Die Lebenswirklichkeit heutiger Partnerschaften ist vielfältig. Wie kann Seelsorge im Blick auf diese Situation gestaltet werden? Auch nach den beiden Familiensynoden und Amoris Laetitia bleiben dazu viele Fragen offen. Ute Eberl findet einige Antworten im Buch „Zwischenmenschlich. Beziehungspastoral heute“ der Arbeitsgemeinschaft Praktische Theologie Schweiz.
Zwei päpstliche Umfragen, zwei Familiensynoden und Amoris Laetitia (AL) gibt’s jetzt auch im Berliner Kulturkaufhaus. War‘s das? Oder kommt da noch was. Nicht überall wird täglich ins Postfach geschaut, ob nicht doch noch ein bischöfliches Schreiben à la „Ausführungsbestimmungen zu Amoris Laetitia“ drin liegt. Mancherorts hat die seelsorgliche Praxis schon längst Wege jenseits der „regulär“ und „irregulär“ – Schubladen hin zu den Menschen beschritten. Keineswegs laxistisch, sondern pastoral verantwortlich mit Blick auf die komplexen Situationen heutiger Beziehungsvielfalt. Nur: über die je eigene Praxis auch offen in Pastoralteams sprechen, sich austauschen in Pfarrkonventen, den jeweiligen Bischöfen Auskunft geben – das ist eine andere Sache. „Jeder macht seins und ich mach meins“ ist das Ergebnis des gefühlten theologischen Stillstands der letzten 40 Jahre.
Doing pastoral care
Umso erfreulicher, dass nach den beiden Synoden die AG Praktische Theologie Schweiz schon mal ihren Aufsatzband Zwischenmenschlich. Beziehungspastoral heute vorgelegt hat. Der Band, herausgegeben von Manfred Belok und Franziska Loretan-Saladin, buchstabiert die vielzitierte Lebenswirklichkeit heutiger Partnerschaften durch und gibt Seelsorgern und Seelsorgerinnen, die Paare begleiten, Anregungen und theologische Argumentationshilfen an die Hand. Gut so! Das kann dazu beitragen, dass die vor-Ort-Seelsorge untereinander noch sprachfähiger und kommunikationsfreudiger wird rund um die Freuden, Dramen und Träume (AL 57) in den Wohnzimmern der Menschen. Wäre ich Bischöfin, mit Handkuss würde ich mich bei den praktischen Theologen*innen bedanken. Sie übersetzen die Aufmerksamkeit für die Lebenswirklichkeit von Paaren in ein doing pastoral care.
Wie leben Menschen heute Beziehungen? Was ist ihnen heilig? Was brauchen sie, um sich in einer ‚unterm Strich zähl ich‘- Gesellschaft auf ein ‚wir‘ einzulassen? Um die Balance zwischen Autonomie und Angewiesenheit hinzukriegen? Wie schaffen sie es, füreinander da zu sein, die eigene Entwicklung und die des Partners im Blick zu haben und – wenn Kinder da sind – auch die der Kinder? Was erwarten sie von der Kirche? Was auf keinen Fall?
Das ist die eine Seite. Die andere:
Welchen Perspektivwechsel braucht die Seelsorge, um die Vielfalt der unterschiedlichen Lebensformen überhaupt wahrzunehmen? Welche Kontaktflächen nutzt sie zur Begegnung mit Paaren in Freud und Leid und in welcher Haltung tritt sie auf? Woran merken Paare, dass die Kirche ihre Anwältin ist? Ihre Freude und Hoffnung, ihre Traurigkeiten und Ängste mitgetragen werden? Traut die Kirche ihrem Schatz, den sie nicht selbst herstellt, sondern der auch ihr geschenkt ist?
