Eine Bestimmung christlicher Spiritualität, in der Himmlisches nicht von Irdischem distanziert wird, skizziert Britta Müller-Schauenburg ausgehend von Simone Weil.
Die französische Philosophin Simone Weil setzt im Titel ihres Buches „Schwerkraft und Gnade“[1] zwei Begriffe nebeneinander, die keinem gemeinsamen Sprachspiel angehören: die „Schwerkraft“ entstammt der Physik, die „Gnade“ der Theologie. Man ahnt trotzdem, dass ein Gegensatz bezeichnet werden soll. Das liegt an einem Muster, das der Struktur vieler Weltbilder zugrunde liegt: auf einer vertikalen Bedeutungsskala ist unten „schwer“ und oben „leicht“, unten „dunkel“ und oben „hell“, unten eher „böse“ und oben eher „gut“ positioniert, kurz: oben der Himmel und unten die Erde. Dazwischen streckt sich das Leben aus, indem es der Schwerkraft zu entkommen sucht – sei sie physischer oder moralischer Art. In dieser Linie kann man auch christliche Spiritualität recht gut zum Beispiel als einen Weg von den irdischen Leidenschaften zu den höheren Fähigkeiten und Möglichkeiten der menschlichen Seele beschreiben.
Kritik an
Himmel-Erde-Dichotomie
So wird Spiritualität tatsächlich auch oft gesehen. Obwohl christlicher Glaube im Grunde dagegen ansteht, den Himmel in Opposition zur Erde zu denken, geschah das von Anfang an regelmäßig. Vielleicht ebenso oft wurde das aber wiederum auch kritisiert oder kritisch weitergedacht. Der „Platonismus“, stark verkürzt, wurde negativ zum Vorwurf und Gegner und, auf der anderen Seite, zum Erkennungszeichen guter theologischer Gesinnung.
Ohne Verletzung
der Naturgesetze
Simone Weil verstand „Schwerkraft“ metaphorisch, als einen Mangel an freiem Leben, den sie mit Gottesferne verbindet: „[W]enn ein Mensch sich von Gott abkehrt, liefert er sich einfach der Schwerkraft aus. Er glaubt dann noch zu wollen und zu wählen, aber er ist nur noch eine Sache, ein fallender Stein“[2]. Gnade hingegen ermöglicht, „ohne Verletzung der Naturgesetze auf dem Wasser zu wandeln“[3], wie sie mit Blick auf die Erzählung von Jesu Gang über das Wasser (Mt 14,22-32) formuliert. Die wichtigen vier Worte erinnern entfernt an Thomas von Aquin (Gratia supponit naturam – Gnade hebt die Natur nicht auf): ohne Verletzung der Naturgesetze. Weil geht es nicht um ein Absehen von der Materie und der Konkretion. Das freie Leben, von dem sie spricht, verdankt sich vielmehr, umgekehrt, einer tiefinneren Einwilligung in die Naturgesetze, als Gehorsam gegenüber Gott. Ein Geschöpf kann sich, so sagt sie, diesem Gehorsam ohnehin niemals entziehen. Ein Mensch jedoch kann darein einwilligen oder nicht. Und es verändert sich mit dieser intimen, geschenkten (nicht „herstellbaren“) Einwilligung alles. Sie ist ein Begehren, ein innerstes commitment, ein Engagement. Das Leben in der Gnade geht Hand in Hand mit der engagierten Einwilligung in die Notwendigkeit, die bei Simone Weil ist nicht – wie in den Augen Friedrich Nietzsches – fatal ist, sondern liebevoll, interessiert und sensibel.
als Arbeiterin in Fabriken
Weil folgte dem platonischen Erkenntnisweg zur „Sonne selbst“, zum Guten, indem sie als Arbeiterin in Fabriken ging, um an sich selbst die Schwerkraft studieren, welche bewirkte, dass Menschen am Fließband seelisch verelenden.[4] Ihr Elend, so erkannte sie, ergibt sich nicht aus der groben Arbeit an einem groben Metall, sondern aus einem spezifischen Verhältnis zur – eigenen – Zeit. Sie erdachte und propagierte eine andere Organisation der Fabrik, damit Arbeiterinnen möglich würde, was sie als Abhilfe für dieses Elend ansieht: den Kopf zum Himmel zu heben. Der „Himmel“ ist hier, ebenfalls metaphorisch, die Richtung Gottes, in die Menschen sich auch beim Arbeiten un-versklavt orientieren und bewegen können. Die Begriffe, mithilfe derer sie die Richtung beschreibt, sind klassische Gotteskonzepte: Sinn, Ganzes, Schönheit. Sie führen bei ihr aber alle nicht von der Erde weg, sondern gewissermaßen in die Erde hinein.
Denken und beten
kann physisch werden.
Das ist auch christlich: Das Evangelium vom menschgewordenen Gott hat das Irdische als einen bevorzugten Ort der Wirksamkeit des Guten kundgetan. Auch das Denken Simone Weils begann mit Handarbeit, umfasste ihr gesamtes Fühlen und Begreifen und mündete in Texte und solidarische Praxis. Ließe sich der heutigen Zeitgenossen oft kaum mehr zugängliche Begriff „Gnade“ gegen den des „Denkens“ eintauschen? Theologisch ist das unmöglich. Dies vorausgesetzt: Mit Simone Weil ließe sich wohl sagen, dass, wenn sich Denken engagiert im Irdischen auf Materie und Notwendigkeit bezieht, es Gnade entfalten kann. Denken ist detaillierter und transparenter als die der Seele selbst geheimnisvoll bleibenden Einwilligung. Aber es ist nicht ihr Gegenteil. Wirklich Denken ist – heute vielleicht wichtig zu betonen – etwas anderes als eine geheimnislose Rechenleistung, die darin besteht, Informationen intelligent zu verknüpfen. Und es kann, wie alles Beten und Tun und wie die Philosophie bei Simone Weil, gewissermaßen physisch werden.
