Die Krankenhausseelsorge macht mehr als nur Seelsorge. Zum Beispiel engagiert sie sich in der klinischen Ethikberatung. Sie sollte ihr ethisches Profil aber weiter ausbauen. Das fordert der Ethiker und Theologe Christof Mandry.
Mit der ethischen Beratung ist der Krankenhausseelsorge in den letzten 30 Jahren eine wichtige neue Aufgabe zugewachsen. Seelsorgerinnen und Seelsorger waren vielerorts federführend bei der Einführung von klinischen Ethikberatungen, die heute im Großen und Ganzen zum Standard im Krankenhaus gehören. Klinikseelsorge umfasst darüber hinaus noch etliche weitere ethische Aspekte – etwa die Beratung der Patient*innen vor Therapieentscheidungen.1 Doch die Klinikwelt entwickelt sich rapide weiter – nicht nur aus medizinischen, sondern auch aus wirtschaftlichen Gründen. Wie kann die Seelsorge darauf reagieren?
Die Klinikseelsorgende kann Chancen zur Weiterentwicklung nutzen
Klinikseelsorgerinnen und –seelsorger sind sich der unterschiedlichen Perspektiven von Seelsorge und Medizinethik in ihrem Tätigkeitsprofil deutlich bewusst. Eine aktuelle Interview-Studie zeigt zudem, dass sie gegenwärtig einen hohen Bedarf an Selbstvergewisserung haben.2 Dafür sind zwei Ursachen auszumachen: Klinikseelsorgende nehmen den Ökonomisierungsdruck im Krankenhaus wahr, der sich auch auf ihre seelsorgliche und ihre medizinethische Tätigkeit auswirkt. Außerdem zeichnet sich unter dem Oberbegriff spiritual care eine neuartige Vielfalt an Modellen und Konzepten für Seelsorge im Krankenhaus ab – auch weil etliche Diözesen und Landeskirchen angesichts des Nachwuchsmangels in Pastoralberufen kaum noch neue MitarbeiterInnen für die Klinikseelsorge bereitstellen.
Beides – die Ökonomisierung in der Krankenversorgung und die Diskussion über spiritual care – stellt jedoch die Klinikseelsorge nicht nur vor Herausforderungen, sondern birgt auch Chancen für sie. Was hierbei fruchtbar gemacht werden kann, ist genau das Profil aus Seelsorge und Ethik, das die Klinikseelsorge auszeichnet.
Die Ökonomisierung des Krankenhauses ruft neuen Ethik-Bedarf hervor
Seitdem Krankenhäuser die Patientenversorgung nicht mehr nach dem Kostendeckungsprinzip sondern nur noch nach Fallpauschalen abrechnen können, müssen sie in ganz anderer Weise kosteneffizient geführt werden. Seelsorgerinnen und Seelsorger nehmen wachsam den Personal- und Kostendruck im Krankenhaus sowie einen schleichenden Kultur- und Mentalitätswandeln wahr: Aus der personalen Arzt-Patienten-Beziehung wird ein vertragliches Dienstleistungsverhältnis, die wirtschaftliche Effizienz überlagert medizinische und pflegerische Qualitätsstandards, Mitarbeitende leiden darunter, anhaltend ihrem Ethos zuwider handeln zu müssen. Angesichts dieser Probleme sehen Seelsorgende sich in der Verantwortung: Wie können sie auf diese Prozesse in ihren Kliniken reagieren? Dafür benötigen sie organisations- und institutionenethische Kompetenzen, die sie aufgrund ihrer Ausrichtung am individuellen Patienten bislang häufig nicht haben – obwohl sie vielerorts bereits organisationsverändernd tätig werden, etwa indem sie neuartige Gesprächsformate wie Ethikcafés oder Stationskonsile initiieren.