Die AG Praktische Theologie Schweiz hat Entwürfe zu einer Beziehungspastoral aufgetischt. Amoris laetitia lag den Autoren*innen noch nicht vor. Synoptisch gelesen darf man sie beglückwünschen! Nur einige Antworten aus dem Band sollen hier angedeutet werden.
pastorale Aufmerksamkeit
Wenn Kirche ernst macht mit ihrem Anspruch, Grundsakrament der Liebe Gottes zu sein, steht sie allen Paaren in ihren Hoffnungen und dem, was ihre Hoffnungen bedroht, seelsorglich bei. Deshalb ist die derzeitige Ehe- und Familienpastoral zur Beziehungspastoral zu erweitern. Wie das gehen kann skizziert Manfred Belok: in der Haltung einer pastoralen Aufmerksamkeit, einer attentio, die jeder Versuchung zu pastoralen Attentaten im Sinn einer Bevormundung wiedersteht. Beziehungspastoral begleitet die unterschiedlichen Beziehungsformen, die Menschen heute wählen, wie auch die unterschiedlichen Beziehungsverläufe, sie nimmt die Dynamik des Zwischenmenschlichen wahr und ernst und unterstützt Paare, ihre Hoffnungen zu verwirklichen.
Dass es für diesen nötigen Perspektivwechsel nicht 5 vor 12, sondern bereits 5 nach 12 Uhr ist, erläutert Urs Winter-Pfändler. Kirche wird heute kaum mehr als kompetent in Sachen Beziehungsfragen wahrgenommen. Wie Viele oder besser wie Wenige gegenwärtig Hilfestellung anfragen und auch erhalten, zeigt er mit der Auswertung der empirischen Befragung von Paaren durch das Schweizerische Pastoralsoziologische Institut im Vorfeld der außerordentlichen Bischofssynode 2014 auf. Das darf Kirche nicht kalt lassen!
Gott ist immer schon bei den Menschen.
Gut, wenn es eine Sakramentenpastoral gibt, die Beziehungen stützt. Stephanie Klein und Leo Karrer steigen mit der typischen Pfarrbüro-Situation ein: zwei Menschen lieben sich, wollen heiraten, weil sie es einfach gut finden kirchlich verheiratet zu sein. Der Pfarrer spricht von der Ehe als Zeichen der Liebe Christi zu seiner Kirche. Das Paar guckt verständnislos. Der Pfarrer wird unsicher, ob er dem Paar bei der Trauung assistieren kann. Klein und Karrer geht es nicht um eine neue Pädagogik, weder für das Paar, noch für den Pfarrer. Sie erinnern an eine vergessene Selbstverständlichkeit: als Aggiornamento im Sinne des II. Vaticanums bekräftigen sie ausgehend von Lumen Gentium, dass Kirche die Sakramente nicht als Heilswerkzeuge verwaltet, sondern dass die Kirche, die Gemeinschaft der Gläubigen, jeder Einzelne, jedes Paar, jede Familie als Glieder der Kirche selbst sakramentale Zeichen für die Wirklichkeit Gottes in der Welt sind.
Ein sakramentaler Ansatz in der Beziehungspastoral weiß, dass Gott immer schon bei den Menschen ist. Dass Kirche die Gnade nicht erzeugt, auch nicht durch die Sakramente, denn die stellen Heil nicht her, sondern sie stellen Heil dar, machen es sichtbar. Dass die pastoral Tätigen den Zugang zur Gnade Gottes nicht machen können, sondern dass dieser Zugang selbst noch einmal geschenkte Gnade ist. Dieser Glaube setzt kreatives Potential frei, um die nötige Übersetzungsarbeit in das Leben eines jeden Paares – im Pfarrbüro und weit, weit darüber hinaus – zu leisten.
Partnerschaft als Hochrisiko-Lebensmodell
Das Leitbild heutiger Partnerschaft beschreiben Leo Karrer und Stephanie Klein als ein prozesshaftes „to do“, das nicht mit dem einmaligen „Ja“ im Ritus der Trauung abgegolten ist. „Doing“ Ebenbürtigkeit, Gleichberechtigung, Gegenseitigkeit, Achtung vor der Individualität der Partner und Aushalten von Fremdheit verwirklichen sich nicht abstrakt, sondern erfordern stets neu, ganz konkret miteinander in Beziehung zu treten.