Der Himmel in Händen
der technischen Berufe.
In einer Situation der Erdgeschichte, wo wohl künftiges Leben in Freiheit und Gerechtigkeit und das Wohlergehen vieler Menschen angewiesen sind auf Veränderungen der Energiewirtschaft und des Verbrauchens materieller Güter, liegt der Himmel auf Erden in den Händen sehr technischer Berufe. Die Methoden, die das Gute bewirken können, sind die Methoden von Ingenieuren und Ingenieurinnen aller Art asketischer Technologien.[5] Sie können und müssen alles retten. Der Theologin bleibt nur die Freude, das aussprechen zu dürfen, begleitet vom Schmerz, beruflich verflixt wenig beitragen zu können. Oder doch nicht? Die wichtigsten Kräfte, die dieses Gute ermöglichen, sind dabei die (politisch gelenkten oder frei eingesetzten) Kräfte der Verbraucher.
Spiritualität am Griff
des Einkaufswagens?
Spiritualität konkretisiert sich (oder nicht) dafür in Baustellen, Softwareprogrammierung, Geldanlagen, Mobilität, Shopping. Die entscheidenden Momente sind oft gerade solche, wo man Spiritualität vielleicht weit entfernt wähnt, außerhalb des im engeren Sinne sakramentalen Bereichs. Man hat dabei zum Beispiel den Bildschirm vor Augen oder den Griff des Einkaufswagens in der Hand, und vielleicht nicht immer Ikone und Rosenkranz. Man tippt und kauft entscheidend.
Kultur eines wilderen Gartens
Ein weiteres Irdisches ist „Erde“ im wörtlichen Sinne – jene, die sich unter die Fingernägel setzt, was lange verpönt war. Wer jung genug ist und die Möglichkeit hat, kehrt zurück zur Kultur eines wilderen Gartens, oder beginnt eine Landwirtschaft, die nicht tötet, oder leistet andere Sorgearbeit, die über Generationen ausgegrenzt war, wieder mit den eigenen Händen. Dabei wird Denken ganz sinnlich. Auch das ist ein Weg in den Fußspuren der frühen Protagonisten christlicher Spiritualität: den Anachoreten, die sich bald auch in Gemeinschaften an ein Stück Wüste zur Pflege banden, für Gott, im atmenden Rhythmus von Arbeit und Gebet.
Schärfung des Gottes-Denkens
am Transzendenzbegriff.
Ist gerechtfertigt, im Blick auf diese irdisch geprägte Spiritualität schon vom Gehorsam gegenüber „Naturgesetzen“ zu sprechen? Im wissenschaftlichen Sinne wahrscheinlich nicht, aber es lohnt, die Diskussion dieses Begriffs anzuschauen und festzustellen, dass sogar die Schwerkraft umstritten ist.[6] Kostbar am zugehörigen Naturbegriff ist die Art seiner Erforschung, durch Analyse und Beobachtung, offen für Irritation. Die Physis diktiert, wie das Gesetz aussieht, nicht umgekehrt. Ingenieurinnen und Meteorologinnen sind das gewohnt – aber auch Gärtnerinnen. Ihre Diskurskultur ist partizipativ und mit Demut verbunden. Das ist anregend und hilfreich. Als Theologin habe ich die Schärfung des Gottes-Denkens am Transzendenzbegriff erfahren und rede mit dem Votum für „Erde“ oder „Physis“ gar nicht einem Christentum das Wort, das jede Alterität gegenüber dem Immanenten negiert. Gerade deshalb aber sehe ich Ideen und Praktiken, die aus einer Abgrenzung und Distanzierung gegenüber konkretem, gefährdetem und leidendem Leben entstanden sind, nicht im Hauptbestand christlicher Spiritualität des 21. Jahrhunderts.
Was Simone Weil für das 20. Jahrhundert betonte, gilt im 21. Jahrhundert erst recht: Spiritualität ist nicht eine religiöse Rahmung einer an sich gottlosen Tätigkeit.[7] Es braucht eine Transformation des gesamten physischen Lebens. Sie wird (hoffentlich) gestaltet von einer Menschheit, die nicht der Schwerkraft unterliegt und doch der Erde zugewandt ist während sie nach dem Himmel schaut.
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Titelfoto: Spencer Scott Pugh / unsplash.com,
[1] Simone Weil, Schwerkraft und Gnade, München: Kösel 1952.
[2] Simone Weil, Das Unglück und die Gottesliebe. Mit einem Vorwort von T.S. Eliot, München: Kösel 1953, S. 124.
[3] Ebd.
[4] Siehe etwa: Simone Weil, Fabriktagebuch und andere Schriften zum Industriesystem, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1978, und neu im Deutschen: Simone Weil, Von der Schwierigkeit, den Kopf zum Himmel zu heben, Frankfurt/Main: Westend 2023.
[5] Damit ist ausdrücklich nicht naiv Wachstum der alten Technologien im Sinne der Effizienzsteigerung gemeint, sondern eine andere Art des Umgangs mit den Dingen, vgl. z.B.: Hans Rusinek, Work Survive Balance. Warum die Zukunft unserer Arbeit die Zukunft unserer Erde ist, Freiburg i, Brsg.: Herder 2023.
[6] Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Naturgesetz (Abruf 20.05.2024)
[7] Simone Weil, Von der Schwierigkeit, den Kopf zum Himmel zu heben, Frankfurt/Main: Westend 2023, 96.