Die anhaltenden Proteste in Belarus beschäftigen Jolande Berberich. Es ist ihre Generation, die in der Opposition auf die Straße geht und sich dort bewusst der Staatsgewalt aussetzt. Mit Judith Butler fragt sie nach der Möglichkeit von Identifizierung mit dem Schicksal anderer Menschen und den Rastern der Wahrnehmung, die sowohl Nähe als auch Ausschluss bewirken.
Ich hatte einen Traum. Ich spiele Klavier. Es sind einfache Stücke, vierstimmig. Jemand hört mir dabei über Telefon zu. Irgendwann verstehe ich, dass die Menschen am anderen Ende der Leitung Menschen in Belarus sind. Ich spiele also für Menschen in Belarus. Ich bin am Klavier keine Virtuosin und immer wieder schleicht sich ein Fehler ein, aber ich spiele mit Hingabe.
Am nächsten Morgen wache ich auf und denke als erstes an die Nachrichten, die ich am Abend zuvor gesehen habe. Junge Menschen werden von Maskierten von der Straße gezerrt, in Kleinbusse gesteckt und verschleppt. Junge Menschen finden sich wieder in Gefängnissen, werden geschlagen, misshandelt, gefoltert. Junge Menschen, die für ihre Rechte und die Rechte anderer auf die Straße gehen.
Der Tanz der Menschen in Belarus ist fragil.
Dieses Jahr bin ich 30 Jahre alt geworden und ich glaube das, was mich an diesen Nachrichten am meisten berührt, ist die Tatsache, dass das meine Generation ist, die die Opposition anführt. Wir tragen die gleichen Frisuren, trinken den gleichen Cappuccino und tanzen zur gleichen Musik. Nur, dass unser Tanz ausgelassen und sorglos ist. Der Tanz und der Gesang der Menschen bei den Demonstrationen in Belarus scheint ausgelassen und freudig. Aber er ist verdammt fragil. Während die einen noch tanzen, werden die anderen verhaftet und bewegungsunfähig gemacht.
Tänze werden unterbrochen
Die Tänze vieler junger Menschen meiner Generation werden jäh unterbrochen. Die Tänzer*innen in Brasilien werden von Bolsonaro gestört, der nicht vor Menschenrechtsverletzungen zurückschreckt. Die Tänzer*innen in Beirut von einer großen Explosion, die die Stadt in Schutt und Asche legt. Von Tänzer*innen in Moria wage ich nicht zu schreiben…
Nur mein Tanz bleibt frei, ungestört und sorgenlos.
Und dennoch. Irgendwas berührt mich zutiefst. Die Verletzbarkeit der jungen Menschen in Belarus, die so offensichtlich gezeigt wird, erschüttert mich und lässt mich in meiner kleinen heilen Welt in Süddeutschland aufhorchen. Was passiert da, dass mich die Geschichten von Swetlana Tichanowskaja und den vielen Frauen der Oppositionsbewegung nicht kalt lassen? Anders als Bilder von Protestbewegungen in Venezuela, Kamerun oder Hongkong. Irgendwie scheinen diese aus einem Raster zu fallen, das dafür sorgt, dass ich mich mit ihnen identifiziere.
Welche Menschenleben sind betrauernswert?
Mit derartigen Mechanismen der Priorisierung, die darüber entscheiden, welches Schicksal mich berührt und welches mich kalt lässt, befassen sich unter anderem Gesellschaftswissenschaftler*innen. Eine, die man in diesem Zusammenhang vielleicht nicht auf den ersten Blick vermutet, ist Judith Butler. In der politischen Essaysammlung Gefährdetes Leben[1], fragt sie nach den Bedingungen von Moralität und Verantwortung. Dies spitzt sie zu auf die Frage, welche Menschenleben betrauernswert sind und welche dagegen in unseren Rastern als nicht betrauernswerte Subjekte gelten. Wenn also irgendwo auf der Welt Menschen um die Dreißig Gewalt und Willkür ausgesetzt sind, warum schaffen es dann nur einige von ihnen in die Tagesthemen beziehungsweise in meine nächtlichen Träume?
