Noch zwei Tage bis zur Nationalratswahl in Österreich: Angesichts einer zunehmend polarisierten Gesellschaft erinnert Herbert Beiglböck, Direktor der Caritas Steiermark, an die vorpolitischen Grundlagen des Staates und an die Aufgabe der Kirchen.
„Politik und Religion sind zwei offenkundig unterschiedliche, aber jeweils bedeutende, formell oder informell mächtige, rechtlich oder faktisch bindende Gestaltungsansprüche gegenüber unterschiedlichen Gesellschaften. Schon deswegen können Politik und Religion einander nicht gleichgültig sein und sie sind gewiss nicht identisch. Wenn man nach dem jeweiligen Kern von Religion und Politik fragt, könnte die Antwort lauten: Religionen handeln von Wahrheiten, Politik von Interessen. Interessen sind nicht wahrheitsfähig und Wahrheiten sind nicht mehrheitsfähig. Das allein stellt sicher, dass sich Politik und Religion mit ihren jeweiligen Gestaltungsansprüchen stets in einem unaufhebbaren Spannungsverhältnis befinden“, so der ehemalige deutsche Bundestagspräsidenten Norbert Lammert in einem Artikel in „Stimmen der Zeit“ vom Beginn des Jahres 2018.
Politik und Religion: ein Spannungsverhältnis
Dass Staat und Kirche getrennt sind, bedeutet demnach nicht, dass sie nicht aufeinander einwirken können – im besten Sinne entsteht aus dem von Lammert beschriebenen Spannungsverhältnis etwas für unsere Gesellschaft Fruchtbares. Blickt man mit der Brille dieses Zitates des engagierten Katholiken aber auf die aktuellen Wahlauseinandersetzungen in Österreich, wird man mit einem gewissen Bedauern festhalten müssen, dass dies hierzulande derzeit kaum gegeben ist.
Die politischen Parteien zeigen vor der bevorstehenden österreichischen Nationalratswahl deutlich, dass ihre Programme von Interessen bestimmt sind. Ihre inhaltlichen Positionen erweisen sich dementsprechend häufig als „situationselastisch“. Deutlich zeigt sich das an der Veränderung der Themen im Vergleich zum Wahlkampf 2017. Kaum jemand hätte sich noch vor zwei Jahren vorstellen können, dass Klima und Umweltschutz in einem Nationalratswahlkampf derart dominant sein würden. In der Wissenschaft und in weiten Teilen der Gesellschaft ist unbestritten, dass die Klimaveränderungen zu den großen Herausforderungen unserer Zeit gehören und dass es zukunftsfähige, nachhaltige Lösungen für die Reduktion der Erderwärmung braucht.
Parteien orientieren sich am Stimmungsbild.
Dies war jedoch auch schon 2017 bekannt, nur hat sich seither durch die Aktivitäten von „Fridays for Future“ und durch die Erfahrungen weiter zugespitzter Wetterphänomene die Wahrnehmung der Gesellschaft deutlich verändert. Vor diesem Hintergrund orientieren sich nun auch die heimischen Parteien mit angepasster Themenlage am neuen Stimmungsbild. Ähnliches gilt für Pflege- und Gesundheitsthemen, die mittlerweile deutlich stärker in das Bewusstsein der Gesellschaft gerückt sind und erst dadurch auch zum Interesse der politischen Akteure wurden.
Was „wahr“ ist, scheint dagegen kaum noch relevant.
Deren wichtigstes Ziel ist es, in dieser Spur Zustimmung unter den Wählern und Wählerinnen zu finden. Was im Sinne von Lammert „wahr“ ist, scheint im Gegensatz dazu kaum noch relevant. So werden andere grundlegende Zukunftsthemen wie die Gestaltung der Bildungspolitik, Kunst und Kultur, die Weiterentwicklung des Sozialstaates, die globale Verantwortung oder die europäische Entwicklung derzeit kaum aufgegriffen, weil sie eben nicht Gegenstand der gegenwärtigen Interessenslagen sind.
Hier müssen es sich die Kirchen im Rahmen eines zivilgesellschaftlichen Diskurses wieder stärker zur Aufgabe machen, eine „Wahrheit“ zu vertreten, die eben gerade nicht durch Interessen geleitet ist. Das eingangs erwähnte Spannungsverhältnis wieder zu beleben, liegt demnach weniger an den politischen Parteien, die ja im Sinne Lammerts ihre Interessen vertreten, sondern vielmehr an einer fehlenden gesellschaftlichen Positionierung der Kirchen und der Religionen. Indem sie kaum grundlegende gesellschaftspolitische Positionen benennen, leisten sie einen wesentlichen Beitrag zur Verarmung des gesellschaftlichen Diskurses und öffnen somit den Raum für weitgehend inhaltsarme, marketingorientierte Wahlauseinandersetzungen.