Dass ein solches „Hochrisiko-Lebensmodell“ heute häufiger misslingen kann als in früheren eher geschlossenen Gesellschaften, ist nicht verwunderlich. Deshalb wird eine Beziehungspastoral auch im Scheitern – den mittlerweile geläufigen Begriff „Scheitern“ hinterfragt Manfred Belok zu recht – die Gegenwart Gottes nicht verneinen, sondern Trauer, Ohnmachtserfahrungen, aber auch die Erfahrung von Befreiung mittragen und zu einem Neuanfang ermutigen.
Welche Wege in der seelsorglichen Begleitung an dieser Stelle in den französischsprachigen Diözesen der Schweiz schon beschritten werden zeigt François-Xavier Amherdt: geistliche Bewegungen, das Engagement selbst Betroffener (!), die anderen zum Seelsorger, zur Seelsorgerin werden und offene Türen für geschieden Wiederverheiratete in Klöstern sind nur einige Beispiele. Deutlich geht er der Frage nach, ob es für zivil wiederverheiratete Paare eine Möglichkeit gibt, an den Sakramenten teilzunehmen. Ritualformen als pastoraldiakonischer Dienst, die schon lange in den deutschsprachigen Ländern praktiziert werden, referiert und kommentiert nochmals Manfred Belok.
Was trägt im Alter?
Franziska Loretan-Saladin gibt im letzten Text des Bandes den Blick über die Schulter eines Praktikers frei. Im Interview mit Alois Reinhard, der lange Jahre als Betagtenheimseelsorger in Luzern tätig war, wird intensiv lebendig, wie alt gewordene Paare – darunter auch ein homosexuelles Paar – eine Vertrautheit miteinander gefunden haben, die auch dann noch trägt, wenn eine oder einer der beiden zunehmend dement wird. Ein erfrischend weiter Blick auf das System, in dem betagte Paare leben – die erwachsenen Kinder, das Pflegepersonal –, lässt die Haltung des Seelsorgers spürbar werden. Die Beziehungen, die er beschreibt, haben Macken und Kanten. Sie entsprechen in keiner Weise einer durchgestylten Beziehungshygiene. Und aus jeder Zeile ist der Respekt des Seelsorgers vor der Würde und dem Eigensinn dieser Lebensgemeinschaften zu lesen.
Der nächste Band bitte!
Dass ein Perspektivwechsel Richtung Beziehungspastoral Not tut und wie der gehen kann, zeigen alle Autoren*innen, auch die nicht erwähnten, erfrischend auf. Seelsorge im Kontext Beziehung ist anspruchsvoll. Aber was auch klar ist: die Welt, auch die Welt der Beziehungen, auf Gott hin transzendent zu machen, kann nicht nur für eine Schublade gelten. Und darüber muss geredet werden, vor Ort und in den Ordinariaten. Papst Franziskus hätte seine Freude daran: frei und offen sprechen!
Wünschen darf man sich alles: der nächste Band bitte – initiiert von der Pastoraltheologie – und dann gerne interdisziplinär.
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Dipl.theol. Ute Eberl ist Abteilungsleiterin Erwachsenenpastoral im Seelsorgeamt des Erzbischöflichen Ordinariats Berlin, Referentin für Ehe und Familie; 2014 hat Papst Franziskus sie als Gasthörerin zur Außerordentlichen Bischofssynode in Rom eingeladen.
Das Buch:
Manfred Belok/Franziska Loretan-Saladin, Zwischenmenschlich. Beziehungspastoral heute. Hrsg. im Auftrag der Arbeitsgemeinschaft Praktische Theologie Schweiz, Zürich (NZN bei TVZ) 2016, 228 Seiten