Möglichkeiten auf Angst und Trauer
zu reagieren
Judith Butlers denkerischer Ausgangspunkt ist die Erfahrung von Gewalt. Gewalt ist für sie eine „Berührung der schlimmsten Art“ (S.45). In der Erfahrung von Gewalt sind wir ohnmächtig dem oder der Anderen ausgesetzt, was bis zum Tod führen kann. Dieser Gefahr sind grundsätzlich alle Menschen ausgesetzt, nicht nur Belarus*innen. Dennoch steigt dort der Grad der Verwundbarkeit, wo „Gewalt eine Lebensweise ist und die Mittel zur Sicherung der Selbstverteidigung begrenzt sind“ (S.46). Um die ethische Dimension, die aus diesen Gewalterfahrungen resultiert, zu verstehen, macht Butler einen denkerischen Bogen. Sie setzt bei den Terroranschlägen in den Vereinigten Staaten am 11. September 2001 an. In ihnen zeigt sich nach Butler eine „schwer erträgliche[…] Verwundbarkeit“ (S.36). Durch die Attentate wird für Judith Butler deutlich, „daß es da draußen andere gibt, von denen mein Leben abhängt, Menschen, die ich nicht kenne und vielleicht niemals kennen werde“ (S.36). Demnach offenbarten die Terroranschläge Grundlegendes: Abhängigkeit von anderen Menschen. Eine Möglichkeit, auf diese Abhängigkeit zu reagieren, ist nach Butler Angst und Trauer. In Vergeltung und militärischer Gewalt, wie sie jedoch durch George W. Bush als damaligem US-Präsidenten propagiert und ausgeführt wurde, sieht sie keine notwendige Reaktion.
In Verlusterfahrungen zum Wir finden
Vergeltung und militärische Gewalt trennen uns vom Rest der Gemeinschaft. Die Einsicht in unsere grundlegende Verletzbarkeit jedoch, kann uns zusammenbringen, so Butlers These. Dabei geht sie keineswegs davon aus, dass es eine menschliche ethische Basis gibt, die von allen Menschen geteilt wird. Dennoch besteht für sie die Möglichkeit, angesichts der Erfahrung des Verlusts „an ein ‚wir‘ zu appellieren“ (S.36), da jeder Mensch eine Vorstellung davon hat, was es bedeutet, einen Menschen verloren zu haben. Verlusterfahrungen sind es also, die uns Menschen zu einem Wir formen können. Wir Menschen sind verbunden in unserer sozialen Verwundbarkeit, wobei unsere Körper eine besondere Rolle spielen. Den menschlichen Körper versteht sie „als Ort des Begehrens und der physischen Verwundbarkeit, als Ort einer öffentlichen Aufmerksamkeit, der durch Selbstbehauptung und Ungeschütztheit zugleich charakterisiert ist“ (S.37).
Die Antwort auf Selbstbewusstsein: Gewalt
Selbstbehauptung und Ungeschütztheit nehme ich wahr, wenn ich die jungen Frauen* sehe, die in Belarus auf die Straße gehen und mit Tritten, Schlägen und Fesselungen zu Boden gebracht werden. In dieser Spannung von Selbstbewusstsein und Willensstärke und Verletzbarkeit wissen sich die Demonstrant*innen. Die Antwort, die sie bekommen, ist Gewalt. Ihre Verwundbarkeit wird gezielt genutzt, um ihre Anliegen zu zerschlagen.
Es könnte auch eine andere Antwort geben. Jenseits von Gewalt.
Doch stelle ich mir immer noch die Frage, warum ich insbesondere von der Verwundbarkeit der Belarus*innen angesprochen werde.
lediglich gruppenbezogene Binnensolidarität
Judith Butler bietet mir eine mögliche Erklärung. Sie fragt danach, warum George W. Bush Amerika als besonders verletzt darstellt, jedoch keinerlei Skrupel hat, einen Krieg zu beginnen, der unzählige, unschuldige Menschen tötet. Er fragt nicht danach, welche Menschen dadurch wiederum Gewalt erfahren. Seine Solidarität bleibt eine gruppenbezogene Binnensolidarität, die sich von Außenstehenden separiert und für die Verwundbarkeit der Anderen blind bleibt.