Es fehlt eine gesellschaftliche Positionierung der Kirchen.
Dabei gibt es gerade in der derzeitigen Entwicklung der Welt wichtige Positionen aus der katholischen Soziallehre, die in der aktuellen Debatte unverzichtbar sind. Gerade in einer globalisierten Welt, die durch die offene Kommunikation und weitgehend freie Handelswege zusammengewachsen ist, ist der Grundbegriff der Solidarität, wie er in der katholischen Soziallehre definiert ist, integral für die Ordnung des Zusammenlebens in unserer Gesellschaft. Solidarität im christlichen Verständnis gilt immer allen Menschen und beruht auf der gleichen und für uns Christen nicht verhandelbaren Würde jedes Einzelnen und jeder Einzelnen. Daher gibt es keine Unterscheidung nach Leistung, Herkunft, Religion, Geschlecht, alt oder jung.
Solidarität im christlichen Verständnis gilt allen.
Vor diesem Verständnis von Solidarität gilt es zu fragen, wie Parteien politische Rahmenbedingungen schaffen wollen, damit gutes Leben für möglichst viele Menschen in Österreich, aber auch weltweit, gefördert wird? Welche Vorstellungen gibt es für Menschen, die keinen Zugang zum Arbeitsmarkt mehr finden, weil sie Handicaps haben, den Anforderungen nicht entsprechen oder den Belastungen nicht standhalten können? Welchen Beitrag soll Österreich in Zukunft für die Stabilisierung und Entwicklung der Länder in Afrika leisten und wie wollen wir die Integration jener Menschen stützen, die aus anderen Ländern zu uns gekommen sind?
In Österreich erleben wir eine Verschärfung der politischen Auseinandersetzung und eine zunehmende Polarisierung der Gesellschaft. Gleichzeitig trägt die starke Orientierung der Politik an den Interessen dazu bei, dass die Inszenierung im Mittelpunkt steht und Inhalte weitgehend diesem Motiv untergeordnet werden. Aber welche Ideen haben Parteien angesichts vielfacher Zentrifugalkräfte, um den Zusammenhalt zu stärken und zu fördern? Wie wollen sie dazu beitragen, die Zivilgesellschaft zu stärken und ihren Beitrag für das Gemeinwohl und die demokratische Willensbildung zu nutzen? Wie kann die Politik sich teilweise widersprechende inhaltliche Zielsetzungen in einen Ausgleich bringen, in dem gute Lösungen für möglichst viele Menschen möglich werden? Diesem großen Ziel widerspricht eine Reduktion auf wenige Themen die aktuell zu beobachten ist, die den Aufgabenstellungen der Politik aber in keiner Weise gerecht wird.
Gute Lösungen für möglichst viele Menschen?
Besonders heute, da die Vielfalt in unserer Gesellschaft zunimmt, müssen die vorpolitischen Grundlagen des Staates vielfach neu diskutiert werden und es braucht eine gemeinsame Anstrengung, um sich auf jene Werte und Normen zu verständigen, die ein zukunftsfähiges Zusammenleben tragfähig sichern.
Wir sind als Kirche Teil dieser Gesellschaft.
Als Kirchen sind wir immer gefährdet, auf die Gesellschaft von außen zu schauen und Mängel und Fehlentwicklungen aus der Sicht des Beobachters zu benennen und zu bejammern. Wir sind als Kirche aber Teil dieser Welt und dieser Gesellschaft, wie das Konzil ganz eindeutig festgehalten hat und wie Papst Franziskus unermüdlich einmahnt. Die Frage ist also, welchen Nutzen wir für die Menschen bringen. Gerade Wahlauseinandersetzungen machen deutlich, wie unverzichtbar es ist, klare inhaltliche Positionierungen zu erarbeiten, damit in die Diskussion einzutreten und nach Lösungen und Antworten zu suchen. In dem wir uns dieser Aufgabe in einem hohen Ausmaß verweigern, machen wir uns mitschuldig an der inhaltlichen Ausdünnung der Politik.
Hierfür muss innerkirchlich ein neuer Anlauf genommen werden, wir müssen vor- gegen- und nachdenken, wie die großen Gestaltungsnotwendigkeiten unserer heutigen Welt bewältigt werden können. Dies erfordert aber intellektuellen und materiellen Einsatz und entsprechende Strukturen. Doch erst, wenn kirchliche Verantwortliche Politik als Handlungs- und Gestaltungsfeld auf Basis des Evangeliums wieder neu verstehen, kann das von Lammert zitierte Spannungsfeld wieder fruchtbar werden. Das wäre gut für die Kirchen und notwendig für die Gesellschaft.
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Mag. Herbert Beiglböck, MBA, ist Direktor der Caritas Steiermark.