen Kongresses der Schleiermacher-Gesellschaft in Halle (Saale) März 2017, Berlin 2018, 551-574, 551.
[5] Gerhard Schulze, Krisen. Das Alarmdilemma, Frankfurt a.M. 2011, 14 u. 51.
[6] Friedrich Schleiermacher, Predigt „Daß die lezten Zeiten nicht schlechter sind als die vorigen“, in: KGA III/1, 295-310, 296.
[7] Reiner Preul, Predigten, in: Martin Ohst (Hg.), Schleiermacher Handbuch, Tübingen 2017, 411-425, 415.
Interview: Tilman Asmus Fischer, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Praktische Theologie mit Schwerpunkt Homiletik, Liturgik und Kirchentheorie an der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin
Bild: Jean-Antoine-Siméon Fort (1793-1861), Schlacht bei Iena am 14. Oktober 1806 (1836) / Wikicommons