Das Menschliche nicht bloß
auf Vertrautheit und Nähe aufbauen
Es sind Mechanismen der Dehumanisierung, die hier wirken, so Butler. Sie entstehen dort, wo Menschen in kein Raster des Menschlichen passen, was die Ursache „für die physische Gewalt [ist], die in einem gewissen Sinne die Botschaft der Entmenschlichung überbringt, die in der Kultur längst ihre Wirkung tut“ (S.51.). Wir müssen also die Frage nach Rastern stellen, die hier wirksam sind, und die Grenze dessen markieren, was wir als Verlust erfahren oder auch nicht. Die Raster, die darüber entscheiden, ob die Gewaltausübung eine Meldung in den Nachrichten wert ist oder nicht. Wie kann ein Verlust betrauert werden, „wenn jemand umkommt und diese Person ein Niemand“ (S.49) ist? Andersherum hingegen ist es leicht, jemanden zu betrauern, mit jemand anderem zu fühlen, wenn diese Person meine Freundin sein könnte und den eigenen Lebensstil teilte. Dann werde ich nicht konfrontiert mit „der Nähe des Unterschieds“ (S.56), die mich zwingt, neue Beziehungen der Identifikation aufzubauen und meine Vorstellung davon zu erneuern, was es heißt, zu einer Gemeinschaft von Menschen zu gehören, in der nicht immer gemeinsame epistemologische und kulturelle Grundlagen unterstellt werden können. Klar, ich kann mich berühren lassen von dem Schicksal der Menschen in Belarus. Butler will sich auf einer solchen Vorstellung des Menschlichen, die durch Vertrautheit und Nähe heraufbeschworen wird, jedoch nicht ausruhen. Eine solche Vorstellung versteht sie lediglich als Beruhigung. Sie stellt die Frage nach dem Preis, der gezahlt werden muss, wenn das Vertraute zum Kriterium erhoben wird, wonach ein Menschenleben betrauernswert ist. Ihr Blick geht tiefer, sie will die Normen freilegen, die unsere Wahrnehmung von Verletzbarkeit einschränken. Es sind die grundsätzlich existierenden Normen der Anerkennung, von der unsere Wahrnehmung von Verletzbarkeit abhängig ist. Wir brauchen einen Rahmen für unsere Wahrnehmung und gleichzeitig wird dieser Rahmen zur Vorbedingung für das, was wir als menschlich definieren. Also gilt es die Normen zu hinterfragen, die den Rahmen festlegen. Die Normen, die wir brauchen, deren Geltung wir wollen, um Verletzbarkeit grundsätzlich wahrnehmbar werden zu lassen und anzuerkennen. Die Forderung nach Anerkennung bedeutet „ein Werden für sich zu erfragen, eine Verwandlung einzuleiten, die Zukunft stets im Verhältnis zum Anderen zu erbitten“ (S. 62), wodurch das eigene Sein aufs Spiel gesetzt wird. Wenn ich die Frage der Verantwortung daher isoliert von anderen betrachte, „habe ich mich aus dem Beziehungsgefüge entfernt, welches das Problem der Verantwortung von Anfang an strukturiert“ (S. 64).
Verwiesenheit auf die Anderen
Welche Schlüsse sollten wir aus unserer Verwundbarkeit ziehen? Welche Chance entsteht, wenn wir unsere Verwundbarkeit mit der der Anderen als ethisch verbunden begreifen? Wie können wir Menschen aus der Unsichtbarkeit holen? Wie die Raster enttarnen, die sie unsichtbar sein lassen? Was passiert, wenn wir uns dem Risiko aussetzen, unsere Identität aus der Beziehung zu den Anderen, den Unbekannten zu entwickeln? Verleugnen wir uns schließlich selbst, wenn wir nicht anerkennen, dass wir in unserer Identität bereits immer auf die Anderen verwiesen sind?
Existentielle Verbundenheit mit allen Menschen als Chance
Die klaffenden Wunden der Menschen in Belarus führen mir meine eigene Verwundbarkeit vor Augen und die Fragilität meines Lebens. Ich spiele im Traum Klavier für die anderen. Darin mag sich ein besonders ausgeprägtes Helfer*innensyndrom oder irgendetwas anderes zeigen, was mensch psychoanalytisch zerlegen könnte. Egal. In jedem Fall zeigt es auch, dass ich mich identifiziere und dass mich irgendetwas davon abhält, mich mit allen jungen Menschen in Protestbewegungen zu identifizieren. Judith Butler verweist auf die kulturellen Schranken und Raster, die unser Mitgefühl, unsere Trauer bedingen, aber auch auf die Chance, die entsteht, wenn wir die existentielle Verbundenheit in der Verletzbarkeit mit allen Menschen erkennen.
Wenn eines Tages alle zusammen tanzen werden
Ich tanze. Heute nicht, aber es werden wieder Tage kommen, an denen ich mit Freund*innen in den Morgen tanze. Ein zynischer Tanz? Meine einzige Chance? Nicht, wenn wir anfangen, die Raster zu zerlegen, die uns abhalten, Menschenleben als solche wahrzunehmen. Ich glaube, der Zynismus verschwindet auch angesichts der Hoffnung, dass eines Tages alle zusammen tanzen werden, die jetzt daran gehindert werden. Frei, ungestört und sorglos. Und jemand dazu Klavier spielt. Jemand, die es wirklich gut kann.
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Autorin: Jolande Berberich, studierte Katholische Theologie in Freiburg im Breisgau und arbeitet in der Kirchengemeinde Villingen als Pastoralassistentin.
Photo: Olya Shnarkewich / unsplash.com
Quellen: Butler, Judith, Gefährdetes Leben. Politische Essays. Übersetzt von: Karin WÖRDEMANN, Frankfurt am Main 42012. Die Originalausgabe erschien unter dem Titel Precarious Life. The Politics of Mourning and Violence, Verso, London 2004.
[1] Butler, Judith, Gefährdetes Leben. Politische Essays. Übersetzt von: Karin WÖRDEMANN, Frankfurt am Main 42012. Die Originalausgabe erschien unter dem Titel Precarious Life. The Politics of Mourning and Violence, Verso, London 2004.