Der Ethikbedarf „von unten“ trifft auf ein Ethik-Interesse „von oben“
Krankenhausleitungen und Trägergesellschaften entdecken interessanter Weise ebenfalls die Notwendigkeit einer Organisations- und Unternehmensethik. Im Wettbewerb um qualifiziertes Personal spielen Betriebsklima und Mitarbeiterzufriedenheit eine große Rolle, im Wettbewerb um Patienten können Ethik-Zertifizierungen und die nachweisbare Berücksichtigung der ganzheitlichen, eben auch religiösen und spirituellen Patientenbedürfnisse vorteilhaft sein. Die meisten Klinikseelsorgenden sind eher kritisch gegenüber Leitbildprozessen und anderen Ethik-Projekten „von oben“ eingestellt. Sie befürchten eine Instrumentalisierung der Ethik zu wirtschaftlichen Zwecken – sie befürchten zusätzlich eine Verzweckung der Seelsorge, wenn sie sich selbst darin einbinden lassen. Dennoch reagieren sie auf die Ökonomisierung des Gesundheitswesens nicht bloß ablehnend, sondern auch mit der Frage nach ihrer eigenen Organisationsverantwortung. Wie aber sollen sie ihre Rolle in diesem Zusammenhang konstruktiv-kritisch, ihrem seelsorglichen Ethos entsprechend weiterentwickeln? Offenbar fehlt es gegenwärtig noch an klaren Vorstellungen und Konzepten. Doch im Grenzgänger-Profil der Seelsorge und in der Fähigkeit zum Perspektivenwechsel sind wichtige Ressourcen bereits erkennbar.
Grenzgängertum und Rollensouveränität
Insofern Klinikseelsorgende oftmals keine Klinikangestellten sind, sondern von den Kirchen entsandt werden, sehen sie sich als Grenzgänger: Sie sind in der Klinik tätig, aber nicht der Geschäftsführung unterstellt. Dies gibt ihnen eine große Unabhängigkeit und die Freiheit, sich auch kritisch zu Vorgängen und Personen zu stellen. Auf der anderen Seite nehmen sie die Nachteile dieser Position wahr: Ohne volle Einbindung in die Klinikabläufe sind sie auch von etlichen Prozessen und Informationen abgeschnitten. Sie müssen sich ihren Zugang dazu in der Regel durch persönlichen Einsatz erarbeiten. Die Seelsorgerinnen und Seelsorger sehen ihre prekäre Stellung „zwischen Innen und Außen“ dennoch eher als Freiheitposition mit der Chance, im hierarchischen Krankenhaussystem unbeeindruckt Stellung zu beziehen.
Klinikseelsorge in Zeiten des ökonomisierten Gesundheitswesens – darüber müssen wir nachdenken!
Dies könnte eine Ausgangsposition sein, um Fragen der Organisation – etwa des Personal und Resourceneinsatzes, des Kommunikations- und Führungsstils – kritisch wahrzunehmen und an Veränderungen mitzuwirken. Da Klinikseelsorgende eine hohe Sensibilität für Benachteiligungen, für Unausgesprochenes sowie für erforderliche Perspektivenwechsel haben, bringen sie eine weitere wichtige Voraussetzung mit. Denn das souveräne Wechseln zwischen unterschiedlichen Perspektiven und Rollen gehört zu ihrem Repertoire als Klinikseelsorgende. Es würde sich daher lohnen, über Aufgabe, Profil, Chancen und erforderliche Kompetenzen von Klinikseelsorge unter den Umständen des ökonomisierten Gesundheitswesens weiter nachzudenken. Die Befürchtung, die Sorge um den „Patient Krankenhaus“ müsste auf Kosten der Seelsorge an den Patientinnen und Patienten gehen, denkt jedenfalls zu kurz. Denn eine grundlegende theologische Einsicht des 20. Jahrhunderts lautet, dass dem Heil der Menschen nicht ohne die Arbeit an den defekten Umständen, unter denen diese Menschen leben, gedient werden kann.
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Prof. Dr. Christof Mandry lehrt Moraltheologie und Sozialethik an der Goethe Universität Frankfurt a.M.
Bild: Tim Reckmann – pixelio.de
- Auf empirischer Basis hat dies die grundlegende Studie von Thorsten Moos, Simone Ehm, Fabian Kliesch und Julia Thiesbonenkamp-Maag: Ethik in der Klinikseelsorge. Empirie, Theorie, Ausbildung, Göttingen 2016, herausgearbeitet. ↩
- Vgl. Christof Mandry, Christian Sperneac-Wolfer, Gwendolin Wanderer: Klinikseelsorgerinnen und Klinikseelsorger als medizinethische Akteure. Profil und Kompetenzen. Ergebnisse einer partizipativen Interview-Studie, Frankfurt/Main: 2019. Informationen zu Hintergrund und Design der Studie sind auf der folgenden Website zu finden: www.uni-frankfurt.de/klinikseelsorge-studie. Die folgenden Überlegungen beziehen sich auf Studienergebnissen und versuchen von ihnen aus weiterzudenken. ↩